*Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Das Referat ist auch abgedruckt in: Mainzer (Erz-)Bischöfe in ihrer Zeit, hrsg. von Franz J. Felten. Stuttgart 2008 (Mainzer Vorträge 12). 169 Seiten, € 20,- (ISBN 978-3-515-08896-1
Zur Person: Prof. Dr. Michael Kißener (geb. 1960 in Bonn) ist Univ.-Prof. für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler gehört mit Sicherheit zu den bekanntesten Bischofsgestalten der Neuzeit. Dies lässt sich im Zeitalter des Internet recht anschaulich belegen. Dort erfährt man neben Biographischem von Ketteler-Seniorenheimen und Ketteler-Schulen, von Berufskollegs, Studentenverbindungen und Ketteler-Sälen, von Ketteler-Krankenhäusern und Ketteler-Wohnungsbaugemeinschaften, ganz zu schweigen von Straßen und Plätzen, die nach ihm benannt sind. Sogar Werbung für Ketteler-Kerzen ist zu finden, von denen der Hersteller behauptet, sie würden heute noch so gefertigt, wie es der Firmengründer dereinst dem Bischof versprochen habe: mit mindestens 10% Bienenwachs nämlich.
Ketteler ist also - neudeutsch formuliert - auch 140 Jahre nach seinem Tod noch „in". Warum ist das so? Die Antwort wird bei vielen der Internet-Anzeigen gleich mitgeliefert: Ketteler - der Demokrat auf dem Bischofsstuhl, Ketteler der Freiheitskämpfer, der „Arbeiterbischof", der Bischof-Politiker, der sich mutig in das Tagesgeschehen einmischte, der Rebell gegen den Papst und dergleichen mehr Bilder und Vorstellungen tauchen da auf. Ketteler also ein im Alltagsverständnis „moderner" Bischof? Stimmt das eigentlich? War dieser 1811 geborene Bischof wirklich so oder in dem Sinne „modern", wie es heute gerne gesehen wird, war seine Vorstellungs- und Gedankenwelt so nah an den Problemen unserer Zeit, wenn man ihre Entstehung in der Zeit betrachtet? Diesen Grundgedanken, die auf den Kern des Werkes Kettelers, auf seine eigentliche Bedeutung abzielen, soll hier nachgegangen werden. Die Frage nach der Gedankenwelt und damit nach der Bedeutung Kettelers findet weitere Berechtigung in dem Umstand, dass die vorzügliche Edition der Briefe und Werke des Bischofs, die lange Jahre durch Erwin Iserloh an der Mainzer Akademie der Wissenschaften durchgeführt worden ist, seit wenigen Jahren abgeschlossen ist und allmählich neue vertiefte Arbeiten zum Denken und Wirken Kettelers hervorruft. Erst kürzlich ist so eine Kieler Dissertation über Kettelers Freiheitsbegriff entstanden, der jüngste Beitrag zur Ketteler-Forschung, von dem später noch die Rede sein wird.
Die ohnehin schon reichhaltige wissenschaftliche Literatur zu Ketteler - Christoph Stoll und Bernd Goldmann haben in ihrer Bibliographie 1995 schon über 1.300 Titel gezählt - dürfte damit bald noch um weitere wichtige Arbeiten bereichert werden. Selbstverständlich muss man sich angesichts einer solchen Literaturlage auch bei dem Versuch, Kettelers Bedeutung, seine Modernität zu ergründen, weiter begrenzen, wenn man den vorgegebenen Rahmen dieses Beitrages nicht sprengen möchte. Es seien daher nur einige der wohl zentralen Aspekte herausgegriffen, die für die Beantwortung der Fragestellung relevant sind. Zunächst soll von Ketteler und dem Staat die Rede sein, sodann von Ketteler und der Kirche, von Ketteler und der Freiheit, von Ketteler und der sozialen Frage und schließlich von Ketteler und dem Recht.
I. Ketteler und der Staat
II. Ketteler und die Kirche
III. Ketteler und die Freiheit
IV. Ketteler und die soziale Frage
V. Ketteler und das Recht
Resümée