Wissenschaft nicht ignorieren

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Bischof Peter Kohlgraf
Datum:
3. Feb. 2021
Von:
Bischof Kohlgraf in "Glaube und Leben"

Nicht wenige Menschen sind homosexuell veranlagt. Das weiß auch der Katechismus. Aber was ist, wenn gleichgeschlechtliche Paare sich segnen lassen wollen? Bischof Peter Kohlgraf gibt im „Wort des Bischofs“ eine Antwort

In diesen Monaten der Corona-Pandemie lernen wir viel über die Arbeit von Wissenschaftlern. Wir können verfolgen, dass Wissenschaft keine Dogmen formuliert, sondern immer neu nach Antworten sucht. Wissenschaft ist Theoriebildung, mit deren Hilfe dann Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden müssen. „Ich glaube an die Wissenschaft“ ist daher ein wenig intelligenter Satz.
Dennoch können wir als Kirche Erkenntnisse der Wissenschaften nicht ignorieren, seien sie teilweise auch vorläufig. Vor einigen Monaten haben mehrere Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz eine wissenschaftliche Tagung veranstaltet. Thema war die sexuelle Orientierung von Menschen in humanwissenschaftlicher und theologischer Sicht. Bei der Tagung haben auch zwei Sexualmediziner Vorträge gehalten. Die Medizin urteilt nicht, sie beschreibt. Die beiden Mediziner berichteten unter anderem, dass es keineswegs wenige Menschen sind, die gleichgeschlechtlich empfinden, und sie wiesen darauf hin, dass Homosexualität auch in der Tierwelt ein relevantes Phänomen ist.
Wie damit umgehen? Mich beschäftigen die Themen der Tagung weiterhin. Sind Menschen, die homosexuell empfinden, mangelhaft geschaffen? Hat Gott sich in seiner Schöpfungsordnung vertan? Homosexualität kommt ja offenbar in der Schöpfung vor. Nicht wenige Menschen, die homosexuell empfinden, gehören zur Kirche und sind im besten Sinn wirklich fromm. Ich tue mich schwer mit der Vorstellung eines Fehlers in der Schöpfungsordnung. Oder zeigt sich hier eine Variante in der Vielfalt der Schöpfung, die einfach so ist?

Wie gehe ich als Bischof damit um? Will ich das gar nicht wissen?

Die Bibel macht klare Aussagen für unsere kirchliche Bewertung menschlicher Sexualität: Die sakramentale Ehe ist die Verbindung zwischen Mann und Frau auch mit der Offenheit für Nachkommenschaft. Dazu stehe ich als katholischer Bischof. Ich schaue in den Katechismus und nehme seine Aussagen ernst. Dort heißt es, dass nicht wenige Menschen homosexuell veranlagt sind (Nr. 2358). Und es heißt weiter (Nr. 2357), dass Homosexualität „in verschiedenen Zeiten und Kulturen in sehr wechselhaften Formen“ auftritt. Diese Aussage lässt bei mir die Frage aufkommen: Heißt das nicht auch, dass die Bewertung sich ändern kann? Dagegen steht die Aussage, dass homosexuelle Handlungen „in sich nicht in Ordnung sind“. Den Betroffenen ist mit „Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen.“ (Nr. 2358). Wie zeigen sich in unserer Kirche dieser Takt und diese Achtung? Wie ist das mit Mitleid? Mitleid kann herablassend wirken. Reicht es, das Bekenntnis abzulegen, dass irgendwie alle Kinder Gottes seien? Die Forderung nach Keuschheit: Was bedeutet sie aus der Perspektive von Menschen, die homosexuell empfinden? Ich denke, dass nur wenige diese Forderung als taktvoll und respektvoll wahrnehmen, denn – wie auch der Katechismus weiß – ist diese Neigung nicht selbst gewählt. Das Thema insgesamt hat in den Debatten unter Katholiken eine Schärfe gewonnen, über die ich mich wundere.
Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das Beispiele liturgischer Segensfeiern vorstellt, die unter anderen gleichgeschlechtlichen Paaren von Seelsorgern angeboten wurden (Stefan Diefenbach und andere, Paare. Riten. Kirche, Paderborn 2020). Mitarbeiter unseres Ordinariats wirkten an dem Projekt mit, ich habe die Veröffentlichung des Buches befürwortet. Das Buch wertet nicht, es sammelt Beispiele aus der Praxis.

Wie gehe ich als Bischof damit um? Will ich das gar nicht wissen? Denn die Beispiele sind zumeist gegen die kirchliche Ordnung. Aber es gibt sie und wird sie weiter geben. Ist es Aufgabe des Bischofs, nicht hinzuschauen? Die Beispiele sind aus vielen Diözesen. Oder schreite ich ein? Aber die Feiern haben stattgefunden. Kann ich als Bischof einen Segen rückgängig machen? Will ich derart viel zartes Porzellan bei glaubenden Menschen zerbrechen? Mir erscheint dies wenig sinnvoll. Die Segensfeiern sind entstanden aus der seelsorglichen Begleitung der betroffenen Menschen. Die meisten sind weder Formulare, die der kirchlichen Trauung nachgebildet sind, noch wollen sie eine Einheitsliturgie entwickeln. Seelsorgerinnen und Seelsorger haben Menschen begleitet und über das Gute ihres Lebens den Segen gesprochen.
Nein, ich plädiere nicht für eine Segensform, die einer Trauung ähnlich ist. Aber ich plädiere für eine Begleitung – anstatt zu urteilen. Und ich plädiere dafür, mit den „nicht wenigen“ (Katechismus!) Betroffenen zu reden – und nicht über sie - und bei ihnen zu bleiben.

Ihr Bischof Kohlgraf