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Eule-Orgel, St. Bonifatius-Kirche

„Orgelspielen“, sagte mir Widor einmal auf der Orgelbank zu Notre-Dame, als die Strahlen der untergehenden Sonne in verklärter Ruhe das dämmrige Kirchenschiff durchzogen, „heißt einen mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen offenbaren“. (Albert Schweitzer, 1875-1965)

 Liebe Leserinnen und Leser!

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Dies ist eines der bekanntesten Zitate zum Thema Orgelmusik, überliefert vom großen Humanisten, „Urwald-Arzt“ und Theolo- gen Albert Schweitzer, der auch ein in seiner Zeit recht bedeu- tender Organist und Bach-Forscher war.

Er zitiert dabei den Organisten und Komponisten Charles-Marie Widor. Schweitzer reiste aus dem Elsaß nach Paris, um Orgelun- terricht beim berühmten Charles-Marie Widor zu nehmen, der 64 Jahre lang Titularorganist an der großen Cavaillé-Coll-Orgel von St. Sulpice war.

Daraus wurde eine fruchtbare Zusammenarbeit. Widor verhalf auch den Orgelwerken Johann Sebastian Bachs zu neuer Be- kanntheit, doch der Sinn der „choralgebundenen“ Werke war ihm zunächst teilweise verborgen. Der evangelische Theologe Albert Schweitzer konnte Widor erschließen, wie diesen Werken ein

„Choral“, also hier ein lutherisches Kirchenlied mit deutschem Text zugrunde lag, das Bach jeweils in theologisch-musikalischer Deutung aufgegriffen hatte. Das ermöglichte Widor eine neue Zugangsebene zu diesem Teil der Bach‘schen Orgelwerke.

Beide,  Schweitzer  und  Widor,  waren  gewissermaßen „Missionare“ der Orgelmusik, denen es ein Anliegen war, die Orgelwerke Bachs bekannt, zugänglich und verständlich zu machen als Klang gewordene Theologie. So wollen Orgel- und Kirchenmusik überhaupt Glaubensinhalte vermitteln, aber vielleicht mehr noch eine Ahnung vom Geheimnis Gottes erfahrbar machen, einen Raum der Spiritualität, der Glaubens- und Gotteserfahrung eröffnen, der mit Worten und Riten allein nicht zu finden ist.

Schweitzer gab seinem auf Französisch veröffentlichten Buch über Bach den Titel „J.S. Bach, le musicien-poète“ – der „Musiker-Poet“. Schließlich wird Bach auch der „fünfte Evangelist“ genannt, was uns zu einem weiteren Zitat aus dem Munde Widors bringt: „Für mich ist Bach der größte Prediger. Seine Kantaten und Passio- nen wirken eine Ergriffenheit der Seele, in welcher der Mensch für alles Wahre und Einende empfänglich und über das Kleine und Trennende erhoben wird…“ Vielleicht wirkt die Sprache für uns heute etwas pathetisch, aber zugleich geben die Zitate Widors eine Ahnung von diesem „Mehr als“, das uns die Künste und gerade die Musik vermitteln können.

Widor hatte die Orgelmusik zu einer neuen Blüte geführt, z.B. im spielttechnischen Niveau, der Virtuosität. Aber er wehrte sich dage- gen „Virtuose“ genannt zu werden. Er sei ein „anständiger Orga- nist“ betonte er, der im Dienst eines Auftrags und einer Botschaft steht.

Widor schuf die Gattung der „Orgelsymphonie“ und damit auch das vielleicht „zweitbekannteste Orgelstück“ überhaupt, die Toccata F- Dur als Finalsatz seiner 5. Orgelsymphonie. Vielleicht „versteht“ man die Toccata neu oder in tieferer Weise, wenn man sie in die- sem Zusammenhang hört.

Dazu haben wir Gelegenheit beim 100. Mittwochskonzert zum 10- jährigen Jubiläum der „Eule-Orgel“ in St. Bonifatius.

Thomas Ospital, Weltklasse-Organist der jungen Generation, aus der Kirche St. Euchstache in Paris, wird dabei unter anderem näm- lich die komplette 5. Orgelsymphonie von Charles-Marie Widor spielen, zusammen mit wichtigen Wegmarken der großen französi- schen Orgeltradition. Besonders gespannt dürfen wir auf seine Im- provisation sein.

Sehr herzlich laden wir Sie zu diesem Konzert ein, ebenso wie zu den weiteren Veranstaltungen der Festwoche, zur Konzertnacht mit zwei Orgeln und vier Chören und zum Festgottesdienst. Regionalkantor Michael Gilles und der Freundeskreis haben ein tolles Jubi- läumsprogramm vorbereitet, das Ihnen hoffentlich viel Freude machen wird.

Für uns im Pastoralraum Gießen-Stadt ist das Jubiläum ein Anlass zu großer Dankbarkeit, dass uns mit der Eule-Orgel ein so hervorra- gendes „Medium“ zum Musizieren im Sinne Widors zur Verfügung steht, um uns ein Fenster zum Himmel zu öffnen, eine besondere Chance, unserer Sehnsucht nach dem Geheimnis Gottes nachzu- spüren und ihr intensiven Ausdruck zu verleihen.

Dabei bietet die Eule-Orgel nicht nur eine immense Fülle musikalischer Ausdrucksformen, sondern ebenso die Voraussetzung einer großen Bandbreite metaphysisch-theologisch-pastoraler Chancen zur Verkündigung des Evangeliums von „niedrigschwelligen“, anfangshaften Zugängen zur christlichen Musiktradidion bis zur intensivsten musikalischen Konzentration spiritueller Inhalte und ei- ner vertieften Gestaltung der Liturgie.

So freue ich mich mit Ihnen auf ein Fest der Klänge, das in diesem Sinne auch ein schönes Fest des Glaubens sein und uns motivieren kann, in das Lob Gottes einzustimmen oder uns ihm hörender Wei- se anzuschließen und daran zu erfreuen.

Ihr Pfarrer Erik Wehner

Leiter des Pastoralraums Gießen-Stadt

(Quelle: MITEINANDER - Mitteilungsblatt für den katholischen Pastoralraum Gießen-Stadt, Nr.9/25)