„Gedächtnis muss bedeuten, Verantwortung heute zu übernehmen“, sagt Bischof Peter Kohlgraf. Er äußert sich in der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung zum 27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit. Das unbeschreibliche Ausmaß der Verbrechen an Millionen Menschen, insbesondere an Jüdinnen und Juden im Holocaust, wurde vor der Weltöffentlichkeit offenbar. Am 27. Januar begehen wir jedes Jahr den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Zahllose Menschen wurden unterdrückt, verfolgt, gefoltert, ermordet: wegen ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer politischen Einstellung und wegen anderer Gründe. In der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags stehen in diesem Jahr Verfolgte sexueller Minderheiten im Mittelpunkt. Jedes Jahr begehen wir bewusst diesen Tag der Erinnerung. Es ist für unsere menschliche Kultur unverzichtbar, dieses unvergleichliche Morden nicht zu vergessen. Bis heute sind antisemitische und rassistische Taten, Worte und Einstellungen nicht aus der Gesellschaft verbannt, erleben Minderheiten Diskriminierung und Ausgrenzung. In den vergangenen Jahren sind letzte Mit-Verantwortliche für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik vor Gericht gekommen und mussten sich ihren Taten stellen. Damit sind auch medial noch einmal schlimme Verbrechen benannt worden. Diese Generation ist bald nicht mehr zu greifen. Auch die betroffenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, deren Lebensbeispiel so entscheidend ist und war, Vergangenheit aufzuarbeiten und nachfolgende Generationen zu sensibilisieren, werden bald nicht mehr unter uns sein. Oft hatten sie den Mut, ihr Lebensschicksal vor der jüngeren Generation zu berichten und haben damit viel Erschütterung bewirkt. Damit sind aber selbstverständlich das Gedenken und die Verantwortungsübernahme sowie die Solidarität mit Verfolgten, mit den Jüdinnen und Juden und mit anderen betroffenen Gruppen heute nicht Vergangenheit.
An diesem Gedenktag sind wir den Opfern des Nationalsozialismus besonders im Gedenken und im Gebet verbunden. Erinnerung spielt in der biblischen Tradition eine wichtige Rolle. Juden wie Christen feiern ihre Gottesdienste als „Gedächtnis“, und es geht um mehr als um eine historische Erinnerung. Vielmehr sehen sie sich im Gebet und in der Liturgie als Teil einer lebendigen Glaubenstradition. Wenn Christinnen und Christen etwa in der Osternacht die Geschichte von der Befreiung aus Ägypten aus dem Exodusbuch hören, sind sie Teil dieser Erlösung. Sie sind dabei. In der Eucharistiefeier sind Teilnehmende Zeuginnen und Zeugen von Tod und Auferstehung Jesu, sie stehen unter dem Kreuz, vollziehen die Lebenshingabe Jesu mit und werden mitgerissen in die Bewegung der Auferstehung. So feiern auch die heutigen jüdischen Gemeinden ihre Feste. Die Gläubigen sind Teil einer lebendigen Geschichte Gottes mit den Menschen, von den Anfängen bis heute, und sie gehen mit Gottes Verheißungen in die Zukunft. In der Erinnerung, im Gedächtnis, verbinden wir uns mit den Opfern und wissen uns an ihrer Seite. Dabei ist ihr Schicksal nicht Vergangenheit, sondern als Christinnen und Christen, ja als Menschen, wissen wir uns ihnen verbunden. In vielen Texten der Heiligen Schrift stellt Gott sich ausdrücklich an die Seite der Verfolgten, der Armen, der Benachteiligten und Opfer der Geschichte. Wenn wir auch als Kirchen des Holocausts, der systematischen Auslöschung unserer jüdischen Geschwister, gedenken, stehen wir auch religiös an der Seite der Jüdinnen und Juden. Wir stehen heute in der Verantwortung zu erkennen, wo auch christlich theologische Traditionen das Judentum geschmäht haben, wo Menschen christlichen Glaubens auch in der Zeit des Nationalsozialismus weggeschaut haben oder selbst zu Verbrechern geworden sind. Auch andere Personengruppen fanden wenig Unterstützung durch die Kirche und ihre Theologie. Und auch Christinnen und Christen sind aufgrund ihrer Überzeugung Opfer des Nationalsozialismus geworden. Sie sind Teil unseres Gedächtnisses, unserer Verantwortung, unseres Gebets. Sie sind nicht Vergangenheit, sie leben. Und Gedächtnis muss bedeuten, Verantwortung heute zu übernehmen und wachsam zu sein gegen jede Form von Antisemitismus und Menschenrechtsverletzung in unserer Gesellschaft.
Die Millionen Ermordeten sind Millionen einzelne Persönlichkeiten, jede und jeder von Gott geliebt. Bei Gott ist niemand vergessen. Wir reihen uns ein in die Gruppe derer, die nicht vergessen wollen. Der Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus möge uns ermutigen, eine Welt zu gestalten, die für alle Menschen Heimat werden kann, die Vielfalt zulässt und wertschätzt, die aufmerksam bleibt gegen jede Form von Extremismus und Fanatismus.
Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 29. Januar 2023. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de