Die „Waage des Gerichts“

Die Kreuzigungsgruppe stiftete der Künstler Hans Backoffen, sie stammt aus seiner Werkstatt und ist zwischen 1518 und 1520 entstanden. Das Original ist heute im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum in Mainz zu sehen. Am ursprünglichen Standort neben der Pfarrkirche St. Ignaz in der Mainzer Altstadt steht eine Kopie. (c) Bischöfliches Dom-und Diözesanmuseum
Die Kreuzigungsgruppe stiftete der Künstler Hans Backoffen, sie stammt aus seiner Werkstatt und ist zwischen 1518 und 1520 entstanden. Das Original ist heute im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum in Mainz zu sehen. Am ursprünglichen Standort neben der Pfarrkirche St. Ignaz in der Mainzer Altstadt steht eine Kopie.
Datum:
18. Nov. 2022
Von:
Franz-Rudolf Weinert

Das Christkönigsfest schließt das Kirchenjahr. Das Evangelium erzählt von Jesu Gespräch mit den Schächern am Kreuz. Professor Franz-Rudolf Weinert, Domkapitular in Mainz, erläutert diese Szene mithilfe eines Kunstwerks.

Die „Triumphkreuzgruppe“

Vor 500 Jahren, am 21. September 1519, starb Hans Backoffen. Er war nicht nur ein herausragender Künstler seiner Zeit, sondern auch Mitglied der Mainzer Pfarrei Sankt Ignaz. Die Kreuzigungsgruppe im ehemaligen Friedhof war als Grabmal für ihn und seine Frau Katharina Fust gedacht. Beide starben kurz hintereinander, wohl an den Folgen der Pest, die 1519 in Mainz grassierte.Die „Triumphkreuzgruppe“, wie sie auch genannt wird, zeigt im unteren Teil die Kreuzigung nach dem Johannesevangelium: Maria, die Mutter Jesu, rechts der Jünger Johannes, Maria Magdalena kniend am Stamm des Kreuzes. Im oberen Teil hat Hans Backoffen den Dialog Jesu mit den beiden Mitgekreuzigten eingefangen, wie ihn der Evangelist Lukas überliefert (Lukas 23,35b bis 43).

Als Jesus gekreuzigt wurde und mit ihm zwei Schwerverbrecher, stimmt einer von ihnen in die Spottlieder der Pharisäer und Soldaten ein: „Bist du denn nicht der Messias? Dann rette dich selbst und auch uns!“ Der Schächer Dismas, wie er auch genannt wird, nimmt sein Gekreuzigt-Werden als gerechte Strafe an. In letzter Minute wendet er sich an Jesus: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Dieses Vertrauen, diese Ehrlichkeit, lässt Jesus das Wort sprechen: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“

„Waage des Gerichts“ in der Ostkirche

„Waage des Gerichts“ wird das Kreuz in der Ostkirche genannt und das russische Kreuz mit schrägem Querbalken am Fußende stellt es auch so dar: Der eine Schächer fährt nach unten, in die Hölle, der andere nach oben, in den Himmel. Die Künstler um Hans Backoffen haben es ebenso drastisch dargestellt: Die Seele des bösen Schächers, in Gestalt eines Kindes, wird von einem Teufel fortgeführt; als Gegenbild nimmt ein Engel die Seele des guten Schächers mit ins Paradies. Es gibt einen Text aus dem vierten Jahrhundert, der nicht in der Bibel steht, das apokryphe „Nikodemus-Evangelium“. Es erzählt, wie Christus in seinem Tod, beim Abstieg in die Unterwelt, den ersten Menschen, Adam, ins Paradies führt. Doch wie erstaunt ist dieser, dort bereits einen erlösten Menschen anzutreffen, der dazu noch ein Kreuz auf dem Rücken trägt. Es ist dieser Schächer, dem Jesus das Paradies versprochen hatte.

Herr, gedenke meiner in deinem Reich

Vom Paradies, der Vollendung des Lebens, kündet auch der Gesang, mit dem die Liturgie der Kirche einen Verstorbenen zum Grab begleitet: „Ins Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Die Chöre der Engel mögen dich empfangen, und durch Christus, der für dich gestorben, soll ewiges Leben dich erfreuen.“
Die Kreuzigungsgruppe zeigt weiterhin drei Engel, die das Blut Jesu mit Kelchen auffangen, das aus den Händen und Füßen Jesu fließt. Damit wollte der Künstler die Eucharistie andeuten. Der Kelch steht für das Blut Christi, die Frucht der Erlösung, an der die Gläubigen beim Kommunionempfang der Messfeier Anteil haben.
Wissend aber, dass jeder Mensch wie der eine Schächer „fallen“ kann, betet die Ostkirche vor jedem Empfang der Kommunion: „Zu deinem heilgen Abendmahle, Sohn Gottes, nimm mich heute als dein Gast auf. Nie will ich deinen Feinden das Geheimnis verraten, noch dir einen Kuss geben wie Judas, sondern wie der Schächer am Kreuz bekenne ich dir: Herr, gedenke meiner in deinem Reich.“

Dieser Artikel erschien in 2019 in der November-Ausgabe der Kirchenzeitung  "Glaube und Leben"