Wenn wir im Glauben unser Leben „erfahren“, dann kommt der Glaube an sein Ziel. Das Ziel des Glaubens ist sein Ausgangspunkt, nämlich die „Gemeinschaft mit Gott“, die „Erlösung“, die „Gnade“, das „Heil“, der „Himmel“ … als unterschiedliche Bezeichnungen für dasselbe, wo der Glaube herkommt und wo er hinwill: die Gemeinschaft mit Gott. Die Liebe Gottes ist somit nicht nur das Ziel, sondern auch der Ausgangspunkt, nur bleibt das ohne die Zusage Gottes in Jesu Wort eine unerfüllte Ahnung und Sehnsucht des Menschen. Deshalb muss die Gemeinschaft mit Gott uns in der Zusage Jesu offenbar werden. Nur so wirkt sie sich als sicherer Ausgangspunkt in unserem Leben aus, in dem wir zum Glauben kommen. Unsere Erlösung besteht darin, dass wir zu Glaubenden werden, die darauf vertrauen, im Leben und Sterben in der Liebe Gottes geborgen zu sein.
Wie kommt man in den Glauben, in den Bereich der Gemeinschaft mit Gott, in die „Erlösung“, die „Gnade“, das „Heil“, den „Himmel“ … hinein? Wie kommt man im Glauben an sein Ziel?
Wir können uns noch so abstrampeln, noch so fromme Werke vollbringen, keine unserer Qualitäten als Mensch reicht aus, um einen gnädigen Gott zu bekommen. Luthers gesamte Theologie lässt sich ausgehend von seiner Frage verstehen: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Er hat eingesehen, dass angesichts unseres „Aus dem Nichts Geschaffenseins“ und damit der Einseitigkeit der Relation des Geschaffenen auf Gott keine geschaffene Qualität jemals ausreichen kann, Gemeinschaft mit Gott zu begründen. Gemeinschaft mit Gott kann es nur geben, wenn Gottes Liebe zu uns nicht an uns ihr Maß zu haben braucht (was auch gar nicht möglich wäre, weil wir mit der gegenteiligen Behauptung unser „Aus dem Nichts Geschaffensein“ nachträglich wieder leugnen würden), sondern wenn sie die Liebe ist, mit der der Vater den Sohn von Ewigkeit her liebt. Wenn Luther deshalb erklärt, dass der Glaube allein rechtfertigt, dann handelt es sich dabei nicht um eine Bestreitung der Möglichkeit und Notwendigkeit guter Werke, sondern vielmehr sogar um eine Kampfparole für gute Werke: Nur solche Werke können vor Gott gut sein, die aus der Gemeinschaft mit Gott hervorgehen! Nicht die Früchte bewirken, dass ein Baum gut ist, sondern nur ein guter Baum bringt gute Früchte.
Menschen sind geschöpflich und nicht göttlich. Wir kommen auf die Welt und obwohl es uns nicht bewusst ist, ab dem ersten Moment unserer irdischen Existenz gehen wir auf unsere Vergänglichkeit zu, wir sterben. Angeboren ist also unsere Vergänglichkeit, Verwundbarkeit und Todesverfallenheit. Angeboren ist nicht der Glaube. Dieser Sachverhalt wird theologisch als „Erbsünde“ bezeichnet. Erbsünde ist also nicht die Weitergabe einer moralischen Verfehlung eines ersten Menschenpaares an die nachfolgenden Generationen. Von dem, was wir von Geburt an mitbekommen haben, leben wir aus der Angst um uns selbst. Diese Angst ist der Grund aller Unmenschlichkeit. Dagegen helfen weder polizeiliche Sicherheit und Überwachung, um die Bürger vor Verbrechen zu schützen, noch moralische Appelle der Kirchen oder der Ethikkommissionen, noch Lebensversicherungen oder die Änderung der äußeren politischen Verhältnisse. So wichtig dies alles ist, die Angst um uns selbst, die aus unserer Vergänglichkeit resultiert wird dadurch nicht entmachtet. Sie führt immer wieder dazu, dass wir uns unmenschlich, anstatt menschlich verhalten.
Nur der Glaube, als das Vertrauen in die Liebe Gottes, gegen die keine Macht der Welt ankommt, kann die Angst des Menschen um sich selbst entmachten. Wie aber kommen wir in den Glauben als die Geborgenheit in der Liebe Gottes?
Das Entmachten der Angst heißt nicht, die Angst zum Verschwinden zu bringen – Jesus selbst hat Angst gehabt – sondern, die Angst behält nicht mehr das letzte Wort im Leben eines Menschen. Wenn ich darauf vertraue, dass mir Gott so zugewandt ist, dass selbst der Tod mich nicht von ihm trennen kann, dann brauche ich mich nicht mehr von der Angst um mich leiten zu lassen, die bewirkt, dass ich sonst unmenschlich werde und aus dieser Angst heraus bereit bin, über „Leichen“ zu gehen. Der Glaube entmachtet vielmehr diejenige Angst des Menschen um sich, die ihn sonst immer wieder unmenschlich werden lässt und ihn so hindert, seinem Gewissen zu folgen.
Das Vertrauen, der Glaube befreit nicht nur zur Menschlichkeit, sondern auch zu einem Denken und einer Vernunft, die nicht mehr von der Angst bestimmt ist. Wir können als Menschen denken, ohne zu glauben, aber wir können nicht glauben, ohne zu denken. Der Glaube gibt ein Leben lang zu denken. Wer selbst in den Glauben eingestiegen ist oder Menschen dafür gewinnen will, kommt nicht umhin, zunächst zu verstehen, wovon hierbei eigentlich die Rede ist.
Der aus dem 3. Jh. n. Chr. stammende und so einschränkend klingende Satz: „Außerhalb der Kirche kein Heil“, ist in der Geschichte der Kirche falsch verstanden worden. Man meinte damit, eine exklusive Erlösung nur für die Christen zu propagieren. In Wirklichkeit will dieser Satz aber zum Ausdruck bringen: Erst durch die verkündete Heilsbotschaft der Kirche von der Geborgenheit in der Gemeinschaft mit Gott wird überhaupt verstehbar, wie die Gemeinschaft mit Gott, also dieser „Himmel“ allen Menschen gilt und weitergesagt werden kann. Es gibt kein anderes Heil, als das von der Kirche verkündete:
Die Hineinnahme der ganzen Welt in die Liebe des Vaters zum Sohn im Heiligen Geist.
Das aber ist gerade keine Einschränkung der Erlösung auf die Christen allein. Denn wo immer Menschen ohne Angst liebevoll handeln, da leben sie bereits aus dem Geist Christi. In Joh 3,21 heißt es: „Der aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind.“
Wenn es so ist, dass die ganze Welt schon immer in der Gemeinschaft mit Gott „drin“ ist, weshalb sollte man dann noch beten und was bedeutet, dass Gebete erhört werden? Im christlichen Verständnis gibt es kein Gebet und keine Bitte an Gott, die nicht schon erhört wäre. Denn eine größere Erhörung als in Gottes Liebe geborgen zu sein, gibt es nicht. Da die Gemeinschaft mit Gott eine unüberbietbare Wirklichkeit darstellt, ist sie an der Welt nicht ablesbar und auch mit deren Maßstäben nicht messbar. Dass wir im Leben und Sterben in der Liebe Gottes geborgen sind, geht nur dem Glauben auf und muss sogar vielfach gegen den Augenschein der Welt geglaubt werden.
Eine solche Sicht stellt unser gängiges Verständnis des Gebetes und der Gebetserhörung auf den Kopf. Das, worum wir bitten, ein Heil, gegen das kein Unheil der Welt mehr ankommt, ist längst geschehen und wird in unserem Beten nicht bewirkt, sondern in seiner ganzen Wirklichkeit erfasst. Im Gebet bekommt die Welt ein anderes Vorzeichen, das alle Erfahrung in und mit dieser Welt umwertet und in einem anderen Licht und einem neuen Sinn erscheinen lässt: Gute Erfahrungen werden als Gleichnis der Liebe Gottes gesehen und schlechte Erfahrungen, Krankheit, Not und Tod haben nicht mehr die Macht, den Menschen verzweifeln zu lassen und ihn von der Liebe Gottes zu trennen.
Wer aus diesem Verständnis heraus betet, gewinnt auch eine Haltung des Vertrauens zu Gott in seinem übrigen Leben. Nichts in unserem Alltag ist zu klein oder banal, dass wir von Gottes Wort her in ihm nicht die Liebe Gottes finden könnten. Und selbst noch gegen die größte Trostlosigkeit steht die Gewissheit des Glaubens, dass ich nicht aus der „Hand“ Gottes herausfalle. In allem können wir Menschen gratis von der Zuwendung Gottes ausgehen. Ein solches Selbstverständnis bringt Dankbarkeit mit sich und zeitigt sichtbare Folgen in der Welt.
Aber stellt es nicht eine Verkürzung der christlichen Lehre dar, wenn sie hier ganz und gar auf die Verkündigung der Liebe Gottes eingeschränkt zu werden scheint? Gibt es nicht in der christlichen Botschaft auch die Rede vom Zorn Gottes (vgl. Röm 1,18) und den ewigen Höllenstrafen (vgl. Mt 25,46)?
Mit der Erfahrung des Zornes Gottes ist in der Heiligen Schrift die Erfahrung des Menschen gemeint, der aus der Angst um sich selbst lebt, weil er aus sich selbst kein Geborgensein in der Liebe Gottes zu erkennen vermag. Die Höllendrohungen bedeuten den zutreffenden Hinweis darauf, dass alle Versuche, sich selber durch irgendwelche Formen von Weltvergötterung zu sichern, letztlich und für immer heillos bleiben; sie können nur zu Verzweiflung an der Welt führen. Der christliche Glaube versteht sich als die Befreiung von und als Alternative zu jeder Form von Weltvergötterung bzw. von Verzweiflung an der Welt.
Doch diejenigen, die bereits aus der Gemeinschaft mit Gott leben, haben Hoffnung für alle Menschen: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.“ (Röm 11,32) Dass Gottes Liebe das letzte Wort haben wird, kann man als wahr nur innerhalb des Glaubens erkennen. Dadurch wird die Allversöhnungslehre der Heiligen Schrift davor bewahrt, als Vorwand dafür zu dienen, dass es gleichgültig sei, wie man lebt und dass man ja die eigene Bekehrung noch aufschieben könne. Denn dies würde ja Menschen in der Sünde festhalten und kann deshalb nicht wahr sein.
Die Ausrede, der Glaube sei ein großes unverstehbares Geheimnis, widerspricht der biblischen Botschaft, dass Gott sich den Menschen mitgeteilt hat und in dem, was er zu sagen hat, auch verstanden werden will. Gott gibt uns keine unlösbaren Rätsel auf. „Geheimnis des Glaubens“ meint nicht Unverständlichkeit, sondern: Die Gemeinschaft mit Gott, lässt sich nicht aus bekannten Tatsachen dieser Welt ableiten. Sie ist auch kein Wunschgedanke. Gemeinschaft mit Gott kommt nur durch das Vertrauen in sein Wort zustande.
Wer nur den Glauben wecken will, bei sich oder anderen, aber den Verstand schlafen lässt, verhindert, dass Menschen verstehen, was sie glauben. Verstehen hat mit Verstand zu tun und so kommt es beim „Losfahren“ und „Ankommen“ im Glauben mehr auf die Verständlichkeit des Glaubens, als um den Ausweis von Frömmigkeit, Erlebnis, Erfahrung oder Gefühl an.
Trotzdem gibt es nicht wenige Menschen, die der Meinung sind, der Glaube habe überhaupt nichts mit der Vernunft oder dem Denken zu tun, sondern er sei vor allem ein Gefühl oder eine religiös-spirituelle Hochstimmung. Sie achten also vor allem darauf, welche Gefühle sie bei spirituellen Erlebnissen spüren.
Wer würde aber mit einem Auto losfahren und ankommen wollen, bei dem man nur „gefühlt“ fährt oder in dessen Gebrauchsanleitung steht: „Mit diesem PKW kommen Sie nirgendwohin, aber Sie werden sich dabei wohlfühlen!“
Beim „Losfahren“ und auch beim „Ankommen“ des Glaubens kann nicht die gute Stimmung im Innern des PKWs ausschlaggebend sein, sondern es muss darauf geachtet werden, dass der Wagen läuft, unabhängig wie sich die Insassen „fühlen“. Wer also nicht losfahren kann, weil er oder sie im Glauben kein gutes Gefühl hat, oder eine Gotteserfahrung oder ein beglückendes Glaubenserlebnis, kann nicht wirklich behaupten, dass er oder sie verstanden hat, worum es im Glauben geht. Das Gefühl der Freude und die Entmachtung der Angst sind die Folge des Losfahrens und des Ankommens des Glaubens und nicht seine Voraussetzung.
Es gibt ein Denken, das meint, der Glaube brauche auf die Vernunft keine Rücksicht zu nehmen. Glaube sei daran erkennbar, dass er der Vernunft widerspricht. Hier scheint das Motto zu herrschen, je unvernünftiger, desto gläubiger. Dagegen ist zu sagen: Vernunfteinwände gegen den Glauben müssen mit Vernunft beantwortet werden.
Es gibt aber auch eine Haltung, die meint, der Glaube lasse sich ganz und gar auf Vernunft zurückführen. Die Vernunft stecke den Rahmen ab, in den sich dann der Glaube einzuordnen habe. Hierzu ist zu sagen: Das, worum es im Glauben geht, seine Wahrheit, ist nur im Glauben zu erkennen und nicht aus der Vernunft ableitbar.
Nichts kann geglaubt werden, was einer ihre Autonomie wahrenden Vernunft widerspricht. Aber auch umgekehrt kann nichts geglaubt werden, was sich auf Vernunft zurückführen lässt oder auch nur für die Vernunft „plausibel“ gemacht werden kann.
Welche Aufgabe kommt aber dann der Vernunft zu und wie verhält sich der Glaube zur Vernunft? Unvernünftiges kann nicht geglaubt werden. Überall wo das geschieht, herrscht reiner Aberglaube, also „Glaube“ an etwas, das kein Vertrauen verdient. Die Vernunft hat somit eine Filterfunktion für den Glauben, um Aberglaube abzuhalten. Und umgekehrt kann der Glaube nicht durch Vernunftaussagen erklärt werden, da dies bedeuten würde, Gott unter eine vernünftige Begrifflichkeit zu fassen. Aus Glauben wäre dann Rationalismus geworden und das ist ebenfalls unvernünftig.
Glaube will ein Wort über die ganze Wirklichkeit sein, also auch zur Vernunft. So lässt er sich nicht in einem Restbereich der Vernunft plausibel machen. Auch für die Vernunft wird durch den Glauben die Angst entmachtet, die die Vernunft immer wieder zur Unvernunft werden lässt.
Wirklicher Unglaube besteht nur da, wo man letztlich von der Angst um sich selbst bestimmt ist. Dann wird die ganze Welt zu einem Gleichnis der Hölle: Denn Vergänglichkeit und Tod scheinen in allem das letzte Wort zu haben. Dagegen kommt keine noch so gute Erfahrung in dieser Welt an.
Aber im Licht des Glaubens wird die Welt zu einem Gleichnis der Gemeinschaft mit Gott („Himmel und Erde sind erfüllt von seiner Herrlichkeit“, wie es im Sanctus der Eu-charistiefeier heißt). Jede noch so geringe gute Erfahrung wird zum Gleichnis des Himmels. Schlechte Erfahrung hat keinen Gleichnis-Charakter mehr. Kein Übel in der Welt hat die Macht, von der Gemeinschaft mit Gott zu trennen
(vgl. Röm 8,31– 39).
All dies kommt nicht mehr als Einwand gegen den Glauben in Frage. So wird die ohnehin auf widersprüchlichen Voraussetzungen beruhende Frage, wie ein guter Gott das Leid und das Böse in der Welt zulassen kann, in der christlichen Botschaft durch die Frage ersetzt, was der Glaube für den Umgang mit dem Leid ausmacht: Wir müssen nicht mehr verzweifeln und wir müssen uns in unserm Handeln nicht mehr von der Angst leiten lassen.
Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids, setzt fälschlich voraus, dass Gott „unter“ Begriffe fällt und zu Argumentationen „verwendbar“ ist. Sowohl ihr Verständnis von der Allmacht wie von der Güte Gottes ist nicht das des christlichen Glaubens. Man begreift von Gott immer nur das von ihm Verschiedene, das auf ihn verweist, kann jedoch nichts von ihm herleiten. Nur so befreit der Glaube den Menschen aus der Macht der Angst um sich selbst.
Wenn die Angst um sich selbst der Grund aller Unmenschlichkeit und Verantwortungs-losigkeit ist, dann müsste die Befreiung aus der Macht dieser Angst bedeuten, dass man liebevoll und wohlwollend handeln kann. Hier soll nicht behauptet werden, dass der Glaube ein angstlösendes Medikament ist oder gar angstfrei macht. Der christliche Glaube macht vielmehr „angstbereit“. Man kann sich somit auch Angst machenden Situationen stellen. Glaube nimmt nicht die Angst, aber er entmachtet sie. Es ist durchaus möglich, dass die Angst noch zunimmt, denn Glaubende werden nicht selten verfolgt. Aber Glaube ist eine Gewissheit, die stärker als jede selbst noch wachsende Angst ist. Ein Glaubender lässt sich von niemandem mehr zu unmenschlichem Handeln erpressen. Am Beispiel Jesu sehen wir: Der Glaubende erleidet eher Gewalt, als dass er gegen seine Mitmenschen gewalttätig wird.
Die ethischen Normen kann man auch ohne Glauben erkennen. Denn es ist bereits die Wirklichkeit der Welt, die den Menschen in seiner Verantwortung herausfordert. Wenn man am Steuer eines Autos über die Autobahn fährt, darf man keinen Augenblick vor sich hinträumen. Man ist dafür verantwortlich, Unfälle zu vermeiden. Dies ist völlig unabhängig von einer Weisung Gottes.
Die sittlichen Forderungen kommen also nicht erst mit dem Glauben in die Welt, sondern werden mit der Vernunft aus der Welt selbst erkannt. Verantwortungsloses Handeln hat letztlich immer sein Kriterium darin, dass es die Struktur von „Raubbau“ oder „Kontraproduktivität“ hat. Dieses Kriterium ist vollkommen objektiv und unabhängig davon, ob es einem passt oder nicht. Dies und nichts anderes ist mit der Rede vom „natürlichen Sittengesetz“ gemeint. „Schlechtes“, also nicht verantwortbares Handeln, entsteht dadurch, dass diejenigen Werte, die man partikulär (für sich oder die eigene Gruppe) anstrebt, in universaler, nämlich nicht eingeschränkter Hinsicht betrachtet, letztlich untergraben und zerstört werden. Dadurch erweisen sich solche Handlungen als „unverhältnismäßig“ und (nur) so als „in sich schlecht“.
Die vermeintlich fromme Behauptung, dass sittliche Verpflichtungen nur durch den Rekurs auf Gott einsichtig werden oder dass erst die christliche Botschaft sittliche Forderungen mit sich bringe, würde den Anknüpfungspunkt der christlichen Botschaft im Menschen zerstören. Angenommen, der Mensch wäre nicht bereits von sich aus in der Lage, zwischen menschlichem und unmenschlichem Verhalten zu unterscheiden, dann hätte er keinen Anlass, eine Botschaft anzuhören, die ihn von dem befreien will, was ihn daran hindert, seinem Gewissen zu folgen.
Aber werden nicht die Zehn Gebote in der Heiligen Schrift überliefert? Darauf ist zu sagen, dass es durchaus auch in der Heiligen Schrift Aussagen gibt, die auf Vernunfterkenntnis und nicht auf Glauben beruhen.
Der Glaube spielt für die Ethik eine andere Rolle, als zusätzliche Gebote in die Ethik einzuführen. Die Einsicht in sittliche Forderungen bringt jedoch für sich allein noch nicht ihre Erfüllung mit sich. Es wird letztlich immer eine Angst des Menschen um sich selbst sein, die ihn dazu bringt, sich unmenschlich, anstatt menschlich zu verhalten. Durch ihre ausdrückliche Verkündigung der Gemeinschaft mit Gott will die christliche Botschaft den Menschen aus der Macht dieser Angst um sich befreien.
Es gibt etwas, das bei allen Menschen gleich ist und zwar das Vermögen der Selbstbestimmung. Das Vermögen der Selbstbestimmung äußert sich fundamental auf dieselbe Weise. Alle Menschen haben das Vermögen, sich vorzustellen, wie es wäre, jemand anderes zu sein. Dieses Vermögen ist die Quelle der Moral. Eine Handlung ist dann moralisch relevant, wenn sie im Wissen darum ausgeführt wird, dass ich auch ein anderer sein könnte, wenn also das, was ich tue, auch mir selbst angetan werden könnte. Das genau ist der Hintergrund der Weisung, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben.
Allein durch Glauben als der Liebe zu Gott, die im Vertrauen auf seine Liebe zu uns besteht, kommt der Mensch in ein Verhältnis zu Gott, das es ihm ermöglicht, in der Welt anders als aus der Angst um sich zu leben.
Nur wenn sein Handeln am Nächsten nicht mehr durch die Angst dominiert ist, kann der Mensch „seinen Nächsten lieben wie sich selbst“ (Mk 12,31.33), das heißt, sich nicht nur so in die Lage des anderen hineinversetzen und mit ihm mitfühlen, als stünde er selbst an seiner Stelle, sondern er wird ihm dann auch tatsächlich das zu tun suchen, was der andere wirklich braucht. Es geht hier also nicht um eine Aufforderung zur Selbstliebe (niemand kann sich selbst Geborgenheit schenken) oder um die Erwartung entsprechender Gegenleistung, und auch nicht darum, jemandem seine Lieblingsvorhaben aufzuzwingen, weil man selbst diese mag. Vielmehr geht es darum, aufgrund des Geliebtwerdens durch Gott nicht mehr aus der Angst um sich selbst zu leben und deshalb mit Freundlichkeit und Wohlwollen auf andere einzugehen, sich also in ihre Situation hineinzuversetzen und dementsprechend zu handeln.
Im Sinn der christlichen Botschaft lebt jeder Mensch, der liebevoll lebt, bereits aus derjenigen Gemeinschaft mit Gott, die als das Erfülltsein vom Geist Jesu verkündet wird. Es gibt also auch schon vor dem ausdrücklichen Glauben an Jesus Christus ein Leben unter seiner Gnade. Theologisch spricht man von „anonymem“ Glauben als einem Vertrauen, das sich (noch) nicht auf den Namen Jesu beruft. Von diesem Glauben heißt es in Joh 3,22: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.“
Wenn ein solcher Mensch der christlichen Botschaft in klarer Form begegnet und sich aus seiner bereits bestehenden Grundhaltung heraus auf sie einlässt, dann erkennt er rückschauend voller Freude, dass er längst aus dem Geist Jesu gelebt hat. Wo Menschen liebevoll leben und dennoch die christliche Botschaft ablehnen, ist sehr damit zu rechnen, dass es sich um unzureichende, missverständliche Verkündigung handelt, die ihren Anspruch auf Katholisch-sein, nämlich auf Allgemeinverständlichkeit und Allverbindlichkeit, nicht einlöst.