„Wie geht mutiges Weglassen?“

Wagner-Erlekam_IMG_6692_quadrat (c) privat
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Datum:
23. Okt. 2023
Von:
Interview: Anja Weiffen, Kirchenzeitung

Seelsorge ist eine zentrale Aufgabe der Kirche. Die Ressourcen dafür aber werden weniger, sprich Geld und Personal. Seit Mai ist Michael Wagner-Erlekam Seelsorgedezernent. Welche Antworten hat er auf diese Herausforderungen?

Herr Wagner-Erlekam, die Zahl der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird sich im Bistum weiter reduzieren. Zugleich muss gespart werden. Wie ist die Lage?

Zunächst ist es ein Faktum, dass wir in der Seelsorge sowohl in der Gemeindepastoral als auch in manchen kategorialen Diensten bis 2030 rund 40 Prozent weniger pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben werden. Dadurch tritt ein Spareffekt ein, den wir eigentlich gar nicht wollen. Wir werden daher nicht mehr in der Lage sein, alle bisherigen seelsorglichen Dienste aufrechtzuerhalten.
Wenn ich für ein konkretes Krankenhaus oder in einer Gemeinde keine Seelsorgerin habe, ist da keine. Dann kann man vielleicht noch überlegen: Kann die Seelsorge in diesem Krankenhaus in gewisser Weise durch die Kolleginnen und Kollegen der Pfarrei gewährleistet werden? Aber auch dort wird es weniger Personal geben. Oder das Beispiel Telefonseelsorge. Da sind ganz wenige Hauptamtliche tätig, die mit vielen gut ausgebildeten Ehrenamtlichen diesen Dienst tun. Wenn wir hier hauptamtliche Stellen nicht besetzen können, die die ehrenamtlichen Teams qualifizieren und begleiten, können wir diesen Dienst nicht fortführen.
Bei anderen Diensten hingegen mit einer insgesamt größeren Zahl an hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, wie etwa in der Krankenhaus- oder Altenheimseelsorge, bedeutet dies nicht Wegfall des Dienstes an sich. Darüber hinaus gibt es Bereiche in der Seelsorge, die staatlich größtenteils refinanziert sind wie etwa in der Gefängnis- oder in der Polizeiseelsorge. Hier hat der Staat ein großes Interesse, dass die Kirchen diese Dienste wahrnehmen.

Welche Antworten haben Sie auf die geschilderte Situation?

Einerseits brauchen wir eine sich weiterentwickelnde Ehrenamtskultur, bei der die Menschen aufgrund von Taufe und Firmung ihre Charismen bereit sind einzubringen. Bei den Hauptamtlichen ändert sich die Rolle von Seelsorgern dahingehend, dass sie vor allem die Ehrenamtlichen begleiten und unterstützen, Charismen entdecken, ehrenamtliches Engagement ermöglichen und fördern.
Natürlich braucht es auch professionelle Seelsorge vor allem in Krisensituationen. Das alles wissen wir im Grunde seit mehr als 30 Jahren, aber es hat sich noch nicht so viel verän- dert. Die Frage ist, wie die Rollenänderung bei den Hauptamtlich gelingt – gemeinsam mit den Menschen. Und ob es gelingt, noch mehr die Charismen aller Getauften zu entdecken und für die Menschen fruchtbar werden zu lassen.
Welche Schwerpunkte sollen angesichts von notwendigen Sparmaßnahmen in der Seelsorge gesetzt werden?

Wir haben versucht, die pastoralen Grundaufgaben nach den Grundvollzügen (Caritas, Katechese, Gottesdienst, Gemeinschaft) sowie nach den Optionen des Pastoralen Wegs zu benennen. Auch das sind jeweils weite Felder. Nehmen wir das Beispiel Beerdigungen: Wir gehen davon aus, dass künftig fast alle pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeindeseelsorge den Beerdigungsdienst wahrnehmen. Andere Bistümer qualifizieren bereits Ehrenamtliche, die Trauerfeiern leiten.
Es braucht weiterhin die professionellen Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeinderefe- renten, aber sie werden nicht mehr alles wie bisher machen können. Vor allem sollten wir uns an der Grundfrage orientieren: Was brauchen die Menschen? Genauso: Was sind Kernaufgaben der Kirche und was nicht? Was ist meine Rolle als Hauptamtlicher im Blick auf Ehrenamtliche? Hier braucht es teilweise ein Umdenken, auch um Überlastung zu ver- meiden.

Wie geht das Dezernat mit Überlastungen um, gerade in größeren pastoralen Räumen?

Müssen wir denn alles Bisherige aufrechterhalten? Wie geht mutiges Weglassen? Nicht im Sinne eines Radikalschlags, sondern in nüchterner Überlegung. Das ist eine der am schwersten zu beantwortenden Fragen. Es geht künftig besonders um das gemeinsame Wahrnehmen von Verantwortung, um wirkliche Teamarbeit. In den neuen Pfarreien wird es auch andere hauptamtliche Verantwortungsträger neben dem Pfarrer geben, die Koordina- torin oder den Koordinator, die Verwaltungsleitung wie auch das übrige Team der Hauptamtlichen.
Und ehrenamtliche Verantwortungsträger. In den Gemeinden können künftig sogenannte Gemeindeteams Mitverantwortung übernehmen: Ehrenamtliche erhalten eine Qualifikation und wirken am seelsorglichen Auftrag des Teams der Hauptamtlichen mit. Hier stehen wir aber erst am Anfang.
Ein Letztes, was gegen Überforderungen helfen kann, ist ein tiefes geistliches Fundament im Glauben. Ein geistliches Leben. Das ist individuell. Dazu gehört die stetige Vergewisserung: Wozu sind wir als Kirche da?

Wie wollen Sie den letztgenannten Punkt stärken?

Strukturell versuchen wir durch das neue Institut für Spiritualität Akzente in der Mitarbeitenden- Seelsorge zu setzen und für Haupt- und Ehrenamtliche etwas zu schaffen, womit sie unterstützt werden. Hier haben wir nicht gespart, sondern eher ausgebaut.
Zurück zur Frage: Was brauchen Menschen von der Kirche?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Jeder Mensch braucht individuell etwas anderes. Menschen suchen Deutungsangebote aus dem Glauben für ihr Leben. Manche brauchen jemanden, der oder die zuhört. Andere brauchen besonders die geistliche Musik oder geistliche Begleitung, in schwierigen Situationen Beistand. Andere brauchen Gemein- schaft oder gut gestaltete Gottesdienste mit wirklich anregenden, tiefgründigen Predigten.

Die Aufgabe eines Seelsorgenden ist also, erst einmal herauszufinden, was ein Mensch braucht?

Genau. Und nicht von vornherein zu wissen, was jemand braucht. „Was willst Du, dass ich Dir tun soll?“ hat Jesus gefragt. Kann ich mich als Seelsorgender darauf einlassen, was Menschen von mir als Vertreter der Kirche erwarten? Menschen in einer gleichge- schlechtlichen Beziehung brauchen, wenn sie auf Seelsorgende zukommen, zunächst Akzeptanz und einen sensiblen Umgang mit ihrer Lebensform. Die Frage nach einem Ritual, wie eine Segensfeier, stellt sich möglicherweise erst in einem weiteren Schritt.
Oder die Ehevorbereitung: Die meisten Paare wollen einfach den Segen Gottes für den gemeinsamen Lebensweg. Die wenigsten haben eine Idee davon, was ein Sakrament ist, das erschließen wir dann mit ihnen gemeinsam.
Auch geht es darum, grobe Fehler zu vermeiden. Es reicht nicht, ein Trauergespräch zehn Minuten am Telefon zu führen. Stichwort „Qualität in der Seelsorge“ – das sehe ich als die Herausforderung für das Dezernat Seelsorge in den kommenden Jahren. Zunächst müssen Qualitätsstandards beschrieben werden. Das bekommen wir wohl zügig hin.
Aber wie gelingt eine nachhaltige Qualitätsentwicklung und -sicherung in der Seelsorge? Das mag sich seltsam anhören. Ich komme aus der Qualitätsentwicklung im pastoralen Feld der Kindertagesstätten. Hier gibt es Audits, systematische Überprüfungen. Wie kommen wir auch in der Seelsorge zu einer wohlwollenden Rückmeldekultur, auch strukturell? Es gibt aber auch ganz einfache Mittel für eine gute Qualität in der Seelsorge: zuhören, da sein, zugewandt sein, authentisch sein. Das machen ja auch viele Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge bereits in angemessener Weise. Wenn das beherzigt wird, ist schon viel getan.
Interview: Anja Weiffen


zur Person

Michael Wagner-Erlekam

Michael Wagner-Erlekam (Jahrgang 1961) wurde in Sprendlingen/Rheinhessen geboren. Nach Abitur und Zivildienst studierte er in Mainz Katholische Theologie. Nach dem Pastoralkurs wurde er Assistent von Weihbischof Wolfgang Rolly (1991 bis 1997). Anschließend ging er als Pastoralreferent in die Gemeindepastoral der Pfarrei St. Cosmas und Damian in Gau-Algesheim und den Pfarreienverbund Gau-Algesheim. 2012 wechselte er zum Diözesancaritasverband als Referent für die Kindertagesstätten im pastoralen Raum. Seit 2020 ist er im Seelsorgedezernat tätig, zunächst als Bereichsleiter „Pastorale Räume und Vollzüge“, von 2021 an als stellvertretender Dezernent. Seit Mai leitet er das Dezernat Seelsorge. Michael Wagner-Erlekam ist verheiratet und hat zusammen mit seiner Frau vier Kinder. (mbn)

Diesen Artikel und noch viel mehr lesen Sie in der neuesten Ausgabe von Glaube und Leben vom 22. Oktober 2023. Gibt's was Neues bei Ihnen, lassen Sie es uns wissen! Anruf - 06131/28755-0 - oder E-Mail: info@kirchenzeitung.de

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