Die Frau der 300 000 Bücher

Dr. Hedwig Suwelack leitet seit Dezember 2021 die 350 Jahre alte Martinus- Bibliothek. Für ihre neue Aufgabe wechselte sie von Berlin nach Mainz. (c) Kirchenzeitung/ Ruth Lehnen
Dr. Hedwig Suwelack leitet seit Dezember 2021 die 350 Jahre alte Martinus- Bibliothek. Für ihre neue Aufgabe wechselte sie von Berlin nach Mainz.
Datum:
27. Juni 2022
Von:
Ruth Lehnen/ Kirchenzeitung

Hedwig Suwelack ist Expertin für die Literatur des Mittelalters und Leiterin der Mainzer Martinus-Bibliothek mit mehr als 300 000 Büchern, darunter kostbare Handschriften und Drucke. Ihr Job: das Erbe bewahren und für viele verfügbar machen. Die Kirchenzeitung hat ein  Portait der  Bibliotheksleiterin veröffentlicht.

Was heute nicht im Netz steht, ist nicht da

Das Nibelungenlied. 13. Jahrhundert. Mittelhochdeutsch. Wer ist die Frau, de­ren Lieblingslektüre dieses Buch ist? Die das Nibelungenlied in der Reclamaus­gabe immer wieder abends zur Hand nimmt? Auf jeden Fall eine Liebhaberin und Kennerin des Mittelalters. Hedwig Suwelack, 37 Jahre alt, interessiert be­sonders die Zeit der Medienrevolution, des beginnenden Buchdrucks, des ge­sellschaftlichen Umbruchs: „Das 15. Jahrhundert ist meine Zeit!“

An einer weißen Tafel in ihrem Büro hängen Fotokopien alter Handschriften. Mit Aufmerksam­keit und Liebe zum Detail ist Su­welack dabei, „Schreiberhände“ zu identifizieren. Das heißt, sie erkennt die Handschriften von Männern aus dem Mittelalter, nä­hert sich so den Individuen und der Organisation ihrer Werkstät­ten. Die Bibliothekarin als Rätsellöserin: Suwelack hat ein Leuchten in den Augen. Sie kommt aus der Forschung und hat noch nicht ganz die Seiten gewechselt: In Zukunft wird es vor allem ihre Aufgabe sein, in der Martinus-Bibliothek in Mainz anderen Forschern bei ihrer Arbeit zu helfen. Das sei eine wirklich tolle Aufga­be und „der beste Job“, sagt sie.

Bereitstellung von Wissen bedeutet heute Digitalisierung

Bereitstellung von Wissen, das ist seit Anfang der klösterlichen Bibliotheken unter Karl dem Großen die Aufgabe der Bibliothekare. Bis heute. Auch für Hed­wig Suwelack, die von Berlin nach Mainz gewechselt ist. Die Martinus-Bibliothek als wissenschaftliche Fachbibliothek, an­geschlossen ans Mainzer Priestersemi­nar, ist mehr als 350 Jahre alt. Sie hat mehr als 300 000 Bände im Bestand. Doch heute bedeutet die Bereitstellung von Wissen auch Digitalisierung. So wichtig die Originale bleiben, die For­schenden arbeiten längst mit digitalisier­ten Aufnahmen der wertvollen Bücher. Seltener als früher kommen sie nach Mainz, um eine Handschrift, einen frü­hen Druck anzusehen: Sie können heute weltweit über Datenbanken auf das Ma­terial zugreifen, das ihr Herz begehrt. Wenn denn die „Bestände verfügbar ge­macht sind“, wie das in Suwelacks Spra­che heißt. Da gibt es noch einiges zu tun für sie und ihr fünfköpfiges Team. Auch an der Kooperation mit anderen For­schungseinrichtungen wird gearbeitet, an der Selbstdarstellung im Internet und in Zukunft vielleicht über den Kurznach­richtendienst Twitter, einen Kanal, der Austausch ermöglicht. Wie in Hedwig Suwelacks Lieblingszeit, dem 15. Jahr­hundert, ist auch die gegenwärtige Zeit Revolutionszei, Innovationszeit. „Was heute nicht im Netz steht, ist nicht da,“ bemerkt die Bibliothekarin.
Öffnung, Offenheit, Gefundenwer­den, das sind wichtige Stichworte für die Leiterin der katholischen Bibliothek. Wiewohl altehrwürdig und wichtig, ist dieser Hort der Bücher auch in Mainz noch weitgehend ein Geheimtipp. Nicht nur kann jeder und jede hier kosten­los das Angebot nutzen, es gibt auch ruhige internetfähige Arbeitsplätze und seit Kurzem lockt die Bibliothek sogar mit Liegestühlen. Gegen Pfand einen Lie­gestuhl ausleihen, im Hof unterm Baum sitzen und lesen, lesen, lesen ... so stel­len sich Bücherliebhaber den Himmel vor. Nur dass bisher noch kaum einer davon weiß, oder Zeit hat, oder sich rein-traut. Vielleicht flößt der Name „wissen­schaftliche Diözesanbibliothek“ zu viel Respekt ein.

Der „Herzmahner“ als Forschungsthema – ein mittelalterliches Gebetbuch

Die Aufforderung „Kommt vorbei!“ al­lein funktioniere nicht mehr, ist Hedwig Suwelack überzeugt. Deshalb legt sie großen Wert auf den Servicegedanken. Der Anspruch ist, dass in der Martinus- Bibliothek zu jedem theologischen Fach gut geforscht werden kann. Neben der Theologie gehören Geschichte, Germa­nistik und Philosophie zu den Schwer­punkten. Wertvollen Bestand erhalten, Neues hinzukaufen, Altes aussortieren, auch das gehört zu ihren Aufgaben: Eine Bibliothek darf niemals statisch sein. Mit der vor kurzem erfolgten Renovierung und mit dem jährlichen Etat setzt das Bis­tum Mainz ein Zeichen, sich weiter für die Wissensvermittlung zu engagieren, auch wenn an anderen Stellen gespart wird. Die neue Leiterin arbeitet an einem Veranstaltungsprogramm, das noch in diesem Jahr starten soll. In Berlin hat sie mit Wissenschaftlerinnen und Wis­senschaftlern zum Beispiel „Transkri­bathons“ veranstaltet: Viele haben zusammen Texte aus Handschriften in heutige Schrift übertragen, eine inter­netbasierte Zusammenarbeit.

Wann und wie wird Sprache zum Gebet ?

Manchmal kann der Umgang mit frü­hen Texten auch einsam sein, er erfor­dert Geduld und Dranbleiben. In diesen Disziplinen ist Suwelack geschult, hat sie doch in zehn Jahren ihres Lebens viel Zeit einem einzigen Buch gewidmet, dem „Herzmahner“. Diese Gebets-erzäh­lung von 1497, ins Deutsche gebracht nach einem lateinischen Original des Thomas von Kempen, ist das Thema ihrer Doktorarbeit. Es ist ein Gebetbuch, das vor allem von der Kindheit Jesu und von Jesu Passion erzählt. Ein Buch, das das „Herz ermahnt“: „Es will innige Andacht und eine Erfahrung des Gebets und des Glaubens ermöglichen, die wie ein Pfeil in das Herz seiner betenden Leserinnen und Leser treffen.“ Es sei ein Text, der „genau auf der Höhe der Zeit war“, sagt Hedwig Suwelack, und genau das hat sie interessiert: Wie ist es sprachlich ge­macht, damit es trifft? Und: „Wann und wie wird Sprache zum Gebet?“

Dass der „Herzmahner“ innigliches Gebet und die Aufforderung zur Nachfol­ge Christi mit antijüdischen Stereotypen verbindet, besonders Judas betreffend, hat die Forscherin ebenfalls herausge­arbeitet: Ihr ist es wichtig, sich auch mit den problematischen Aspekten der mittelalterlichen Literatur auseinander­zusetzen.
Eine Ausgabe des „Herzmahners“ gibt es in der Martinus-Bibliothek nicht, wohl aber einen frühen Druck der „Imitatio Christi“ von Thomas von Kempen. Die Bibliotheksleiterin führt in die Herzkam­mer der Bibliothek, in der bei konstanter Temperatur und in einzelnen Schubern besondere Bücherschätze aufbewahrt werden, und zeigt das Exemplar. Frühe Drucke und Handschriften sind der Stolz der Martinus-Bibliothek. Alle kirchlichen Einrichtungen müssten sich der Erhaltung des kulturellen Erbes verschreiben, meint sie, und kritisiert den geplanten Verkauf einer wichtigen Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, mit dem Zisterzi­enserinnen in Sachsen ihren Konvent vor dem Ruin retten wollen: Der „Ma­rienthaler Psalter“ dürfe keines­falls in „Privatbesitz verschwin­den“.

Die Bibliothekarin ist auch eine Musikliebhaberin und spielt Querflöte

Noch vermisst Hedwig Suwelack das kulturelle Angebot in Berlin, obwohl sie sich auch begeistert über ihre neue Heimat Mainz äu­ßert, wo sie Museen entdecken und vor allem ins Konzert gehen will. Denn die Wissenschaftlerin liebt die Musik und spielt Querflöte.
Ihre heimische Bibliothek hat sie noch unter Kontrolle: „Verloren ist man erst, wenn sich die Bücher überall auf dem Boden stapeln. So weit ist es bei mir noch nicht.“

 

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Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 26. Juni 2022. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de

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