Christliche Friedensethik. Was bleibt von den Visionen einer pazifistischen Grundhaltung in Zeiten des Angriffskriegs gegen die Ukraine? Die katholische Friedensbewegung pax christi steckt im Dilemma und diskutiert heftig über den richtigen Weg zwischen Krieg und Frieden. Der Präsident der deutschen Sektion von pax christi, Bischof Peter Kohlgraf, mahnt im Interview, die biblische Vision und das Vorbild Jesu nicht zu vergessen.
Herr Bischof Kohlgraf, Waffenlieferungen ja oder nein, diese Frage spaltet die Öffentlichkeit. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sie als „grundsätzlich legitim“ bezeichnet. Mitglieder von pax christi kritisieren das. Als Bischof gehören Sie der Bischofskonferenz an und sind auch Präsident von pax christi. Was ist Ihre persönliche Meinung dazu?
Bischof Kohlgraf: Die kirchenamtlichen Stellungnahmen sagen klar: Ein Volk hat bei einem Angriffskrieg das Recht, sich gegen den Aggressor zu verteidigen. Das bleibt kirchliche Lehre. Das hat auch die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanums noch einmal bekräftigt.
Zur Botschaft von der Gewaltlosigkeit kann ich sagen: Politisch Verantwortliche werden eine Lösung finden müssen, ihrem Volk eine sichere Zukunft in Freiheit zu ermöglichen. Mit der Frage der Waffenlieferung verbinden sich viele Dilemmata. Bisher haben wir diskutiert, was schwere Waffen und was reine Verteidigungswaffen sind. Ich bin kein Experte, aber nach allem, was ich in den Medien lese, ist diese Unterscheidung kaum zu treffen. Das heißt, mit jeder Waffe kann ich Menschen töten.
Auch einige Stimmen bei pax christi stehen dem Selbstverteidigungsrecht nicht völlig ablehnend gegenüber. pax christi betont aber, dass man auch andere Möglichkeiten stark machen müsse, also den sozialen Widerstand. Dieser spielt auch in der Ukraine eine Rolle, wenn ich das richtig einschätze. Aber die Gewalt ist so rabiat und sinnlos und gegen jedes Völkerrecht, dass ich fürchte: Allein mit sozialen Aktionen kommt man tatsächlich nicht weiter.
In einer Stellungnahme von pax christi ist von der Spirale der Gewalt die Rede, wenn man weiter Waffen liefert. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, der Krieg eskaliert, wenn man nichts tut.
Was will Putin in diesem Krieg noch eskalieren? Das Argument habe ich ganz am Anfang noch vertreten. Ich habe gesagt, man muss Wege finden, nicht zu einer weiteren Eskalation beizutragen. Aber die Verteidigung ist nicht das, was zur Eskalation führt. Vielmehr eskaliert die Gewalt durch den Angriff, durch die völlig rechtswidrige Vorgehensweise gegen Zivilbevölkerung, gegen zivile Einrichtungen, gegen Krankenhäuser. Ganze Städte werden in Schutt und Asche gelegt, ohne Rücksicht auf Verluste auch bei Frauen und Kindern.
Die Bedeutung von Friedensarbeit und von Stimmen wie pax christi und anderer pazifistischen Gruppen sehe ich vor allem darin, dass sie Kritik üben. Und zwar Kritik an einer Logik, die besagt: „Lasst uns Waffen liefern, lasst uns auch 100 Milliarden frei machen für die Bundeswehr!“, ohne dass es wirklich eine gesellschaftliche Debatte gegeben hat.
Sie meinen dieses Argument der Kriegs-rhetorik, dass plötzlich alle Waffenexperten sind?
Mich überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit plötzlich eine Regierung bereit ist, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auszugeben. pax christi hält dem entgegen und verweist darauf: Es fließen sowieso jedes Jahr 50 Milliarden in die Bundeswehr. Das ist ja nicht nichts. Und diese 100 Milliarden werden nicht im Keller gedruckt. Das heißt, sie werden irgendwo fehlen. Die Frage ist, ob nicht auch die Friedens- und Menschenrechtsarbeit, die Sorge um die Armen in der Welt, auch in Deutschland, ob nicht auch andere Hilfsmaßnahmen darunter leiden.
Haben Sie nach drei Monaten Krieg auch einmal Ihre Meinung geändert?
Am Anfang habe ich noch sehr stark diesen Gedanken vom zivilen Widerstand gegen die russischen Invasoren gehabt. Ich bin kein Experte, ich weiß auch nicht detailliert, was vor Ort los ist. Aber nach allem, was ich in der Zeitung lese, beeindruckt das die Angreifer nicht. Das ist eine neue Erfahrung, dass Präsident Putin Verhandlungsbereitschaft offensichtlich nicht als ein Zeichen von Stärke sieht, sondern Vorschläge für Kompromisse eher als ein Zeichen von Schwäche deutet.
Das, was in der Ukraine passiert, ist tatsächlich auch in der friedensethischen Literatur so unvorstellbar und nicht „vorgesehen“. Man hat die Idee, wann immer ein Krieg ausgelöst wird, hat man es mit nachvollziehbaren Motiven zu tun, sodass man über die Diplomatie in neue Verhandlungen kommt. Das ist im Moment nicht absehbar.
Was die Dilemma-Situation angeht: Jürgen Habermas hat in der Süddeutschen Zeitung einen Beitrag geschrieben. Er fragt unter anderem: Wenn man von einer Atommacht bedroht wird, kann man dann von Sieg sprechen? Die Phase ist vorbei, in der wir völlig ausschließen, dass jemand eine Atomwaffe einsetzt.
Die Möglichkeit so eines Atomwaffeneinsatzes steht ja im Raum …
Ab wann beginnen wir in Deutschland, für Putin Kriegspartei zu sein?
Etwa wenn wir ukrainische Soldaten ausbilden? Er würde nach allen Gründen suchen, um uns und andere Länder als Kriegspartei zu definieren. Das ist eine Dilemma-Situation, in der wir uns möglicherweise schuldig machen und Putin Argumente liefern. Auf der anderen Seite: Ich kann mich auch schuldig machen, und ich werde mich schuldig machen, wenn ich sage: Um dieses Risiko zu umgehen, mache ich gar nichts. Oder ich schicke nur Lebensmittel. Das ist einfach eine derart verfahrene Situation, dass ich als Pax-Christi-Präsident sagen muss: Mich befällt wirklich eine gewisse Sprachlosigkeit.
Wir müssen auch noch einmal über die Rolle des Pazifismus nachdenken. Nicht dass ich dessen Sinn in Frage stelle, aber die Ziele müssen wir reflektieren. Ich glaube schon, dass wir uns als Friedensbewegung dafür stark machen müssen, Perspektiven für eine Weltordnung nach dem Krieg zu erarbeiten. Wie werden wir in Zukunft Wirtschaftsbeziehungen gestalten? Was heißt gerechter Friede? Und den Satz aus Gaudium et Spes stark machen: Frieden ist mehr als das Schweigen der Waffen. Dazu würde ich weiter stehen. Wenn wir auch immer ein bisschen belächelt wurden im Kampf gegen die Atomwaffen: Das war keine Friedenssituation. Da bin ich ganz auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils, das gesagt hat, am Ende geht es um eine gerechte Weltordnung und nicht nur um das Schweigen der Waffen. Davon waren wir weit entfernt.
Gerechter Friede“ – so heißt das Dokument der Deutschen Bischofskonferenz zur Friedensethik aus dem Jahr 2000. Dort wird auch das Thema Angriffskrieg erwähnt, dort steht klar, dass sich so ein Krieg nicht lohnen darf. Dass die Gegengewalt in diesem Ausnahmefall legitim ist, es wird sogar von Nothilfe gesprochen, also die Abwehr des Angreifers durch Dritte. Das machen wir ja gar nicht, wir unterstützen nur die Verteidigung des angegriffenen Landes.
Das ist die Frage nach der Kriegspartei. Putin droht ausdrücklich mit einem Weltkrieg. Sobald wir Kriegspartei werden, ist das kein regional begrenzter Konflikt mehr zwischen Russland und der Ukraine. Das sagt Habermas sehr deutlich: Die Deutungshoheit liegt bei Putin, ob er sich von uns bedroht fühlt oder nicht.
Es fällt auf, dass im DBK-Dokument „Gerechter Friede“ der Ost-West-Konflikt gelöst scheint. Müsste das Dokument nicht neu geschrieben werden?
Vielleicht haben wir uns belogen, über viele Jahre. Dass Putin nie ganz geheuer war, das konnte man wissen, und nicht erst seit dem 24. Februar 2022. Ich glaube, dass es viele auch gewusst haben, aber dachten: Durch Wirtschaftsverbindungen, freundliche Gespräche, durch Kontakte, durch Sport und Kulturmaßnahmen, halten wir die ganze Sache in Frieden, auch die atomare Bedrohung.
Manche sagen, die kirchlichen Positionen zum Ukraine-Krieg sind zu weltlich ausgerichtet. Es fehlten die biblischen Visionen und die messianische Friedenshoffnung. Als Christen müssten wir einen „Mehrwert“ bieten. Was macht diese Friedenshoffnung aus? Wie kann man sie nicht nur einfordern, sondern auch danach leben?
Diese Kritik finde ich richtig. Ich glaube, dass wir tatsächlich durch die biblische Sprache noch einmal eine andere Kategorie zu Krieg und Frieden haben als nur die Frage von Immanuel Kant – dass der Maßstab des Wollens zur allgemeinen Gesetzgebung werden kann. Für mich ist es erstaunlich: Diese biblischen Visionstexte über den Frieden, – die Völkerwallfahrt, alle Völker kommen zusammen zum Festmahl, Schwerter zu Pflugscharen – entstehen in der Regel in Zeiten, in denen es nicht friedlich ist. Das heißt, da sitzen nicht irgendwelche Leute am warmen Feuer und träumen von einer guten Welt. Es sind in der Regel Zeiten, in denen das Gottesvolk Israel auch politisch am Boden ist, bedrängt von den Großmächten Assur, Babel und Ägypten. Ein Punkt in so einer visionären biblischen Friedensbotschaft ist: Auch der Feind bleibt als Feind Mensch. Ich muss ihn nicht umarmen, aber er bleibt Mensch mit seiner eigenen Würde.
Ich habe schon Zeugnisse von Menschen aus der Ukraine gelesen, die gesagt haben: Wir lassen uns nicht durch den Hass die Seele zerstören. Auch das, finde ich, ist Größe. Auch das hat etwas von einer biblischen Vision. Menschen brauchen Hoffnung auf die Kraft des Guten: Es lohnt, sich auch weiterhin für das Gute einzusetzen. Nicht nur für die Abwehr des Bösen. Wenn ich Hoffnung auf Frieden, auf Versöhnung ganz aufgebe, dann ist die Welt die Hölle.
Es gibt ein weiteres biblisches Bild, das einem einfällt: David gegen Goliath. Militärische Stärke sagt noch nichts aus über den Erfolg eines Kampfes, entscheidend ist das Vertrauen in Gott oder in die Legitimität einer Sache. Spielt dieses Bild eine Rolle? Oder ist es kontraproduktiv?
Es wird dann kontraproduktiv, wenn ich, wie der Patriarch Kyrill, religiöse Botschaften mit einem politischen Siegeswillen verknüpfe. Das werde ich nicht tun dürfen. Dann werde ich den lieben Gott für meine politische Weltsicht gebrauchen, missbrauchen. Ich glaube, dass wir heute so ein Buch wie das über David und Goliath ein Stück weit kritisch lesen.
Jesus hat das Thema Frieden und Gewalt weiterentwickelt hin zur Gewaltlosigkeit. Ist für Christen nur die „Faust in der Tasche“ angebracht?
Jesus hat für sich eine Entscheidung getroffen, und er hat in der Bergpredigt gesagt, was er letztlich von denen verlangt, die ihm nachfolgen: Das ist die Haltung der Gewaltlosigkeit. Zunächst ist das eine Entscheidung, die ich für mich treffe. Ein Beispiel: Wenn ich durch die Fußgängerzone laufe und sehe, dass jemand mit einem Knüppel angegriffen wird, dann gründe ich ja keinen Gesprächskreis, sondern gehe erst einmal dazwischen. Ich werde eine Form des Eingreifens wählen, die nicht völlig maßlos ist. Wenn jetzt die Ukrainer beginnen würden, genauso in Russland auf zivile Einrichtungen zu schießen, dann würde ich große Fragezeichen setzen.
Und was kommt nach dem Krieg? Sie haben grundlegende Konzepte für eine Welt danach angesprochen.
Es beginnt bei ganz klaren materiellen Fragen: Wer hilft beim Aufbau? Wer unterstützt die Menschen moralisch? Wer gibt ihnen Hoffnung? Wer sorgt dafür, durch Begleitung und Seelsorge, dass es eben nicht zu einer seelischen Verrohung kommt, was aufgrund traumatischer Erfahrungen sein kann. Das sind Dienste, die wir leisten können. Auch die Unterstützung von demokratischen Strukturen in so einem Land, damit es nicht selbst versucht ist, durch „straffe Führung“ in ein autoritäres System hineinzugeraten. In dieser Hinsicht hat der Pazifismus einen Beitrag zu leisten.
Wir können zurückgreifen auf tolle Beispiele von Versöhnungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Etwa zwischen Deutschland und Frankreich, auch zwischen Deutschland und Russland. Das war ein Grund, warum pax christi sich erst einmal neu sortieren musste in der Einschätzung der Rolle Russlands in diesem Krieg: Viele, die bei pax christi aktiv waren und sind, haben ihr Herzblut in diese Versöhnungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschen und Russen investiert. Es ist schmerzhaft zu sehen, dass plötzlich Menschen in Russland von einem Diktator instrumentalisiert werden, dass Freundschaften und gewachsene Partnerschaften zerbrechen. Insofern gibt es Erfahrungen von Versöhnung, auf die man hoffentlich wieder wird zurückgreifen können.
Trotzdem ist ein bestimmtes Bild von einer europäischen Ordnung und Weltordnung in Grund und Boden gebombt. Danach muss man sich neu sortieren. Was es vielleicht schwieriger macht: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Menschen, die sich ihrer christlichen Wurzeln bewusst waren, und es war ein Europa, das aus einer christlichen Haltung versucht hat, einen Neuanfang zu starten. Ich denke an die ersten großen Europa-Politiker. Diese Einheit einer Werte-Gemeinschaft sehe ich nicht am Horizont.
Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 29. Mai 2022. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de