Die Freude an Gottes Wort – oder
eine neue Thora für die Jüdische Gemeinde Gießen
Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
am 12. Oktober 2025 wurde in einer eindrucksvollen und lebens- frohen Feier eine neue Thora-Rolle für die Jüdische Gemeinde Gießen eingeweiht. Es ist die erste „eigene“ Thorarolle seit der Neugründung der Gemeinde im Jahr 1978 und seit der Zerstö- rung der beiden Gießener Synagogen durch die Nazis am 9. No- vember 1938. Die Liberale Synagoge in der Südanlage und die Orthodoxe Synagoge in der Steinstraße wurden an diesem Tag mitsamt ihrem religiösen Inventar in Brand gesteckt und zer- stört. Schon allein aus dieser historischen Verantwortung ist die neue Thorarolle ein wichtiges Anliegen für die ganze Stadt- Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist heutiger Antisemitis- mus besonders unerträglich, etwa wenn er Juden in Deutschland auf unterkomplexe Weise für die Politik der Netanjahu-Regierung in Israel verantwortlich machen will.
Seit ihrer Neugründung 1978 und dem Aufbau einer Synagoge durch die Translozierung der historischen Synagoge der kleinen Landgemeinde Lohra nach Gießen im Jahr 1995 verfügte die Jüdische Gemeinde zunächst über eine Thorarolle als Leihgabe. Die neue Thorarolle erforderte nun Gesamtinvestitionen von ca. 75.000 Euro, denn eine solche Thorarolle wird nach strengen religiösen Regeln in Handarbeit angefertigt. Selbst Pergament und Tinte müssen ausgesuchten Kriterien entsprechen. Der „Sofer“, der Schreiber darf keinen einzigen Fehler machen, sonst müsste er ganz von vorne beginnen, so hoch ist die Ehrfurcht und Treue zum Wort Gottes. Das Schreiben der Thora selbst ist schon ein religiöser Akt, zu dem der Sofer jedes Mal zu Gott be- tet und ihn dafür um seinen Segen bittet. Die Thora umfasst die fünf Bücher Mose, die auch die ersten Kapitel unserer Bibel dar- stellen, und ist das Herz und die Seele jeder jüdischen Gemeinde. Zugleich ist sie das wichtigste Heiligtum in einer Synagoge, das „Allerheiligste“. So findet sich der Schrein mit den Thorarollen im Scheitelpunkt der Synagoge, wo sich in ka- tholischen Kirchen oft der Tabernakel mit dem Leib Christi befindet. Und die Prozession mit der neuen Thorarolle vom Netanya- Saal im Alten Schloss zur Synagoge hatte aus katholischer Perspektive deutliche Parallelen zu einer Fronleichnams-Prozession. Auch über der Thorarolle wurde ein „Tallit“, der jüdi- sche Gebets-Umhang, wie eine Art „Himmel“ getra- gen. Wir spüren hier deut- lich die Verwandtschaft christlicher Liturgie mit ihren oft jüdischen Wurzeln.
„Thora“ bedeutet „Lehre“ oder „Gesetz“. Vielleicht klingt das für unserer Oh- ren zunächst etwas streng. Aber hier können wir eini- ges von der jüdischen Sichtweise lernen, denn sie versteht das „Gesetz“ als
„Weisung“, als Gottes Ge- schenk und Wegweiser zu einem gelingenden Leben, als Quelle der Glaubens- und Lebensfreude. Das war bei der Feier am 12. Okto- ber deutlich zu spüren.
Vielleicht lesen bzw. beten Sie mal den Psalm 119. Dieser längste aller Psalmen ist ein einziger Lobgesang auf das Wort Gottes, das Gesetz, und quillt über von Vertrauen und Freude über Gottes Wort und sein segensreiches Wirken unter den Menschen. Hier spüren wir unsere enge Ver- wandtschaft mit dem Judentum. Schließlich sind die Psalmen das Gebetbuch Israels ebenso wie das wichtigste Gebetbuch der Chris- ten. Uns begegnen sie liturgisch z.B. bei der Feier der Vesper oder im „Antwortpsalm“ der Eucharistiefeier.
In der Synagoge ist die Thora-Rolle für die Jüdische Gemeinde das stärkste Symbol für die Gegenwart Gottes, eine ganz starke Verbindung zu Gott. Auch im christlichen Gottesdienst nimmt das Wort Gottes eine zentrale Bedeutung ein. So freuen wir uns mit der Jüdi- schen Gemeinde Gießen über ihre neue Thorarolle als Zeichen der Gegenwart Gottes in ihrer Mitte.
Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, und uns allen wünsche ich die Erfahrung, Gottes Wort immer wieder als Quelle der Weisheit, des Trostes, der Hoffnung und der Freude zu erfahren!
Ihr Pfarrer Erik Wehner
Leiter des Pastoralraums Gießen-Stadt
(s. MITEINANDER, November 2025)
