„Diese Erfahrung von Krieg und Vertreibung wird auch in Europa langfristige Auswirkungen haben“, schreibt Bischof Peter Kohlgraf im „Wort des Bischofs“ in der aktuellen Ausgabe von Glaube und Leben zum Ukraine-Krieg. Er erinnert an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Flucht und Vertreibung haben in diesen Tagen des Krieges gegen die Ukraine ungeahnte und verheerende Dimensionen angenommen, wie wir es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Millionen Menschen, besonders Frauen und Kinder, sind ihrer Heimat beraubt worden. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß, und viele Menschen tun im Augenblick, was auch zur biblischen Ethik gehört: „Auch sollt ihr die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Deuteronomium 10,19). Das Neue Testament sieht alle Grenzen zwischen Menschen aufgehoben. Umso widersinniger und teuflischer ist der Krieg, wenn er auch noch teils religiös begründet wird. Mit dem Glauben an Christus im Herzen kann man keinen Krieg rechtfertigen.
Diese Erfahrung von Krieg und Vertreibung wird auch in Europa langfristig Auswirkungen haben. Für die Generation der Kriegskinder und Kriegsenkel des Zweiten Weltkriegs hat dies zum Beispiel die Autorin Sabine Bode beschrieben. In ihren Büchern lässt sie Menschen der verschiedenen Generationen zu Wort kommen („Die vergessene Generation“; „Kriegsenkel“). Kriegs- und Fluchterfahrungen werden auch die kommenden Generationen prägen. Das gilt ja auch für viele Menschen im Bistum Mainz.
Wenn jetzt die Bereitschaft zu helfen groß ist, ist dies durchaus erfreulich, aber wir werden uns darauf einrichten müssen, dass die Krise weder in ein paar Wochen beendet sein wird, noch nach Beendigung des Krieges. Traumatisierungen werden über die jetzige Generation der betroffenen Menschen hinaus spürbar sein.
Ich erlaube mir einen Blick in die eigene Familiengeschichte. Der mütterliche Zweig ist nach 1946 aus Pommern vertrieben worden, der Großvater in Russland gefallen. Ich habe als kleiner Junge gebannt den wenigen Erzählungen meiner Großmutter, der Mutter und der beiden Onkel zugehört, deren Weg über Görlitz und andere Orte im heutigen Ostdeutschland nach Köln in den Westen geführt hat. Heute würde ich gerne besonders meine Großmutter und meine Mutter über ihre Flucht- und Gewalterfahrungen befragen. Ich kann aus der Erinnerung nur ahnen, was sich hinter manchen Redewendungen und Verhaltensweisen verborgen hat.
Als ich meine Großmutter beerdigt habe, habe ich als einen Wesenszug formuliert, dass sie innerlich nie mehr Heimat gefunden hat. Auch der zweite Mann meiner Großmutter, den ich als meinen Großvater gekannt habe, ist ein Vertriebener aus der schlesischen Heimat. Nicht nur der Verlust der Heimat, sondern auch die Jahre zwischen 1946 und Anfang der 1960er Jahre des Ankommens in Köln werden diese Menschen geprägt haben. Mehr als zehn Jahre der Unsicherheit und der Heimatlosigkeit stecken dahinter. Als ich jetzt die Bilder von den Menschen aus der Ukraine sah, musste ich an eine Ausstellung über die Menschen aus dem damaligen Osten Deutschlands denken, die ich einmal in Görlitz gesehen habe: Massen von Menschen, die durch die Stadt ziehen. Da waren auch meine Großmutter, meine Mutter und die beiden Onkel dabei. Diese Erfahrung ist nicht mit der unmittelbar betroffenen Generation vorbei. Ich versuche manchmal zu ergründen, was auch in meinem Verhalten und Denken auf diese Erfahrung der beiden Generationen vor mir zurückzuführen ist.
Die Gastfreundschaft darf kein Strohfeuer sein. Gewalt verändert Menschen, und hoffentlich verändert auch die Erfahrung des Willkommenseins die heute Betroffenen im guten Sinne.
+Peter Kohlgraf
Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 23. April 2022. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de