Die Erinnerung an den Menschen Jesus, der vor langer Zeit gelebt hat, ist für viele ein wichtiger Baustein der Hoffnung. Allein aus der Erinnerung wäre aber keine Bewegung geworden, die bis heute anhält und immer noch Menschen begeistert, sagt Pastoralreferentin Martina Patenge, in der hr2 Morgenfeier am Sonntag,14. Mai.
Die junge Nachbarin fragt, was ich beruflich gemacht habe. Schon Jahre wohnen wir in gegenüberliegenden Häusern. Aber jetzt erst ergibt es sich, dass wir ausführlicher miteinander sprechen: Wer wir sind und was wir so machen. So weit, so normal. Gespräche beginnen ja oft mit der Frage nach dem Beruf. Diesen Moment fürchte ich manchmal ein wenig. Weil ich nie weiß, was dann passiert. Zu sagen, dass ich Theologin bin und Seelsorgerin – das ist immer ein Griff in eine Blackbox. Muss ich wieder für alle Kirchenskandale geradestehen? Oder für den Zölibat? Oder wird sofort meine seelsorgerliche Kompetenz geprüft, indem ein fremder Mensch mir eigenes Leid anvertraut? In einem unglaublichen Vorschuss an Vertrauen?
Aber diesmal geht es anders weiter. Natürlich sage ich der Nachbarin, dass ich katholische Theologin bin und Seelsorgerin. Freudig greift sie das Thema auf: „Seelsorgerin – wie schön. Ich bin auch Seelsorgerin, ich bin ausgebildete muslimische Seelsorgerin“. Ich staune. Das hätte ich nicht erwartet.
In ihrer Glaubensgemeinschaft ist das allerdings ein Ehrenamt, erfahre ich. Ihren Lebensunterhalt verdient sie durch eine andere Tätigkeit. Das war bei mir anders. Seelsorgerin und Theologin war von Anfang an mein Brotberuf. Erst einmal sprechen wir über das Verbindende. Wie schön es ist, Seelsorgerin sein zu dürfen: anderen Menschen zuhören, sie begleiten, für ihre Nöte offen sein, über den Glauben sprechen. Ich sage das meistens so: Als Seelsorgerinnen stehen wir für Hoffnung, die von Gott kommt. Und die beginnt damit, dass wir uns menschlich aufmerksam begegnen. Das ist bei der muslimischen Seelsorgerin nicht anders als bei mir.
In unserem Nachbarinnen-Gespräch kommen wir aber erst einmal nicht weiter, das Gespräch reißt ab, weil andere Menschen dazukommen – wo es doch gerade noch interessanter geworden wäre. Was unterscheidet uns, das wäre ja auch eine wichtige Frage. Die läuft aber nicht weg. Wir können ja bald weiter sprechen. Denn ich möchte mehr darüber erfahren: Was ist eine muslimische Seelsorgerin, was tut sie, und wo? Was bedeutet ihr der Glaube? Und ich werde ihr davon erzählen, was mir wichtig ist an meinem Glauben. Das Gespräch mit meiner Nachbarin, der muslimischen Seelsorgerin, hat eine Frage ausgelöst: Was eigentlich ist mir wichtig an meinem Glauben? Was ist es, dass ich immer noch davon erfüllt bin – trotz aller Skandale, Katastrophen und all dem Unsäglichen, was die katholische Kirche zu Recht ins Schlingern bringt und fast zerreißt? Und wofür es vor Scham und Entsetzen eigentlich überhaupt keine Worte mehr gibt.
Ja, was ist es? Ein Satz aus der Bibel ist ein wichtiges Leitwort für mich geworden. Er steht im ersten Petrusbrief und wird heute in den katholischen Gottesdiensten vorgelesen. Dort heißt es: „(Schwestern und Brüder!) Heiligt in eurem Herzen Christus, den Herrn! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt…“ (1 Petr 3, 15)
Stets bereit, jedem Rede und Antwort stehen ...über die Hoffnung, die mich erfüllt…..als junge Frau habe ich das mit Feuer und Flamme getan. Ich war so erfüllt von meinem Glauben und von meinem Gott, dass ich darüber gar nicht hätte schweigen können. Und ich war gerne Mitglied der Katholischen Kirche. Da war so viel Gemeinschaft, die ich liebte: Mir ging einfach das Herz auf, wenn ich mit anderen zusammen war, die an Gott glauben. Gottesdienste waren für mich wichtige Orte, um Gott zu loben und Kraft zu tanken. Und es gab so viel, was ich mit anderen auf die Beine habe stellen können. Heute sind meine Töne leiser geworden. Das System Kirche hat sich in einer furchtbaren Weise schuldig gemacht. Und ich bin mir sicher, die Katastrophe ist noch nicht überstanden. Glaube, Vertrauen und Liebe wurden tausendfach mit Füßen getreten. Wie passt dazu noch ein Wort der Hoffnung? Diese Frage stellen sich unzählige Katholikinnen und Katholiken. Viele sind ratlos, wie sie sich verhalten sollen. Wenn wir Menschen ratlos sind, gibt es mindestens zwei Möglichkeiten zu reagieren: Wir können resignieren. Nichts mehr tun. Nicht mehr hinschauen. Aufgeben. Manchmal ist verständlich, dass jemand in einer bestimmten Situation aufgeben möchte. Die andere Möglichkeit ist: nicht aufgeben, sondern nach vorn schauen. Und das beginnt, so unsinnig sich das anhört, erst einmal damit, zurückzuschauen: Da war doch mal eine Ursprungsidee. Da hat es doch vorher Pläne und Hoffnungen gegeben. Also erst mal zurück zu den Wurzeln. Da war doch was! Und von dort vielleicht neu nach vorne.
Im Blick auf die Kirche heißt das: In all der Verunsicherung ist es wichtig, die Ursachen zu finden, Veränderungen einzurichten, Strukturen zu entwickeln, aufarbeiten. Das ist das Äußere. Notwendig und unumgänglich. Innerlich aber ist es genauso dringlich, den Blick darauf richten, wie das mit dem Glauben einmal angefangen hat. Zurück zu den Ursprüngen! Zurück zum Ursprung. Wer ist es, an den Christinnen und Christen glauben? Sie glauben nicht an das System Kirche, sondern an Gott, Jesus Christus und die heilige Geistkraft. Das ist die Wurzel. Auch meine Wurzel. Und genau darauf weist der kleine Text aus dem 1. Petrusbrief hin. Erst kommt die Betonung der Verbindung: Heiligt in eurem Herzen Christus, den Herrn! Dann folgt die Aufforderung: Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen...über die Hoffnung, die euch erfüllt.
Ich überlege, was das heißen könnte, „Christus, den Herrn, heiligen“. Im Alltag sagt man schon mal: Dieser Gegenstand ist mir heilig. Etwas löst besondere Erinnerungen aus oder ist mir aus anderen Gründen sehr lieb und wertvoll. Manchen ist ihr Mittagsschlaf heilig. Den darf niemand stören. Wenn mir was heilig ist, dann achte ich besonders darauf und schütze es. Es liegt mir am Herzen.Das Wort „heilig“ weist auch auf Göttliches hin. Etwas ist nicht alltäglich, sondern mit dem Himmel verbunden. „Etwas heiligen“ drückt besondere Ehrerbietung aus. „Heiligt in eurem Herzen Christus den Herrn“ könnte also bedeuten: IHN erkennen als von Gott, als wertvoll und besonders. Die Begegnung mit ihm schützen und ehren. Sich darin nicht stören lassen. Im 1. Petrusbrief in der Bibel steht, die Christinnen sollen in ihrem Herzen Christus heiligen, als wertvoll und besonders anerkennen. Was aber macht ihn so wertvoll und besonders? Jesus hat verschiedene Seiten. Da gibt es erst einmal den frommen jüdischen Wanderprediger Jesus. Von ihm erzählt die Bibel, und es wird seither von Generation zu Generation weitererzählt, auch noch nach zweitausend Jahren. Er hat Kranke geheilt, Trauernde getröstet, Hungernden zu Essen verholfen und Menschen am Rand der Gesellschaft ihre Würde wiedergegeben, so dass die einfachen Leute ihm scharenweise nachgelaufen sind, um ihn zu erleben. Manche verehren deshalb Jesus auch als Sozialrevolutionär.
Die Bibel erinnert weiter an Jesus, den aufmüpfigen Prediger. Manche der in Stein gemeißelten religiösen Regeln hat er in Frage gestellt und abgelehnt. Andere Regeln hat er verteidigt. Er hat immer die Frage gestellt, ob sie den Menschen helfen, mehr zu Gott zu finden oder eher nicht. Denn das wollte er: dass die Menschen in eine enge Beziehung zu Gott kommen. Er selbst hatte ein besonderes Verhältnis zu seinem Gott, hat sich als sein Sohn verstanden und erfahren – und blieb in dieser engen Beziehung, die den Weg durch den Tod bis zur Auferstehung zur Folge hatte. Dieses besondere Geschenk der Erlösung durch Tod und Auferstehung wird von den Christinnen auf der ganzen Welt als das größte Zeichen der Liebe gefeiert und gewürdigt. Es gibt also viele Seiten, die Menschen an Jesus Christus faszinieren. Sie alle gehören zusammen und machen seine Persönlichkeit und seine Bedeutung aus. Von der fühlen sich bis heute unzählige Menschen angesprochen, aufgeweckt und begeistert.
Wie kommt es, dass Jesus auch heute immer noch viele Menschen fasziniert – auch so lange nach seiner Lebenszeit? Momentan erlebe ich das ganz unschuldig und schön bei einer meiner Enkelinnen, fünf Jahre alt. Aus dem Kindergarten bringt sie Jesusgeschichten mit und hat dazu immer noch eine Frage und noch eine. Sie löchert mich manchmal regelrecht über Maria und Gott und Jesus. In meiner Wohnung gibt es natürlich auch Kreuze und religiöse Bilder und eine Menge Bücher zu religiösen Fragen. Auch Bilderbücher. Da wird sie aufmerksam und möchte mehr wissen. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, was sie so begeistert. Und warum. Ihre Geschwister reagieren nüchtern und sind nicht so interessiert. Aber sie ist von etwas angerührt. „Ich habe Jesus in meinem Herzen“ sagt sie. Vielleicht hat sie die Worte im Kindergarten gehört, mag sein. Aber ihr Kindergesichtchen strahlt, wenn sie das sagt. Und dann ist es mir natürlich ein Leichtes, ihr Interesse zu unterstützen, ihr aus der Kinderbibel vorzulesen und mit ihr darüber zu sprechen. In diesem Fall ist es ganz wunderbar einfach, von meiner Hoffnung „Rede und Antwort zu stehen“. Denn bei dem Kind fällt es derzeit auf guten Boden.
Mit der Nachbarin, der muslimischen Seelsorgerin, ist es ja auch leicht, weil wir eine Ebene teilen: Sie ist eine gläubige Frau, und ich auch. Auch wenn wir verschiedenen Religionsgemeinschaften angehören, wissen wir beide doch etwas davon, was glauben bedeuten kann. Es gibt allerdings Situationen, da ist das viel schwerer. Sich in einer desinteressierten oder sogar abweisenden Umgebung als gläubige Christin oder Christ zu outen, kostet manchmal etwas Mut. Christinnen und Christen müssen sich hierzulande nicht vor Verfolgung, beruflichen Nachteilen oder gesellschaftlichen Schwierigkeiten fürchten. Da haben es Christen in anderen Teilen dieser Erde unendlich viel schwerer, und ich habe sehr großen Respekt davor. Menschen aus den neuen Bundesländern haben erzählt, dass sie als Christen kein Abitur machen und deshalb nicht studieren konnten. Sie mussten schon als Jugendliche manche Lebenspläne begraben. Weil sie an Gott geglaubt und ihren Glauben sehr ernst genommen haben. Das sind richtig große Opfer gewesen. Und dann gibt es tatsächlich Christinnen und Christen in anderen Ländern dieser Erde, die sogar ihr Leben riskieren für ihren Glauben. Es sind ungeheure Lebenszeugnisse von Menschen, die trotz Bedrohung ihrem Glauben treu bleiben. Auch ohne Worte erzählen sie etwas vom Grund ihrer Hoffnung. Sie haben Jesus im Herzen. Daraus nehmen sie die Kraft.
Die Erinnerung an den Menschen Jesus, der vor langer Zeit gelebt hat, ist für viele ein wichtiger Baustein der Hoffnung. Allein aus der Erinnerung wäre aber keine Bewegung geworden, die bis heute anhält und immer noch Menschen begeistert. Menschen, die in seinem Sinn leben möchten. Mit Nächstenliebe, gegenseitiger Hilfe, Vertrauen auf Gott. Ebenso wichtig wie die Erinnerung ist die Begegnung mit dem auferstandenen Christus. Ihn so nah und präsent erleben und zu spüren: Er ist da. Tatsächlich. Er lebt in mir, auch wenn es kaum zu beschreiben ist. Wie meine Enkelin sagt: „Ich habe Jesus in meinem Herzen.“ Er ist nicht mehr räumlich da, aber er ist anders da, in Empfindungen, Gedanken, beim Beten, in Herzenseinfällen.
Ein Bibelwort aus dem Johannesevangelium formuliert das so:
Jesus sagt: „Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch. Nur noch kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch.“ (Joh 14,18-20)
„Ihr aber seht mich, weil ich lebe und auch ihr leben werdet!“ Sehen meint hier: Sehen mit den Augen des Herzens. Oder mit den Augen der Liebe. In die Tiefe sehen, und ihn, Jesus Christus, entdecken. Was bedeutet er für mich? Wie möchte ich in seinem Namen leben? Die innere Verbindung und Freundschaft spüren. So fühlt sich Begegnung mit dem Auferstandenen an: Jesus Christus ist auf eine neue Weise mit seinen Menschen verbunden. Das ist für viele Menschen Grund ihrer Hoffnung. Es ist auch der Grund meiner Hoffnung. Worauf aber richtet sich diese Hoffnung? Für mich ist das wunderbar ausgedrückt in dem Taizé-Lied: Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke mein Licht: Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau’ ich und fürcht’ mich nicht, auf dich vertrau’ ich und fürcht’ mich nicht. (Jacques Berthier, Taizé 1988)
Ich hoffe und vertraue darauf: Mein Leben liegt in Gottes Hand. Ich hoffe, dass Gott an meiner Seite geht. Ich hoffe auch und habe schon oft erfahren, dass mit Gottes Hilfe dunkle wie helle, lange wie kurze und mühsame wie leichte Wege möglich sind. Und ich bin nicht allein. Denn mit dieser Hoffnung sind viele auf dem Weg. Ich brauche diese Gemeinschaft. Weil wir uns gegenseitig stützen und ermutigen.
Das ist der Grund meiner Hoffnung: Auf ihn vertrau ich und fürchte mich nicht.