Literatur ist eine hervorragende Möglichkeit, die Themen der Zeit und der jeweiligen Kultur wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, von ihnen zu lernen oder eine eigene Position zu finden. Glaube ist immer „inkulturiert“, es gibt keinen Glauben, der von Zeit und Raum und den Erfahrungen der Menschen losgelöst ist. Die verschiedenen Bücher spiegeln die Vielfalt menschlicher Erfahrungen wider.
Vor einigen Wochen hat Papst Franziskus ein Schreiben über die Bedeutung der Literatur in der Bildung veröffentlicht. Dieser Brief hat zunächst die Ausbildung junger Menschen für das Priesteramt im Blick, ist aber auch ein Bekenntnis zur Bedeutung der Literatur für den Glauben und den Zugang zur Welt auch für alle gläubigen Menschen. Jeder soll seinen eigenen Zugang zur Literatur finden. Im Gegensatz zum Bildschirm hat der Leser, die Leserin eines Buches die Möglichkeit, selbst Bilder zu entwickeln, mit der eigenen Phantasie in eine Geschichte einzutauchen. Die Lebenserfahrungen der Literatur und der Lesenden treffen aufeinander. Es entstehen Übereinstimmungen, Fragen oder auch Ablehnung des Gelesenen.
Literatur ist eine hervorragende Möglichkeit, die Themen der Zeit und der jeweiligen Kultur wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, von ihnen zu lernen oder eine eigene Position zu finden. Glaube ist immer „inkulturiert“, es gibt keinen Glauben, der von Zeit und Raum und den Erfahrungen der Menschen losgelöst ist. Die verschiedenen Bücher spiegeln die Vielfalt menschlicher Erfahrungen wider. Literatur ist zweckfrei, sie will nicht erziehen oder auf eine bestimmte Meinung festlegen, auch wenn sie dazu befähigt, eigene Positionen zu beziehen. Das ist lebenswichtig in einer Zeit, in der Schnelligkeit, Ökonomie und Nützlichkeit vorrangige Kriterien sind. Wer Literatur liest, steigt aus der Schnelligkeit und dem Nützlichkeitsdenken aus. Wer liest, lernt, mit den Augen anderer zu sehen.
Zur Zeit lese ich Bücher von und über Franz Kafka anlässlich seines einhundertsten Todestages. Er selbst sagte von sich, er sei ganz Literatur gewesen. Das Schreiben war seine Existenz, so fasst es sein Biograph Rüdiger Safranski zusammen. In seinen Büchern und Geschichten erlebe er große Momente des Glücks, aber auch eine ihm völlig fremde Welt, so Safranski. Es ist lohnend, in seine oft verstörenden Geschichten einzutauchen. Sie sind Zeugnis einer nicht heilen Welt.
Vor einigen Jahren habe ich die großen Romane von Thomas Mann gelesen. Besonders der vierteilige Roman über den biblischen Josef hatte es mir angetan. Jetzt im November denke ich an die Szene, in der der biblische Josef bei dem sterbenden Potifar sitzt, dessen Knecht er war, wie es im Buch Genesis heißt. Josef spricht mit ihm über das Sterben. Und er formuliert den Gegensatz zwischen „Sterben müssen“ und „Sterben dürfen“, insofern jemand loslassen darf. Die Sprache ist überwältigend und übertrifft alle Predigten, die ich je zu diesem Thema gehalten oder gehört habe. Das ist nur ein Beispiel. Mich persönlich hat die Literatur immer wieder bewegt. Ich bin dem Papst dankbar, dass er diesen Horizont öffnet und Lust macht, selbst zu lesen.
// + Bischof Peter Kohlgraf
Einmal im Monat schreibt Bischof Kohlgraf die Kolumne „Perspektiven“ für das Magazin "Glaube und Leben".
Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 10.November. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf – 06131 253-451 oder E-Mail: RedaktionFML@bistumspresse.de