Sind wir Menschen von Natur aus religiös? Der heutige Weltreligionstag lädt ein, darüber nachzudenken. Dieser Gedenktag möchte aber auch darauf aufmerksam machen, dass in vielen Ländern der Erde das Recht auf freie Religionsausübung immer noch nicht oder nur sehr eingeschränkt verwirklicht ist – der Weltverfolgungsindex macht das deutlich. Es braucht gute Beispiele, bei denen Religionen und Konfessionen sich miteinander für dieses Recht einsetzen. Pastoralreferentin Stephanie Rieth aus Mainz erzählt heute davon.
Heute ist Weltreligionstag – und vielleicht geht es Ihnen so wie mir: Mir war gar nicht bewusst, dass es diesen Gedenktag gibt. Im Jahr 1950 wurde er von der Religionsgemeinschaft der Bahai in den USA eingeführt und wird seitdem jedes Jahr Mitte Januar begangen. Mich bewegen zwei Gedanken zu diesem Tag. Eine These ist vielleicht
ein bisschen steil: Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus religiös ist. Ich will damit ganz sicher niemandem zu nahetreten, niemanden vereinnahmen, aber mir begegnet das immer wieder: Menschen, die sich selbst als nicht-religiös bezeichnen, spüren doch an bestimmten Knotenpunkten des Lebens, in existentiellen Situationen, dass da mehr ist als die gegenständliche Realität der Dinge, die uns umgeben.
Besonders deutlich wird das, wenn Menschen sterben. Ein Bestatter hat mir einmal erzählt, dass es manchmal schwierig wird, wenn freie Trauerredner eine Beerdigungsansprache halten. Da ist einerseits die tiefe Trauer, die Menschen danach fragen lässt: „Was kommt jetzt?“ oder: „Das kann doch nicht alles gewesen sein?“ Und dann sind da die Aufgabe und die Not des Trauerredners, hier etwas Sinnstiftendes und Tröstliches zu sagen, mitzugeben. Und oft - so erlebt es der Bestatter - wird das Wort Gott dabei fast schon krampfhaft vermieden.
Offenbar erlebt sich der Mensch in solchen Situationen als jemand, der sich selbst nicht genug ist und Fragen hat, auf die es Antworten ganz anderer Art braucht.
„Sehnsucht nach dem Oben“, so hat es Christian Schüle ausgedrückt, der Autor eines Artikels, der 2012 in der „ZEIT“ erschienen ist. Und er hat es gar nicht nur religionswissenschaftlich oder gar theologisch begründet. Er geht sogar so weit zu sagen: „Der Mensch glaubt, weil er gar nicht anders kann, als zu glauben“ und führt dafür die Forschung von Naturwissenschaftlern an. Der britische Psychoanalytiker John Bowlby bescheinigt dem Menschen in seiner sogenannten Bindungstheorie, von Geburt an ein Bedürfnis nach Beziehung zu haben. Der amerikanische Evolutionspsychologe Lee Kirkpatrick hat diese Theorie dann auf die Religiosität von Menschen übertragen. Glaube ist demnach die Suche nach der Beziehung zu dem, was über mich hinausweist. Dem kann ich viel abgewinnen. Auch ich erlebe das so, erlebe mich so: Ich stehe andauernd in Verbindung: zu anderen Menschen, zur Welt, die mich umgibt, zu Ereignissen und Erlebnissen, zu meiner eigenen Geschichte. Und bei der Frage nach dem tieferen Sinn von alledem entdecke ich, dass ich den nicht alleine in mir selbst finde.
Der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat ein schönes Gedankenbild von Gott und vom Menschen. „Gott ist das große Du“, sagt er. Gott selbst ist also einer, der in Beziehung tritt - mit uns Menschen, mit der Welt. Und über den Menschen sagt er: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Ohne das Du, ohne die Beziehung zum anderen, gibt es das Ich nicht - eine starke These.
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„Der Mensch wird am Du zum Ich“, so formulierte es Martin Buber. Für mich kommt darin zum Ausdruck: Der Mensch ist einer, der sich nicht selbst genügt, der in Beziehung steht und immer über sich hinausdenkt, sucht und fragt.
Für die einen ist die Antwort auf diese Fragen Gott, für andere Jesus Christus, für wieder andere Allah oder eine Naturgottheit oder aber das Eingebunden-Sein in einen Kreislauf des Lebens. Viele Religionen mit vielen Antwortentwürfen für die Sinnfragen von uns Menschen. Entwürfe, die uns dabei helfen können, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Und zwar ganz konkret und praktisch. Mein Glaube gibt mir Heimat, aber auch Halt und Orientierung in den unterschiedlichen Stationen auf meinem Lebensweg: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, aber auch beim Tod von geliebten Menschen.
Und das Gute daran: Keiner hindert mich, dies so zu sehen und zu leben.
Und damit komme ich zum zweiten Gedanken, der mir heute am Tag der Weltreligionen wichtig ist: Mit all den Möglichkeiten, ein religiöser Mensch sein zu dürfen, bin ich tatsächlich privilegiert.
In mindestens 50 Ländern dieser Welt wäre ich gefährdet oder hätte Repressalien zu befürchten, wenn ich meinen Glauben offen bekenne oder gar lebe.
Open Doors ist ein Hilfswerk, das sich verfolgten Christinnen und Christen widmet. Es erstellt seit dem Jahr 2002 den sogenannten Weltverfolgungsindex. Jährlich werden die 50 Länder aufgelistet, in denen die Verfolgung von Christinnen und Christen am schwerwiegendsten ist. Im Jahr 2022, nach der Machtergreifung durch die Taliban, hat Afghanistan Nord-Korea an der Spitze dieser Liste abgelöst.
Aber auch Somalia, Iran, Indien, China, Katar und Vietnam sind unter diesen Ländern.
Klar, hier liegt der Fokus auf verfolgten Christinnen und Christen, aber das hilft tatsächlich auch bei der Einschätzung bezüglich anderer Religionen. Denn meist ist in den Ländern auf dem Weltverfolgungsindex das politische Klima so, dass auch andere Minderheiten - im religiösen oder gesellschaftlichen Sinn - unter den gleichen Repressalien zu leiden haben. An all diese Menschen denke ich heute.
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Menschen, die zu einer Minderheitenreligion gehören und deswegen verfolgt werden, denen widmet sich der heutige Weltreligionstag.
Er möchte die Situation ins Bewusstsein rufen, dass es immer noch Länder gibt, in denen es nicht möglich ist, seine Religionszugehörigkeit frei zu wählen.
Todesdrohungen, Mord, Gefängnis, Enterbung, Gewalt, Verstoßung und Kontrolle - das sind nur einige Beispiele dafür, was es bedeutet, in diesen Ländern zu einer Minderheit zu gehören oder eben einer Religion anzugehören, die nicht opportun ist. Die Auswirkungen zeigen sich im Privat- und Familienleben genauso wie im gesellschaftlichen Leben und in der staatlichen Organisation.
Selbst wenn man der Ansicht widersprechen mag, dass der Mensch von Natur aus religiös ist: Das Recht auf Religionsfreiheit ist ein fester Bestandteil der Menschenrechte, wenn dies auch in vielen Ländern sehr eigenwillig ausgelegt und in manchen schlicht ignoriert wird.
Es bleibt noch viel zu tun, bis das Recht auf Religionsfreiheit und damit auch der Schutz von Minderheiten wirklich umgesetzt ist - und am wichtigsten scheint mir, dass die Religionen dies zur gemeinsamen Aufgabe machen.
Es gibt gute Beispiele, wo genau dies versucht wird.
Gestern hat das 23. Internationale Bischofstreffen zur Solidarität mit den Christen im Heiligen Land begonnen. Holy Land Coordination nennt sich der weltweite Zusammenschluss auf Bischofsebene. Auch wenn sich Israel und die Palästinensergebiete nicht unter den schlimmsten 50 Ländern bezüglich der Christenverfolgung befinden: Auch dort unterliegt die Religionsfreiheit im Alltag spürbaren Einschränkungen. Hier treffen sich die Bischöfe, gemeinsam mit den Bischöfen der Ostkirchen. Sie wollen vor allem und zuerst den Menschen in den Palästinensergebieten und in Israel begegnen, ihnen zuhören, ihnen beistehen. Indem sie die Situation und die Schicksale der Menschen dort publik machen, setzen die Bischöfe mit ihrem Besuch ein deutliches Zeichen. Dabei gehen sie auch in den Kontakt mit Verantwortlichen auf staatlicher und behördlicher Ebene.
Ich wünsche den Bischöfen in den nächsten Tagen viele Begegnungen, die dabei helfen, Schicksale zu wenden und die Situation zum Guten zu verändern. Und gut wäre es, wenn das Heilige Land wirklich ein heiliges Land vieler sein könnte. Wenn gerade hier gelebter Friede zwischen den Religionen sein könnte. Was hätte das für eine Ausstrahlung?
Ich freue mich, in einem Land leben zu dürfen, in dem ich zwar manchmal schräg angeschaut werde, vielleicht auch hin und wieder nicht für voll genommen werde, aber dennoch meinen Glauben leben darf, zu meinem Glauben stehen darf und ihn sogar zu meinem Beruf machen darf.
Meiner Kirche gegenüber darf und muss ich auch kritisch sein, wo sie Ihren Auftrag verfehlt und verstellt. Aber ich darf auch mit anderen und für andere wirksam sein - und oft erlebe ich: Meinen Glauben zu leben, das macht mein Leben sinnvoll. Und für dieses Privileg bin ich dankbar – heute am Weltreligionstag.