Velumsäulen in St. Stephan

Wer nach den blau strahlenden Chagall-Fenstern im Ostchor den Altarraum in den Blick nimmt, stutzt. Denn da stehen vier gold leuchtende Messing-Säulen an den Seiten, von beachtlicher Höhe - 3,70 m - , schlank, am Sockel und oberen Ende reich verziert, aber frei von jeglichem praktischen Nutzen.

Die vier über 500 Jahre alten Kunst- und Sakralgegenstände sind künstlerisch hochwertig und von "hervorragender technischer Ausführung" schreibt Joachim Glatz *,

Sie ähneln riesigen Kerzenhaltern, würden aber mit angemessen großen Kerzen den Küster zwingen, zum Anzünden eine Leiter zu benützen. Ihr fachlich korrekter Name "Velumsäule" oder "Velumträger" erklärt ihren Zweck: sie trugen Stangen, an denen ein "Velum", ein Vorhang hing.

Obwohl Velumsäulen im Mittelalter verbreitet waren, gibt es sie heute nur noch in wenigen Kirchen.
Zu ihrem Verständnis ist es nötig, sich die mittelalterliche Vorstellung von der Hl. Messe zu vergegenwärtigen. Die Verwandlung (volkstümlich die "Wandlung") von Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn, die "Transsubstantiation", war der heiligste Augenblick der Messe, wie der Ausdruck "das Allerheiligste" noch sagt. Der Priester durfte bei diesem Höhepunkt nicht abgelenkt werden Zu beiden Seiten des Altars standen deshalb die Säulen und verhinderten mit ihren zugezogenen Vorhängen, dass er seine Blicke schweifen lassen konnte. 

Wenn wie in St. Stephan dann auch noch der Vorhang zum "Volk" hin den Blick versperrte, so sollten die Gläubigen, weil unwürdig, wie vermutet werden muss, den Vollzug der Wandlung nicht mit ihren Blicken beschmutzen. Diese Sicht erscheint heute als lächerliche Geheimnistuerei und eine auf die Spitze getriebene Separierung des zaubermächtigen Priesters als Wundertäter.

Das alles schmälert aber nicht die künstlerische Sonderstellung der Säulen, die ursprünglich, zu ihrer Entstehungszeit im Jahr 1509, auf steinernen Sockeln standen, auf "Postamenten", die heute noch im Kapitelsaal des Kreuzganges zu besichtigen sind. Sie wurden dort separat aufgestellt, weil der Abschluss der Säulen sonst in die Fenster hineingeragt hätten. 
Im Sockel der vorderen Säulen ist eine Inschrift zu erkennen, deren Zeilen sich kurioserweise über beide Sockel erstreckt. In antiken Lettern nennt sie den ideellen Zweck auf Lateinisch: "Dir Gott, dem Besten und Größten, dem Vater des Lichts, und euch, dem heiligen Protomartyrer Stephan und der heiligen Maria Magdalena, den Patronen dieser Kirche, setzten diese Säulen die Stiftsherrn im Jahre des Herrn 1509." Und die beiden Heiligen blicken noch heute von den Tabernakelseiten auf die ihnen gewidmeten Kunstwerke mit Wohlgefallen.

Der Kopf auf dem Schaft, das Kapitell, erinnert mit seinem Blattschmuck an die Kapitelle der Steinsäulen im Schiff
Der Kopf auf dem Schaft, das Kapitell, erinnert mit seinem Blattschmuck an die Kapitelle der Steinsäulen im Schiff