Eine alte, vergilbte Ansichtskarte, mit dem Poststempel Mainz -11.04.1914 – versehen, zeigt die Abbildung eines Messgewandes, das mit einer eindrucksvollen Kreuzigungsgruppe bestickt ist. Die Kartenrückseite informiert: „Mainz – St. Stephanskirche: Spätgotisches Meßgewand mit Hochreliefstickerei aus dem Fünfzehnten Jahrhundert“. In Kleindruck ist noch angegeben: A. H. Berthes, Küster, St. Stephan Mainz, Nachdr. verb. No.1723.
Das auf der Karte abgebildete Messgewand gehört zu einem spätgotischen Ornat, bestehend aus Kasel (Messgewand) und zwei Dalmatiken (für Diakon u. Subdiakon), die mit Reliefstickerei verziert sind (Reliefstickerei: mit Hilfe von Sticktechniken aus einer Fläche erhaben herausgearbeitetes Bild). In seiner Veröffentlichung von 1913 „Aus dem Kirchenschatz von Sankt Stephan zu Mainz“ bezeichnet F. Th. Klingelschmitt den Ornat als „des Kirchenschatzes von St. Stephan herrlichsten Besitz“. Prof. Dr. Fritz Arens schrieb 1938 in einem Beitrag zur „Festschrift zum sechshundertjährigen Bestehen der (heutigen gotischen) St. Stephanskirche zu Mainz“ über den Kirchenschatz zu St. Stephan
„Besonders wertvoll sind die spätgotischen Kaselstäbe (senkrecht angeordnete Stickereien aus Bändern oder Stoffstreifen), ein vollständiger Meßornat, dessen Stickereien in der Barockzeit auf neuen Stoff in neumodischer Schnittart übertragen wurden. Die Reliefstickereien sind von erstklassiger Qualität. Allein schon die Technik fordert unsere Bewunderung, es sind kleine Mengen Watte unterlegt, um das verhältnismäßig hohe Relief herzustellen. Durch bunte Fäden werden Grund und Figuren farbig übersponnen. Diese im Anfang des 16. Jh. entstandenen Kaselstäbe sind entschieden im Bezug auf künstlerische Qualität nicht nur das Glanzstück des Stephansschatzes, sondern auch Deutschlands im Rahmen verwandter Reliefstickerei. Wenn man sich in die Farbgebung oder Modellierung der Figuren, in ihren Ausdruck und ihre Haltung vertieft, wird man sich leicht davon überzeugen, daß hier ganz erstklassige Kräfte am Werk waren.“
Die Darstellungen auf den Gewändern sind wie folgt: Auf der Kaselrückseite die Kreuzigungsgruppe, Vorderseite: die beiden Kirchenpatrone Stephanus und Maria Magdalena. Die Dalmatiken haben auf Rückseite- und Vorderseite je zwei „Kaselstäbe“, die jeweils drei Heiligenfiguren übereinander zeigen.
In ihrem Beitrag zur Festschrift – 1000 Jahre St. Stephan, Mainz – „Die spätgotischen Reliefstickereien auf einem Ornat aus St. Stephan“, führt Eva Zimmermann Folgendes aus:
„Die kunsthistorische Textilforschung hat von ihnen kaum Notiz genommen. Dabei gehören sie nach künstlerischer Qualität, nach Kostbarkeit wie handwerklich virtuoser Ausführung zu den besten Zeugnissen ihrer Kunstgattung….Die reiche Wirkung dieser Nadelarbeiten, von deren ursprünglichem Glanz und lebhafter Farbigkeit wir heute nur noch eine schwache Vorstellung bekommen, beruht auf dem Einsatz sowohl plastischer Mittel wie malerischer Mittel…. Dazu kommt eine juwelenhafte Ausstattung mit Perlen sowie mit Edelmetall – in Form von Gold- und Silberfäden, Pailletten, Kantille (gedrehter, vergoldeter od. versilberter Draht für Tressen und Borten). – Die Gewänder selbst, die aus unifarbenem Samt bestehen, sind nicht mehr die ursprünglichen. Auch die auf diesen späteren Grundstoff übertragenen Stickereien haben Veränderungen erfahren. Erhabene Stickereien sowie Perlenbesatz sind beim Gebrauch viel stärker dem Verschleiß ausgesetzt als flache Stickereien. Das macht Reparaturen notwendig.“ – Wer die kostbaren Stickereien einstmals fertigte, lässt sich nicht genau feststellen. F. Th. Klingelschmitt hält die Gewänder für die Arbeit Mainzer Seidensticker. Wo sich die Werkstatt des Künstlers wirklich befand, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Der Ornat aus St. Stephan befindet sich heute im Mainzer Dommuseum.
„Die gleiche Stickerei befindet sich auf dem 59 cm langen Schild, das von einer etwa 7 cm langen Fransenborte eingefasst wird. 3,6 cm lange Fransen schließen den Gewandsaum ab." Bischof Colmar schenkte das zu einem Chormantel umgearbeitete Kleid der Kaiserin der St. Stephanskirche. Dass die Schenkung nicht an den Mainzer Dom erfolgte, erklärt sich aus dem damaligen ungewissen Schicksal des Domes und seiner anstehenden Restaurierung. „Die Schenkung des Bischofs fällt vermutlich in die Amtszeit von Pfarrer Anton Pauli, der von 1784 - 1812 Pfarrer von St. Stephan war. Unter ihm und seinen Nachfolgern wurde der Chormantel des Bischofs in hohen Ehren gehalten. Pfarrer Josef Theodor Körner (1874 - 1906) mache es sich zur Aufgabe, diesen kostbaren Teil des Kirchenschatzes von St. Stephan zu bewahren, er verwehrte aber auch niemand die Besichtigung des Gewandes. Nach dem Tod des Pfarrers im Jahre 1906 muss der Chormantel einige Zeit verschollen gewesen sein. Um 1908 wurde er in St. Stephan wiederentdeckt, als Pfarrer Kaspar Schäfer sich über den Bestand des Inventars von St. Stephan informierte. Zu dieser Zeit muss der Chormantel schon sehr schadhaft gewesen sein. Seidenstoffe sind sehr empfindliche Gewebe, deren Fäden leicht brechen und so das Gewebe zerfällt. Einzig die Empirestickerei in Gold war noch gut erhalten. Die Stickerei wurde in mühevoller Arbeit auf neuen Seidenstoff übertragen. Schließlich wurde ein neuer Chormantel angefertigt, der mit der Goldstickerei verziert wurde. Als festliches Gewand wurde der Chormantel vermutlich 1911 wieder in Gebrauch genommen. Der Chormantel des Bischofs Colmar, wie er heute im Mainzer Dommuseum gezeigt wird, ist ein Werk des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die noch erhaltene Empirestickerei gibt uns einen geringen Eindruck davon, wie prächtig einst das Gewand der Kaiserin Josephine gearbeitet war, ebenso der erste, daraus gearbeitete Chormantel." (Mechthild Reinelt; 1000 Jahre St. Stephan)
Außer dem Grabdenkmal erinnert an Bischof Colmar im Dom noch heute seine Kniebank vor dem „Bischofssitz“ im Chorgestühl, der wieder eingeführte Choralgesang im Stiftsamt und die Mainzer Domschweizer. Auch das Domgeläute erinnert an ihn. Mit großer Beharrlichkeit und allen Widerständen zum Trotz, gelang es Bischof Colmar, vier neue Glocken für seine Bischofskirche zu beschaffen. Die zu ihrem Guss verwendete Bronze entstammte drei erbeuteten preußischen Kanonen, die Napoleon ihm überließ. Von Bischof Colmar am 24.09.1809 feierlich St. Martin - Maria- Joseph – St. Bonifatius geweiht, erhoben die vier neuen Domglocken am Vorabend des Allerheiligenfestes 1809 zum ersten Mal ihre Stimmen und sind seither nicht mehr verstummt. Tag für Tag und Stunde für Stunde begleiten sie die Bewohner unserer Stadt. Bischof Colmars Glocken läuteten 1945 die erste Nachkriegsweihnacht ein. Hoch über den Trümmern von Mainz erklang ihre Botschaft vom Frieden auf Erden.
Gisela Fleckner