Sexueller Missbrauch: Es heißt in der Kirche oft, man wolle „die Perspektive Betroffener einnehmen“. Dazu gehört aber, Betroffene und ihre Situation zu verstehen. Sexualisierte Gewalt ist immer ein Trauma. Was bedeutet Trauma? Ein Gespräch der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" mit der Traumatherapeutin Dr. Brigitte Bosse.
Frage: Was widerfährt Menschen, denen ein Trauma widerfährt? Was ist ein Trauma?
Dr. Brigitte Bosse: Ein seelisches Trauma ist grundsätzlich etwas, das die Verarbeitungsmöglichkeit des Individuums übersteigt. Wenn es die Verarbeitungsmöglichkeit nicht übersteigt, ist es eine Belastung. Wenn ich hinfalle und mir das Bein breche, ist das traumatisch im Sinne der Unfallchirurgie – ich bin hilflos, kann nicht mehr gehen: Das ist schlimm, aber das werde ich bewältigen können.
Wenn ich aber ein Kind bin und eine nahestehende Bezugsperson mir absichtlich das Bein bricht, ist es genauso kaputt, aber das passt nicht in mein Weltbild, das kriege ich nicht gefasst, das kann nicht sein, das übersteigt die Verarbeitungskapazitäten. Dann passiert oft etwas, das wir Dissoziation nennen: Was zu viel ist, wird nicht integriert. Man könnte meinen, es wird aktiv ausgeblendet, aber das ist eher wie ein Schutzschild, das runtergeht: Ich kriege es nicht begriffen.
Ist jede(r), der/die missbraucht wurde, traumatisiert?
Ich benutze das Wort Missbrauch nicht gern – denn es gibt keinen ,Gebrauch‘;
ich spreche von sexualisierter Gewalt. Jeder sexualisierte Übergriff ist potentiell traumatisierend. Weil er Intimgrenzen, Körpergrenzen, Schamgrenzen verletzt. Und im klerikalen Umfeld, weil er spirituelle Grenzen verletzt. Aber die Betroffenen müssen nicht zwangsläufig von einem Trauma krank werden. Das Trauma ist die Einwirkung, die Krankheit kann die Folge sein. Bei sexuellen Übergriffen ist die Rate hoch, mehr als 50 Prozent der Betroffenen erkranken. Je länger, je mehr, je sadistischer die Taten, und je jünger die Kinder waren, umso stärker ist die Auswirkung. Je näher der Täter – wenn der Täter eine Vertrauensperson ist – dann wird es sehr viel schlimmer. Es heißt in der Kirche immer, man wolle die Perspektive der Betroffenen einnehmen, aber dazu gehört, zu verstehen, was den Betroffenen passiert ist infolge der sexualisierten Gewalt. Wie es in ihnen aussieht. Die Kinder sind in der Falle, die kommen da nie raus. Ein Kind im Kinderheim zum Beispiel kann nicht weglaufen, es ist auf Gedeih und Verderb den Betreuer/innen ausgeliefert. Ein Ministrant aus einer streng religiösen Familie, der kann nicht weglaufen. Wie soll der seinen Eltern erklären, dass er nicht mehr ministriert? Wo soll ein Kind diese Widerstandskräfte herholen?
Es ist wichtig zu verstehen, dass all die Eindrücke durch die sexualisierte Gewalt in den Organismus, in den Körper, in den Kopf hineingelangen, auch wenn Betroffene sie nicht ordnen können. Wie ein Fußeindruck im Lehm – der Fußabdruck bleibt, auch wenn ich nicht wahrgenommen habe, dass ich im Lehm gegangen bin. Diese Eindrücke sind nicht geordnet und führen im impliziten Gedächtnis, das unabhängig ist von Zeit, Raum, Ort, eine Art Eigenleben: Sie tauchen auf, tauchen ab, – wenn das Trauma da ist, ist es ganz da – im Präsens: Hier und jetzt. Deshalb ist es für manche schwierig zu verstehen, dass jemand, der ein Trauma erlitten hat, auch vollkommen unbeschwert wirken kann, ein erwachsenes Leben führen kann – und dann kann das alles wieder hochkommen.
Das ist ein wenig wie bei Trauerfällen und Sterbefällen. Man trauert, man weint, man ist fassungslos, und man dreht sich um und geht Kaffeetrinken und lacht vielleicht sogar einmal dabei. Das kennen wir alle, dass die Gefühle wechseln. Was wir wahrnehmen, sind ja nicht Geschichten oder Abläufe. Was wir wahrnehmen, können wir nur und ausschließlich über unsere fünf Sinne wahrnehmen: hören, sehen, riechen, schmecken, tasten. Diese Sinneseindrücke kommen ins Gehirn und werden im Frontalhirn verknüpft, assoziiert, zusammengesetzt mit Vorerfahrungen, und bewertet. Dann erst entsteht ein Narrativ daraus, eine Geschichte. Und davor sind es nur Sinneseindrücke.
Wenn diese Sinneseindrücke aber nicht zusammengefügt werden und keine Geschichte daraus entstehen kann, weil das, was ich wahrnehme, gar nicht passiert sein darf, dann ist es nicht zu integrieren. Dann ist es im impliziten Gedächtnis, und immer, wenn ein ähnliches Gefühl, ein Geruch, eine Beleuchtung, ein Gedanke, eine Empfindung, daran anknüpft, ist es wieder da. Das ist dieses Auf und Ab: Das Trauma ist da und es ist nicht da. Umso mehr ist es „nicht da“, wenn es im Bereich der sexuellen Gewalt geschieht. Der Täter sagt: „Es passiert gar nicht!“ Und der Betroffene fasst es nicht, dass es ihm passiert, es passiert – vermeintlich – „gar nicht“. Und wie soll das, was „gar nicht“ passiert, als Teil einer Geschichte und Biographie begriffen werden, wenn keiner dabei hilft? Denn auch das Außen sagt: „Es passiert nicht!“ Es ist ja keineswegs so, dass Eltern, oder Freunde, oder Vorgesetzte oder Verwandte sagen: „Oh, das durfte der nicht!“, sondern sie sagen: „Wie kommst Du dazu, so etwas zu sagen?“ Wie soll da ein Kind sich behaupten und an der eigenen Wahrnehmung festhalten können? Das ist eher die Ausnahme.
Wenn die Menschen, denen so etwas passiert ist, später ihre Geschichte aufschreiben, ist das ein guter Schritt?
Ja, weil das Aufschreiben ein Schritt ins Begreifen ist. Damit bewege ich mich im Großhirnbereich: Mechanik plus Denken plus Bewerten plus Distanz. Das ist ein großer Schritt, das Geschehene in die eigene Biographie zu integrieren; etwas ganz Gutes, etwas Segensreiches.
Und nicht hilfreich ist es, als Außenstehender zu sagen: Das ist doch lange her...
Das explizite Gedächtnis ist autobiographisch, ist narrativ, hat Raum und Zeit und Ort und Kontext und hat Bedeutung. Ich erinnere mich. Meine Erinnerung kann ich akzentuieren und abrufen. Die traumatische Erinnerung, die ploppt hoch. Nicht ich greife nach der Erinnerung, sondern die Erinnerung greift nach mir. Das ist das implizite Gedächtnis. Das implizite Gedächtnis hat keinen Raum, keine Zeit, keinen Kontext – das ist jetzt! Wenn aber die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern die Vergangenheit jetzt stattfindet, weil es wieder hochgekommen ist, dann bestimmt die Vergangenheit die Zukunft, dann gibt es dieses eine Bewusstsein: „Ich bin ausgebeutet, ich bin misshandelt, ich bin nichts wert.“ Diese eindringenden Erinnerungsfragmente sind willentlich in der Regel nicht gut zu steuern, die kommen ungefragt und ungebeten. Für Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kirche ist es schwierig, weil das Thema seit 2010 andauernd in der Presse ist. Natürlich mobilisiert das alte Erinnerungsfragmente.
Darüber wird ja mittlerweile auch diskutiert, aber in dem Sinne, dass den Menschen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, gesagt wird, man könne das Thema nicht immer weiterziehen; es „müsse mal gut sein“. Was sagen Sie dazu?
Wenn es da ist, ist es da. Die Anzahl an sexuellen Übergriffen ist erheblich, allerdings in der Kirche vermutlich nicht erheblicher als in den Sportvereinen. Die Sportvereine haben jedoch noch nie „Mea Culpa“ geschrieen. Die haben sich bisher sorgfältig weggeduckt. Was wichtig ist bei den sexuellen Übergriffen: Die sind ja deswegen so schlimm, weil sie die Grenze der Intimität verletzen. Was darf ein anderer Mensch in und an und mit mir tun oder nicht? Das Aus-üben sexualisierter Gewalt ist die intimste Grenzverletzung, die man sich vorstellen kann. Bei der sexualisierten Gewalt gibt es in der Art des Vollzugs viele Abstufungen von taktilen Übergriffen, die nicht per se gewalttätig ist, aber trotzdem grenzverletzend, bis hin zu massiver Gewalt, die auch körperlich schädigend ist. Aber allen sexualisierten Grenzverletzungen ist gemeinsam, dass sie die intimen Grenzen missachten, und das beschämt die Opfer meist mehr als Prügel. Das stellt alles infrage, woran Menschen glauben können oder glauben wollen. Wenn in der Kirche gesagt wird, es muss jetzt mal endlich aufhören mit dem Thema, dann sage ich: „Hört auf, Kinder sexuell auszubeuten, dann hört ,es‘ auf. Bis ,es‘ aufhört, sollten wir uns um die kümmern, die schon sexuell ausgebeutet wurden und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen – und dann hört es auf. Aber vorher nicht.
Der Priester ist eine besonders herausgehobene Person mit einem besonderen Bezug zu Gott. In der Eucharistie stellt er sogar Christus selbst da. Wenn nun so ein Mensch einem so etwas antut, ist das eine Potenzierung des Horrors. Da, wo es um die Verletzung religiöser Grenzen geht, ist die dissoziative Reaktion bei den Betroffenen nochmals deutlich ausgeprägter. Es ist für die Betroffenen unmöglich, das zusammenzubringen, dass, überspitzt gesagt, der Stellvertreter Christi auf Erden mich in die Sakristei zerrt und mich vergewaltigt. Das geht nicht in meinen Kopf. Das fasse ich nicht. Da fehlen mir die Worte, da verstumme ich ganz. Das Vertrauen in Gott und Kirche wird irreparabel beschädigt. Jemand die Möglichkeit zu nehmen, ein Gottvertrauen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, das finde ich wirklich Sünde. Wenn es eine Sünde gibt, dann ist das eine.
Und Sie sind als Traumatherapeutin in der Lage, den betroffenen Menschen zu helfen?
Ja, durchaus. Wenn der Betroffene akzeptieren kann: „Das ist genau mir passiert“, und realisieren kann, was es für die eigenen Biographie, für die eigene Entwicklung, für die eigene Sexualität, für die eigene Spiritualität bedeutet ... Wenn die Person vielleicht den Schaden so integrieren kann, dass sie etwas aus dem Schaden nutzbar machen kann, dann sind wir im Bereich der Erfahrungen. Normalerweise lernen wir aus Erfahrungen. Wenn man dahin nicht kommt, bleibt das, was passiert ist, ein „Widerfahrnis“. Das ist ein Ausdruck, den Jan Philipp Reemtsma benutzte, der entführt worden ist: Es widerfährt dem Opfer widerrechtlich, wider die Natur. Damit es zur Erfahrung wird, muss das Opfer begreifen: „Es ist mir passiert, es ist dann und dann passiert, es ist sogar absichtlich passiert, und ich bin verraten und ausgebeutet worden. Es war unglaublich.“ Bei dem Begreifen können wir Therapeuten durch verschiedene trauma-spezifische Interventionen und Techniken und Methoden behilflich sein. Es geht oft ganz gut, aber es kann eine Verletzlichkeit bleiben, zum Beispiel eine Stressintoleranz.
Hat die katholische Kirche verstanden, was Missbrauch bewirkt, hat sie gelernt, die Betroffenen zu hören?
„Die katholische Kirche“, das ist mir zu groß. Da würde ich lieber schweigen. – Ich bin ja hier in Mainz und beobachte hier sehr dankbar die Anstrengungen, dass so viel in Bewegung gesetzt wird.
Sie behandeln fast ausschließlich Menschen, die ein Traume erlitten haben. Das zu tun, was Sie tun, ist sehr schwer: Wie belastend ist das für Sie?
(Sie überlegt länger.) Es klingt komisch, aber ich arbeite in der Regel mit Dingen, die alle schon passiert sind. Menschen, die hier sitzen, haben es hier schon viel, viel, viel besser als dort, wo sie gewesen sind Das gibt mir genug Zuversicht, zu sagen: „Wenn Du verstehst, dass Du hier angekommen bist, kannst Du das ,Dort‘ hinter Dir lassen.“ Also ist das Gewesene, was ich höre, schlimm, aber es ist gewesen.
Interview: Ruth Lehnen
Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 2. Mai 2021. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de