Mai 2023
Die Kirche in unserer Gesellschaft, ja fast in ganz Europa, steckt in einer Situation tiefgreifender Umbrüche, die sich seit vielen Jahrzehnten angebahnt, deren Tragweite wir aber oft noch nicht richtig erkannt haben. Religionssoziologen sprechen von einem „Ende der Volkskirche“, ja sogar von einem „Ende der konstantinischen Zeit“, also einer Entwicklung von 1700 Jahren, in denen Europa zunächst christianisiert wurde, dann +-1000 Jahre „selbstverständlich“ christlich war, eine Zeit, die nun zu Ende geht. Die Gesellschaft hat sich radikal verändert. Deshalb können wir auf die Fragen von heute und morgen nicht die Antworten von vorgestern geben, sondern müssen neue Denkansätze suchen, wie wir Menschen, die nicht mehr in das Christentum „hineinwachsen“, trotzdem etwas von unserer Faszination für den Glauben mitteilen, ja überhaupt erst einmal in Kontakt zu ihnen kommen können.
Gleichzeitig müssen wir mit deutlich weniger Personal, Finanzen und Gebäuden auskommen. Das ist gewiss nicht einfach. „Plötzlich“ ist diese Situation aber nicht eingetreten. Wir haben sie nur lange verdrängt. Je mehr man in Bistümern oder Gemein- den diese Entwicklungen ignoriert hat, desto schneller und drastischer müssen jetzt die Veränderungen und Anpassungen der Strukturen ausfallen. Die Entwicklung von Entkirchlichung und Glaubensverlust zeigt ein Blick auf die Entwicklung katholischer Gottesdienstbesucher in der BR Deutschland deutlich:
1960 11,9 Millionen
1980 7,8 Mio
2000 4,4 Mio
2010 3,1 Mio
2019 2,1 Mio
2021 0,9 Mio
(Quelle: Statistika, Deutsche Bischofskonferenz)
Die letzte Zahl von 2019 zu 2021 zeigt einen „Corona-Knick“ und tatsächlich ist das kirchliche Leben während der Corona-Jahre in quasi allen Gemeinden um mehr als die Hälfte eingebrochen. Leider hat auch Corona die Gesellschaft dramatisch verändert.
Was bedeutet die Übertragung dieser Zahlen auf die Gießener Situation?: Als St. Albertus und St. Thomas Morus gebaut wurden, nahmen im Bundesdurchschnitt mehr als zehnmal so viele Menschen am Gottesdienst teil wie heute. Deshalb wurden damals zusätzliche Kirchen in Gießen gebaut und Gemeinden gegründet.
Die Kurve des kirchlichen Lebens zeigte sich damals in Gießen und Umgebung insofern etwas anders, da die oberhessischen Gemeinden in den Nachkriegsjahrzehnten oft überhaupt erst im Entstehen und einer Phase des Aufbaus waren, da durch die Heimatvertriebenen etc. erstmals größere Zahlen von Katholiken nach Oberhessen kamen. Doch inzwischen hat die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die sich sehr ähnlich auch in der evangelischen Kirche zeigt, längst alle Gemeinden erreicht.
Diese Zusammenhänge sind so wichtig, damit man den „Pastoralen Weg“ nicht völlig falsch einordnet. Er ist nicht das „Problem“, das sich Bischof, Pfarrer, PGR oder sonstwer „ausgedacht“ hätten, sondern ein konstruktiver Ansatz, diese Realitäten und die sich daraus ergebenden Probleme endlich ehrlich und aktiv anzugehen, das heißt: Maßnahmen einzuleiten, um mit den knapper wer- denden Mitteln auszukommen. Viel wichtiger aber ist der pastorale Aspekt: Nach Neuansätzen zu suchen, wie wir den Menschen von HEUTE die Wahrheit, Schönheit und Faszination des Evangeliums nahebringen können und mit ihnen zu erleben, dass es unserem Dasein auch und gerade heute Sinn und Tiefgang gibt, der Güte Gottes in unserem Leben nachzuspüren und als Christen zu leben.
Pfarrer Erik Wehner,
Leiter d. Pastoralraums Gießen-Stadt