Was ist das erste Bild, das Ihnen in den Sinn kommt, wenn Sie an das Gleichnis vom verlorenen Sohn
(Lk 15,11-32) denken? Vor meinem inneren Auge sehe ich sofort die innige Umarmung von Vater und Sohn, als sich beide zum ersten Mal wiedersehen.
Aber das ist nicht das einzige Bild, welches uns der Evangelist Lukas in diesem Gleichnis so lebhaft schildert. Die ganze Erzählung besteht eigentlich aus einer Serie von Bildern, bei denen meist zwei Personen zu sehen sind und die nacheinander eingespielt werden.
Betrachten wir uns diese Bilder, weil sie uns von den entscheidenden Momenten dieses Gleichnisses berichten!
1. Der jüngere Sohn nimmt Reißaus (Vv. 11-13a, alle Übersetzungen nach EÜ siehe rechts, Smartphone unten)
Bei diesem Bild sehe ich, wie ein aufmüpfiger Sohn von seinem Vater Geld für seine Reisekasse verlangt. Die Forderung „Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht!“ ist schroff und muss von dem Vater als Anklage gewertet werden. Natürlich ist der Sohn im Recht, aber er ist so auf sich selbst fixiert, dass er für alles andere blind wird: für die (vielleicht glückliche) Vergangenheit im Vaterhaus und für die Zukunft, die noch im Familienverband hätte entstehen können. Denn eines ist klar, dieser Abschied soll ein Abschied für lange Zeit oder sogar für immer sein. Was der Sohn sicher auch nicht wahrnimmt, ist die Reaktion seines Vaters. Der Filius fühlt nicht den stummen Kummer des Alten und ist taub gegenüber jedwedem Wort aus seinem Mund. Für ihn zählt allein, dass der Vater gehorcht und er am Ende seinen Erbteil in der Tasche hat. Wenige Tage später ist er dann auch schon weg.
Das Ziel der Reise ist egal, es geht eigentlich nur darum, dass er maximale Distanz zu seinem früheren Leben schaffen will („fernes Land“). Dieser Abstand drückt sich auch in seinem Lebenswandel aus. Fernab der väterlichen Fürsorge lässt er so lange die Sau raus, bis er eben genau bei diesen angekommen ist.
Wir lernen den jüngeren Sohn als jemanden kennen, der seinen Willen bisher immer durchgesetzt bekommen hat. Vom Vater erhält er das Geld und vom fremden Bürger in der Krise immerhin eine Anstellung als Schweinehirte. Angekommen an der Endstation Schweinetrog, müssen wir uns als Lesende eigentlich fragen, ob es das alles wert war. Was bringt es, wenn man immer im Recht ist oder es versteht, seine Egoismen immer unbedingt erfüllt zu bekommen? Bedenken Sie, dass Jesus hier zu Pharisäern und Schriftgelehrten spricht! Bei den unreinen Schweinen zu landen, ist so ziemlich die tiefste Gosse, die man sich in diesem Kontext vorstellen kann.
Noch eine weitere Beobachtung ist beachtlich. Der Sohn stößt zum ersten Mal an eine Grenze, welche er durch seinen Willen nicht überwinden kann. Es ist die Unbarmherzigkeit des Schweinehüters. Diesen interessiert der Hunger seines Tagelöhners überhaupt nicht. Warum auch? Die Schweine sind sein Kapital. Weshalb sollte er ihnen das Futter wegnehmen und an diesen Knaben verschwenden?
Im Schweinzüchter sieht sich der jüngere Sohn wie in einem Spiegelbild. Dieser Mensch ist genauso hartherzig und blind, wie er es ist. Außerdem ist er das Gegenbild zum barmherzigen Vater, der es seinen Angestellten zumindest nicht am Essen mangeln lässt. So kommt dem um Lösungen nicht verlegenen Sohn die Idee der Rückkehr zum Vater und die Einsicht, einen Fehler gemacht zu haben. Weil er weiß, dass die ersten Worte bei seiner Ankunft zu Hause wohl gewählt sein müssen, formuliert er schon einmal eine kleine Rede. So sehe ich ihn in diesem Bild. Flüsternd und um die richtigen Worte ringend, mal den Kopf schüttelnd und mal aufspringend, als er für sich seine Sätze gefunden hat.
Immerhin hat er sich sogar ganze drei Sätze vorgenommen. Vergleichen Sie einmal seine vorformulierten Worte an dieser Stelle mit seiner Rede vom Anfang. Jetzt sprudelt es ja förmlich aus ihm heraus. Außerdem achtet er nun sein Gegenüber, indem er sich zunächst erklärt und danach erst seine Forderung nennt.
Dann naht der Moment der Wahrheit. Mit bangen Schritten kehrt der Junge zurück, ungewiss, wie der Vater auf sein Anliegen reagieren wird. Während er vielleicht bei sich noch leise seine Sätze murmelt, stürmt der Vater schon auf ihn los. Der Alte hat nämlich nach seinem Sohn Ausschau gehalten, so als habe er jeden Tag gehofft, dass er zu ihm zurückkehre. Für mich ist das eines der wunderbarsten Bilder der Heiligen Schrift. Wenn uns Jesus durch dieses Gleichnis eine Facette an Gott vorstellt, was könnte es Schöneres geben als die Vorstellung, dass unser Gott uns schon entgegenrennt, sobald wir uns nur auf dem Weg zu ihm machen?
Mit solch einer Begrüßung hat der Sohn offensichtlich nicht gerechnet. Brav sagt er zu Beginn noch seine ersten beiden Sätze auf, aber den letzten („…mach mich zu einem deiner Tagelöhner!“) den vergisst er glatt. Bestimmt auch, weil das Verhalten des Vaters zeigt, dass ihm nichts ferner liegt, als diese Bitte zu erfüllen. Im Handumdrehen gibt er ihm die äußerlichen Zeichen seiner Sohnschaft zurück. Damit ist nicht gemeint, dass einfach alles vergessen oder die Vergangenheit egal wäre, zumindest der finanzielle Schaden bleibt sicher bestehen. Der Vater signalisiert damit, dass, trotz allem, der Filius nie aufgehört hat sein Sohn zu sein. Man kann nur hoffen, dass der Sohn die Liebe des Vaters ebenfalls mit Zuneigung und nicht wieder mit Ablehnung beantwortet.
Übrigens, die Hauptperson auf Abwegen hat noch einen älteren Bruder. Das war uns zwar direkt am Anfang gesagt worden („Ein Mann hatte zwei Söhne“), aber eigentlich hat das bisher keine Rolle gespielt. Die Dummheit des Jüngeren ist das handlungsauslösende Element, ohne seinen Weggang gäbe es nichts zu berichten.
Man kann sich denken, dass dieser Heißsporn generell im Fokus der Familie steht und dann für den vernünftigen und beflissenen anderen Bruder wenig Aufmerksamkeit übrig bleibt. Gut möglich, dass während der Abwesenheit des einen, der andere endlich aus seinem Schatten treten kann. Und nun ist der Nichtsnutz wieder da. Da fällt es mir nicht schwer mir den älteren Bruder vorzustellen, wie er stocksauer mit seinem Vater spricht. Dabei ist auch ihm der Vater entgegen gekommen, als er gehört hat, dass sein Großer nicht an der Feier teilnehmen möchte. Aber die gute Haltung des Vaters kann den Sohn nicht überzeugen und in seiner Wut nimmt er jene egoistischen Wesenszüge an, welche er ja so an seinem Bruder verdammt. Zum einen muss er blind für die Trauer des Vaters gewesen sein, der sich so nach seinem Sohn gesehnt hat. Allgemein bildet er sich vieles auf seinen „Gehorsam“ ein, dem aber wohl vor allem die Liebe zum Vater fehlt. Dieser Sohn scheint innerlich auch auf Reisen gegangen zu sein. Körperlich ist er zwar beim Vater geblieben und hat sich doch schon lange von ihm entfernt.
Zum anderen ist er völlig unempfindlich für die Tragweite des Augenblicks. Natürlich ist er grundsätzlich im Recht. Wenn man alles miteinander nüchtern aufrechnet, dann hat der Jüngere diese Feier nicht verdient. Aber für den Vater ist die Rückkehr seines Sohnes wie eine Auferstehung von den Toten. Er bekommt seinen Sohn, der unwiederbringlich verloren schien, lebendig zurück. Das ist ein einmaliger Festgrund. Der ältere Sohn hingegen vergleicht das Wunder mit einem Stammtischabend, welchen er mit seinen Freunden immer wieder begehen könnte („mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt…“). Überhaupt nennt er seinen Bruder, nur noch „dein Sohn“. Am Ende des Gleichnisses steht somit die Vergebung des Vaters gegen die Ausgrenzung des älteren Bruders.
Die vielen Sequenzen, bei denen sich meist zwei Personen gegenüber stehen, sollten uns Überlegen lassen, welche Rolle wir in der jeweiligen Szene einnehmen würden. Bestehen wir immer nur auf das, was uns zusteht? Und vor allem: Gönnen wir anderen die Vergebung, sodass wir bei der Feier eintreten, anstatt draußen stehen zu bleiben?