Vielleicht haben wir uns belogen über Jahre

Bischof Kohlgraf, pax christi Präsident (c) Bistum Mainz
Bischof Kohlgraf, pax christi Präsident
Datum:
25. Mai 2022
Von:
Interview Anja Weiffen/ Kirchenzeitung

Christliche Friedensethik. Was bleibt von den Visionen einer pazifistischen Grundhaltung in Zeiten des Angriffskriegs gegen die Ukraine? Die katholische Friedensbewegung pax christi steckt im Dilemma und diskutiert heftig über den richtigen Weg zwischen Krieg und Frieden. Der Präsident der deutschen Sektion von pax christi, Bischof Peter Kohlgraf, mahnt im Interview, die biblische Vision und das Vorbild Jesu nicht zu vergessen.

Herr Bischof Kohlgraf, Waffenlieferungen ja oder nein, diese Frage spaltet die Öf­fentlichkeit. Die Deutsche Bischofskonfe­renz hat sie als „grundsätzlich legitim“ bezeichnet. Mitglieder von pax christi kritisieren das. Als Bischof gehören Sie der Bischofskonferenz an und sind auch Präsident von pax christi. Was ist Ihre persönliche Meinung dazu?

Bischof Kohlgraf: Die kirchenamtlichen Stellungnahmen sagen klar: Ein Volk hat bei einem Angriffskrieg das Recht, sich ge­gen den Aggressor zu verteidigen. Das bleibt kirchliche Lehre. Das hat auch die Pastoralkonsti­tution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanums noch einmal bekräftigt.

Zur Botschaft von der Gewaltlosigkeit kann ich sagen: Po­litisch Verantwort­liche werden eine Lösung finden müssen, ihrem Volk eine sichere Zukunft in Freiheit zu ermögli­chen. Mit der Frage der Waffenlieferung verbinden sich viele Dilemmata. Bisher haben wir diskutiert, was schwere Waffen und was reine Verteidigungswaffen sind. Ich bin kein Experte, aber nach allem, was ich in den Medien lese, ist diese Un­terscheidung kaum zu treffen. Das heißt, mit jeder Waffe kann ich Menschen töten.

Auch einige Stimmen bei pax christi ste­hen dem Selbstverteidigungsrecht nicht völlig ablehnend gegenüber. pax christi betont aber, dass man auch andere Mög­lichkeiten stark machen müsse, also den sozialen Widerstand. Dieser spielt auch in der Ukraine eine Rolle, wenn ich das richtig einschätze. Aber die Gewalt ist so rabiat und sinnlos und gegen jedes Völkerrecht, dass ich fürchte: Allein mit sozialen Akti­onen kommt man tatsächlich nicht weiter.

In einer Stellung­nahme von pax christi ist von der Spirale der Gewalt die Rede, wenn man weiter Waffen liefert. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, der Krieg es­kaliert, wenn man nichts tut.

Was will Putin in diesem Krieg noch es­kalieren? Das Argument habe ich ganz am Anfang noch vertreten. Ich habe ge­sagt, man muss Wege finden, nicht zu einer weiteren Eskalation beizutragen. Aber die Verteidigung ist nicht das, was zur Eskalation führt. Vielmehr eskaliert die Gewalt durch den Angriff, durch die völlig rechtswidrige Vorgehensweise ge­gen Zivilbevölkerung, gegen zivile Ein­richtungen, gegen Krankenhäuser. Ganze Städte werden in Schutt und Asche ge­legt, ohne Rücksicht auf Verluste auch bei Frauen und Kindern.

Die Bedeutung von Friedensarbeit und von Stimmen wie pax christi und anderer pazifistischen Gruppen sehe ich vor allem darin, dass sie Kritik üben. Und zwar Kri­tik an einer Logik, die besagt: „Lasst uns Waffen liefern, lasst uns auch 100 Milli­arden frei machen für die Bundeswehr!“, ohne dass es wirklich eine gesellschaft­liche Debatte gegeben hat.

Sie meinen dieses Argument der Kriegs-rhetorik, dass plötzlich alle Waffenex­perten sind?

Mich überrascht, mit welcher Selbstver­ständlichkeit plötzlich eine Regierung bereit ist, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auszugeben. pax christi hält dem entgegen und verweist darauf: Es fließen sowieso jedes Jahr 50 Milliarden in die Bundeswehr. Das ist ja nicht nichts. Und diese 100 Milliarden werden nicht im Keller gedruckt. Das heißt, sie werden irgendwo fehlen. Die Frage ist, ob nicht auch die Friedens- und Menschenrechts­arbeit, die Sorge um die Armen in der Welt, auch in Deutschland, ob nicht auch andere Hilfsmaßnahmen darunter leiden.

Haben Sie nach drei Monaten Krieg auch einmal Ihre Meinung geändert?

Am Anfang habe ich noch sehr stark die­sen Gedanken vom zivilen Widerstand gegen die russischen Invasoren gehabt. Ich bin kein Experte, ich weiß auch nicht detailliert, was vor Ort los ist. Aber nach allem, was ich in der Zeitung lese, beein­druckt das die Angreifer nicht. Das ist ei­ne neue Erfahrung, dass Präsident Putin Verhandlungsbereitschaft offensichtlich nicht als ein Zeichen von Stärke sieht, son­dern Vorschläge für Kompromisse eher als ein Zeichen von Schwäche deutet.

Das, was in der Ukraine passiert, ist tat­sächlich auch in der friedensethischen Li­teratur so unvorstellbar und nicht „vorge­sehen“. Man hat die Idee, wann immer ein Krieg ausgelöst wird, hat man es mit nachvollziehbaren Motiven zu tun, sodass man über die Diplomatie in neue Verhandlungen kommt. Das ist im Mo­ment nicht absehbar.

Was die Dilemma-Si­tuation angeht: Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung einen Beitrag geschrie­ben. Er fragt unter ande­rem: Wenn man von ei­ner Atommacht bedroht wird, kann man dann von Sieg sprechen? Die Phase ist vorbei, in der wir völlig ausschließen, dass jemand eine Atomwaffe einsetzt.

Die Möglichkeit so eines Atomwaffenein­satzes steht ja im Raum …

Ab wann beginnen wir in Deutschland, für Putin Kriegspartei zu sein?

Etwa wenn wir ukrainische Soldaten ausbilden? Er würde nach allen Gründen suchen, um uns und andere Länder als Kriegspartei zu definieren. Das ist eine Dilemma-Situation, in der wir uns mög­licherweise schuldig machen und Putin Argumente liefern. Auf der anderen Seite: Ich kann mich auch schuldig machen, und ich werde mich schuldig machen, wenn ich sage: Um dieses Risiko zu umgehen, mache ich gar nichts. Oder ich schicke nur Lebensmittel. Das ist einfach eine derart verfahrene Situation, dass ich als Pax-Christi-Präsident sagen muss: Mich befällt wirklich eine gewisse Sprachlo­sigkeit.

Wir müssen auch noch einmal über die Rolle des Pazifismus nachdenken. Nicht dass ich dessen Sinn in Frage stelle, aber die Ziele müssen wir reflek­tieren. Ich glaube schon, dass wir uns als Frie­densbewegung dafür stark machen müssen, Perspektiven für eine Weltordnung nach dem Krieg zu erarbeiten. Wie werden wir in Zu­kunft Wirtschaftsbezie­hungen gestalten? Was heißt gerechter Friede? Und den Satz aus Gau­dium et Spes stark ma­chen: Frieden ist mehr als das Schweigen der Waffen. Dazu würde ich weiter stehen. Wenn wir auch immer ein bisschen belächelt wur­den im Kampf gegen die Atomwaffen: Das war keine Friedenssituation. Da bin ich ganz auf dem Boden des Zweiten Va­tikanischen Konzils, das gesagt hat, am Ende geht es um eine gerechte Weltord­nung und nicht nur um das Schweigen der Waffen. Davon waren wir weit entfernt.

Ein Volk hat das Recht, sich gegen einen Aggressor zu verteidigen.

Gerechter Friede“ – so heißt das Doku­ment der Deutschen Bischofskonferenz zur Friedensethik aus dem Jahr 2000. Dort wird auch das Thema Angriffskrieg erwähnt, dort steht klar, dass sich so ein Krieg nicht lohnen darf. Dass die Gegen­gewalt in diesem Ausnahmefall legitim ist, es wird sogar von Nothilfe gesprochen, also die Abwehr des Angreifers durch Dritte. Das machen wir ja gar nicht, wir unterstützen nur die Verteidigung des an­gegriffenen Landes. 

Das ist die Frage nach der Kriegspartei. Putin droht ausdrücklich mit einem Welt­krieg. Sobald wir Kriegspartei werden, ist das kein regional begrenzter Konflikt mehr zwischen Russland und der Ukra­ine. Das sagt Habermas sehr deutlich: Die Deutungshoheit liegt bei Putin, ob er sich von uns bedroht fühlt oder nicht.

Es fällt auf, dass im DBK-Dokument „Ge­rechter Friede“ der Ost-West-Konflikt ge­löst scheint. Müsste das Dokument nicht neu geschrieben werden? 

Vielleicht haben wir uns be­logen, über viele Jahre. Dass Putin nie ganz geheuer war, das konnte man wissen, und nicht erst seit dem 24. Februar 2022. Ich glaube, dass es viele auch gewusst haben, aber dachten: Durch Wirtschafts­verbindungen, freundliche Gespräche, durch Kontakte, durch Sport und Kulturmaß­nahmen, halten wir die ganze Sache in Frieden, auch die atomare Bedrohung.

Manche sagen, die kirchlichen Positionen zum Ukraine-Krieg sind zu weltlich aus­gerichtet. Es fehlten die biblischen Visi­onen und die messianische Friedenshoff­nung. Als Christen müssten wir einen „Mehrwert“ bieten. Was macht diese Friedenshoffnung aus? Wie kann man sie nicht nur einfordern, sondern auch danach leben? 

Diese Kritik finde ich richtig. Ich glaube, dass wir tatsächlich durch die biblische Sprache noch einmal eine andere Kate­gorie zu Krieg und Frieden haben als nur die Frage von Immanuel Kant – dass der Maßstab des Wollens zur allgemeinen Ge­setzgebung werden kann. Für mich ist es erstaunlich: Diese biblischen Visionstexte über den Frieden, – die Völkerwallfahrt, alle Völker kommen zusammen zum Fest­mahl, Schwerter zu Pflugscharen – ent­stehen in der Regel in Zeiten, in denen es nicht friedlich ist. Das heißt, da sit­zen nicht irgendwelche Leute am warmen Feuer und träumen von einer guten Welt. Es sind in der Regel Zeiten, in denen das Gottesvolk Israel auch politisch am Bo­den ist, bedrängt von den Großmächten Assur, Babel und Ägypten. Ein Punkt in so einer visionären biblischen Friedensbot­schaft ist: Auch der Feind bleibt als Feind Mensch. Ich muss ihn nicht umarmen, aber er bleibt Mensch mit seiner eigenen Würde.

Ich habe schon Zeugnisse von Men­schen aus der Ukraine gelesen, die gesagt haben: Wir lassen uns nicht durch den Hass die Seele zerstören. Auch das, finde ich, ist Größe. Auch das hat etwas von einer biblischen Vision. Menschen brau­chen Hoffnung auf die Kraft des Guten: Es lohnt, sich auch weiterhin für das Gute einzusetzen. Nicht nur für die Abwehr des Bösen. Wenn ich Hoffnung auf Frieden, auf Versöhnung ganz aufgebe, dann ist die Welt die Hölle.

Es gibt ein weiteres biblisches Bild, das einem einfällt: David gegen Goliath. Mili­tärische Stärke sagt noch nichts aus über den Erfolg eines Kampfes, entscheidend ist das Vertrauen in Gott oder in die Le­gitimität einer Sache. Spielt dieses Bild eine Rolle? Oder ist es kontraproduktiv? 

Es wird dann kontraproduktiv, wenn ich, wie der Patriarch Kyrill, religiöse Bot­schaften mit einem politischen Siegeswil­len verknüpfe. Das werde ich nicht tun dürfen. Dann werde ich den lieben Gott für meine politische Weltsicht gebrau­chen, missbrauchen. Ich glaube, dass wir heute so ein Buch wie das über David und Goliath ein Stück weit kritisch lesen.

Jesus hat das Thema Frieden und Gewalt weiterentwickelt hin zur Gewaltlosigkeit. Ist für Christen nur die „Faust in der Ta­sche“ angebracht?

Jesus hat für sich eine Entscheidung ge­troffen, und er hat in der Bergpredigt ge­sagt, was er letztlich von denen verlangt, die ihm nachfolgen: Das ist die Haltung der Gewaltlosigkeit. Zunächst ist das ei­ne Entscheidung, die ich für mich treffe. Ein Beispiel: Wenn ich durch die Fußgän­gerzone laufe und sehe, dass jemand mit einem Knüppel angegriffen wird, dann gründe ich ja keinen Gesprächskreis, son­dern gehe erst einmal dazwischen. Ich werde eine Form des Eingreifens wählen, die nicht völlig maßlos ist. Wenn jetzt die Ukrainer beginnen würden, genauso in Russland auf zivile Einrichtungen zu schießen, dann würde ich große Frage­zeichen setzen.

Und was kommt nach dem Krieg? Sie haben grundlegende Konzepte für eine Welt danach angesprochen.

Es beginnt bei ganz klaren materiellen Fragen: Wer hilft beim Aufbau? Wer un­terstützt die Menschen moralisch? Wer gibt ihnen Hoffnung? Wer sorgt dafür, durch Begleitung und Seelsorge, dass es eben nicht zu einer seelischen Verrohung kommt, was aufgrund traumatischer Er­fahrungen sein kann. Das sind Dienste, die wir leisten können. Auch die Unter­stützung von demokratischen Strukturen in so einem Land, damit es nicht selbst versucht ist, durch „straffe Führung“ in ein autoritäres System hineinzugeraten. In dieser Hinsicht hat der Pazifismus ei­nen Beitrag zu leisten.

Wir können zurückgreifen auf tolle Beispiele von Versöhnungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Etwa zwischen Deutschland und Frankreich, auch zwi­schen Deutschland und Russland. Das war ein Grund, warum pax christi sich erst einmal neu sortieren musste in der Einschätzung der Rolle Russlands in die­sem Krieg: Viele, die bei pax christi aktiv waren und sind, haben ihr Herzblut in diese Versöhnungsarbeit nach dem Zwei­ten Weltkrieg zwischen Deutschen und Russen investiert. Es ist schmerzhaft zu sehen, dass plötzlich Menschen in Russ­land von einem Diktator instrumentali­siert werden, dass Freundschaften und gewachsene Partnerschaften zerbrechen. Insofern gibt es Erfahrungen von Versöh­nung, auf die man hoffentlich wieder wird zurückgreifen können.

Trotzdem ist ein bestimmtes Bild von einer europäischen Ordnung und Welt­ordnung in Grund und Boden gebombt. Danach muss man sich neu sortieren. Was es vielleicht schwieriger macht: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Menschen, die sich ihrer christlichen Wurzeln bewusst waren, und es war ein Europa, das aus einer christlichen Haltung versucht hat, einen Neuanfang zu starten. Ich denke an die ersten großen Europa-Politiker. Die­se Einheit einer Werte-Gemeinschaft sehe ich nicht am Horizont.

Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 29. Mai 2022. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de

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