Die Predigten von Bischof Ketteler im Mainzer Dom

Aus Anlass des 100.  Jahrestages der Grundsteinlegung der Mainzer Herz-Jesu-Kirche in Mombach hat Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann am 9. August 2011 in einem Festgottesdienst die Predigt gehalten und anschließend in einem Vortrag im Rahmen eines "Ketteler-Forums" die berühmt gewordenen Predigten von Bischof Ketteler im Mainzer Dom beleuchtet.

Die Herz-Jesu-Kirche war einst als Grabeskirche für Bischof Ketteler geplant worden. Durch die Kriegswirren des 1. Weltkrieges konnte dies aber nicht realisiert werden. Bischof Ketteler ruht weiter im Mainzer Dom. In Herz Jesu hat sich aber die Ketteler-Verehrung bis heute fortgesetzt. Wir dokumentieren den Festvortrag von Generalvikar Giebelmann nach dem Redemanuskript. Die Predigt im Gottesdienst finden Sie hier (Link).

 

Vom 3.-6. Oktober 1848 tagte in Mainz die Erste Versammlung der Kath. Vereine Deutschlands, zu der sich am 4. Oktober eine Delegation der Paulskirchenabgeordneten im Kurfürstlichen Schloss einfand. Unter den Abgeordneten war auch Ketteler: "Eine würdevolle, imponierende Erscheinung, der Pfarrer von Hopsten - ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, mit scharf geschnittenem Gesicht", so beschrieb ein Parlamentskollege seinen Auftritt in Mainz. Und diese Herkunft aus einem westfälischen Rittergeschlecht hat seinen Charakter geprägt. Ketteler wurde gebeten, eine Stehgreifrede zu halten, und er sprach über die Freiheit der Kirche und die soziale Frage: "Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion" - In dieser Erkenntnis gipfelten seine Ausführungen, und dafür bekam er stürmischen Beifall.

Wie die Religion der Freiheit bedarf...

- Freiheit von staatlicher Reglementierung,
- die Freiheit, sich öffentlich äußern zu dürfen...

Die Freiheit der Religion wird immer wieder begrenzt durch die Freiheit der Religionslosen. Das hält sich durch bis in unsere Zeit. Der aggressive Atheismus fordert um seiner Freiheit willen die Entfernung der Kreuze, das Schweigen der Glocken, die Abschaffung des Religionsunterrichtes...

Das ist alles nicht neu...

- Abschaffung von Kirchensteuer, von Theologischen Fakultäten, ...

Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf die Freiheit der Religion, um zu verhindern, dass die Freiheit zur Willkür wird:

- eine Freiheit von einer Bindung
- eine Freiheit für eine Bindung
- eine Freiheit von etwas: Einsamkeit, Willkür...
- eine Freiheit für eine Entscheidung, mit der ich andere Möglichkeiten ausschließe.

Am 19. November predigte Ketteler in St. Peter, ab dem 3. Dezember noch fünfmal im Dom - und behandelte dabei ein Thema, das so bislang kaum von der Kanzel einer katholischen Kirche angesprochen worden war: die großen sozialen Fragen der Gegenwart.

"Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel".

Wie die im Zuge der Industrialisierung sich verschärfende soziale Frage zu lösen wäre, darauf hat Ketteler im Laufe der Zeit unterschiedliche Antworten gegeben. Anfänglich predigte er eine Gesinnungsänderung der Menschen auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Der Besitzende verfüge über Eigentum nur aus der Gnade Gottes und sei mithin verpflichtet, seinem leidenden Nächsten zu helfen.

Deutlich wird auch hier seine Orientierung an der alten ständischen Ordnung, wenn er formulierte: "Solange das Christentum die Menschen trug, ihren Willen zum Guten stärkte, war eine solche Trennung zwischen Arm und Reich undenkbar." Später jedoch hat Ketteler angesichts der Dimensionen dieses Problems Lösungen auf gesellschaftlich-politischer Ebene gesucht und sich z.T. Konzeptionen genähert, die auch der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle vertrat. Wie Lassalle forderte er schließlich staatliche Hilfe und die Vereinigung der Arbeiter in Produktivgenossenschaften. Das 1864 erschienene Buch "Die Arbeiterfrage und das Christentum", in dem Ketteler die Arbeiterfrage als "Arbeiterernährungsfrage" bezeichnete und die Schaffung humaner und gesunder Arbeitsbedingungen forderte, legt von solchen ldeen Zeugnis ab.

1865 lässt sich dann ein weiterer Schritt erkennen. Nun war er der Auffassung: "Auch Religion und Sittlichkeit reichen nicht aus, um die Arbeiterfrage zu lösen. Gewiss, der Staat muss mithelfen, die Kirche muss helfen - alles muss die Hand reichen, den Stand vor dem Verderben zu schützen."  Dennoch war Ketteler kein Sozialist, vielmehr sah er den Sozialismus letztlich als konsequente Fortsetzung des Liberalismus: "Mache ich Ernst mit den Prinzipien des Liberalismus, so komme ich konsequenterweise zum Sozialismus", war seine Meinung. Wie der Liberalismus lehnte auch der Sozialismus jede göttliche Dimension ab. Wie der Liberalismus forderte auch er die Freiheit und die Selbstbestimmung des Volkes. Da aber, wo der Liberalismus Freiheit und Gleichheit im Hinblick auf den Besitz versage, gehe der Sozialismus konsequent weiter und fordere auch das: "Schon steht wieder jener ungerathene Sohn (d.i. Sozialismus) hinter ihm (d.i. der Liberalismus) und treibt ihn weiter auf der betretenen abschüssigen Bahn. Freilich, ruft er hinzu: Alles durch das Volk vortrefflich, aber nicht ihr, sondern wir sind die Vertreter des Volkes. lhr vertretet die zehn Prozent der Besitzenden, wir vertreten die 90 Prozent der Arbeiter."

Umgekehrt betrachtete man übrigens Kettlers Ansichten als äußerst unangenehme "Konkurrenz". lm Marx-Engels-Briefwechsel findet sich für das Jahr 1869 z.B. ein Schreiben von Karl Marx, in dem es hieß, dass "energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die lnternationale wirken, die Hunde kokettieren (z.B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress) [- gemeint ist der Katholikentag 1869 -] uns, wo es passend erscheint, mit der Arbeiterfrage"

Kettelers Mainzer Adventspredigten sollten so etwas wie eine Eintrittskarte in das Mainzer Bischofsamt werden. Enttäuscht von den Beratungen des Paulskirchenparlaments, kehrte er 1849 auf seine Pfarrstelle in Hopsten zurück. Befreundete Paulskirchen-Parlamentarier betrieben aber sehr bald seine Berufung zum Propst von Berlin und Fürstbischöflichen Legaten für die Mark Brandenburg und Pommern. Das war so ziemlich das wichtigste katholische Amt in der preußisch-protestantischen Diaspora. Ketteler nahm es Ende August 1849 an. Hier nun bewies er in kürzesfer Zeit seine Tatkraft: Er bereiste sofort den ausgedehnten Delegaturbezirk und machte sich ein persönliches Bild von den Sorgen und Nöten der Menschen, er leitete die Erweiterung des St. Hedwigs-Krankenhaus in Berlin ein, initiierte im Juni 1850 wieder eine katholische Fronleichnamsprozession in Berlin, die es dort seit Menschengedenken nicht mehr gegeben hatte, und kümmerte sich auch um die Konversionsabsichten renommierter Persönlichkeiten. Auch das empfahl ihn in kürzester Zeit für ein noch höheres kirchliches Amt. Dass er dieses in Mainz erlangte, war das Ergebnis eines Streites im Mainzer Domkapitel, auf den hier nicht näher einzugehen ist, der ihn jedenfalls am Ende als eine Art Kompromisskandidat ins Amt brachte. Am 15. März 1850 wurde er vom Papst ernannt, am 25. Juli 1850 zum Bischof geweiht, ohne viel Aufwand und Kosten für die Diözese, wie er es gewünscht hatte.

Als Bischof in Mainz hat er dann jedenfalls auch das ihm Mögliche unternommen, um den Schwachen in der Gesellschaft beizustehen. Davon zeugt ein weitreichendes caritatives Werk, das ich hier nur andeuten kann: 1851 schon wurde die Kongretation der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung in Finthen gegründet, die als Lehrerinnen und Krankenschwestern fungierten, Waisenhäuser wurden eingerichtet. Die 1852 gerufenen Marienbrüder widmeten sich dem Schulunterricht im heute noch bestehenden Willligis-Gymnasium in Mainz. Und die Frauen vom Guten Hirten eröffneten 1853 ein Haus für gefährdete Mädchen. Den Gesellenverein Adolph Kolpings, zu dem er enge Beziehungen unterhielt, unterstützte er durch Hilfen für den Bau eines eigenen Hauses in Mainz.

Zahlreiche weitere Beispiele dieser Art ließen sich anführen. Den Höhepunkt seines Engagements in der sozialen Frage mag man in seiner Ansprache vor 10.000 Arbeitern auf der Liebfrauenheide bei Offenbach am 25. Juli 1869 sehen, die gerne als "Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung" bezeichnet wird. Hier forderte er die Erhöhung des Arbeitslohns, Verkürzung der Arbeitszeiten, die Gewährleistung der Sonntagsruhe und vor allem auch das Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken. Junge Mädchen und schwangere Frauen sollten Schutz genießen und ebenfalls nicht arbeiten.

Ein Dreiklang der Maßnahmen - staatliche Sozialpolitik, Selbsthilfe der Arbeiter durch Gewerkschaften und kirchliche Caritas - sollten die Arbeiterfrage nun lösen. Er war es schließlich, der durch ein Referat über die "Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter" erreichte, dass sich die Fuldaer Bischofskonferenz 1869 erstmals mit diesem Thema befasste. Papst Leo XIll., der Papst der Sozialzyklika "Rerum novarum", hat Ketteler später sogar als seinen "großen Vorgänger" bezeichnet.

Wir kommen auf die Predigten im Mainzer Dom im Jahre 1848 zurück:

Die menschliche Fähigkeit, die göttliche Ordnung der Dinge von ihrem Schöpfer her zu erkennen, ist durch die Erbsünde der Menschen beschädigt worden. Erst die Rückbesinnung auf die göttliche Ordnung macht es dem Menschen möglich, Lösungen für die bestehenden Probleme der Zeit zu entwickeln und ein der ursprünglichen göttlichen Ordnung gemäßes Miteinander der Menschen zu entfalten, auch und gerade im Miteinander von Armen und Reichen.

Es ist die Frage nach den Grundwerten der Gesellschaft:

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut - Oder: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. - Oder: der Blick auf Jesus und seine Nachfolge.

ln seiner 3. Predigt am 17 . Dezember 1848 entfaltet Ketteler die Lehre von der Freiheit des Menschen und deren Verhältnis zu den göttlichen Gesetzen. Der Mensch ist auf Gott verwiesen, es gibt eine Gottessehnsucht: Wie die Blume sich aus sich selbst entwickelt, so müsse auch die herrliche Menschennatur nur zur wahren Selbstentfaltung angeleitet werden, und dann würden Leidenschaften, Laster und Verbrechen von selbst auf Erden verschwinden und die wahre Bruderliebe zurückkehren:

"Das ist die Lehre, die jetzt auf allen Dächern gepredigt, die als die höchste Weisheit ausgegeben wird: Ich aber frage dagegen, gibt es wohl eine Behauptung, die handgreiflicher jede Wahrheit mit beiden Fäusten in das Antlitz schlägt wie diese? Wäre sie wahr, so müsste es folgerecht zwei Klassen von Menschen auf Erden geben: Erstens die Menschen mit der allgemeinen Menschenbildung, und diese bildeten das Geschlecht ohne Leidenschaft, ohne Laster und Verbrechen, das nur dem Gebote der höheren Vernunft gemäß handelte. Und zweitens jene ohne allgemeine Menschenbildung, die dann allen Leidenschaften und allen Lastern hingegeben sein müssten. lch frage nun: Ist das wahr, oder gibt es eine größere Lüge wie diese? Wie ist es möglich, solche Behauptungen noch in einer Zeit aufzustellen, wo die genauesten statistischen Ermittlungen in Frankreich und Deutschland es herausgestellt haben, dass weder das Maß der Geistesbildung noch das Maß des Wohlstandes irgend einen Einfluss auf die Zahl der Verbrechen üben, die in einem Lande begangen werden. Doch wozu solche Beweise, da die tägliche Erfahrung deutlicher redet wie alle statistischen Tabellen. lst der Geizige, der Schätze auf Schätze sammelt; ist der Jüngling, der alle Länder durchwandert, alle Sprachen erlernt, alle Völker kennt und Tausende seinen Lüsten opfert, ohne seiner armen Mitbrüder zu gedenken; ist die Jungfrau, die in den Gesellschaften glänzt, die ihren Leib zu dem goldenen Kalbe macht, das sie verehrt und dem sie Gold und Edelsteine opfert, während sie gefühllos ihre arme Mitschwester erfrieren lässt - sind diese alle etwa noch zu christlich erzogen, und fehlt ihnen die allgemeine Menschenbildung? Wo ist die allgemeine Menschenbildung, die den Geizigen mildtätig macht, die den lüderlichen Jüngling, das eitle Mädchen mit Liebe zum Nebenmenschen erfüllt, wo ist die Lehrweise, das Lehrbuch, das im Stande wäre, den Geist der christlichen Entsagung, Selbstverleugnung in die Herzen der Menschen einzupflanzen? Zeiget es mir, zeiget mir das Geschlecht mit wahrer Nächstenliebe, das ihr ohne Christentum, durch eure Weltweisheit gebildet, und ich will mit euch das Christentum über Bord werfen. So lange ich aber sehen werde, dass alle Weisheit, alle Wissenschaft, alle Weltbildung zusammengenommen nicht im Stande ist, ein einziges Fünklein christlicher Liebe auf Erden zu entzünden, nicht im Stande, ein einziges Leben der Liebe zu gestalten, einen einzigen Geizigen von seinem Geize zu heilen, werde ich feststehen in dem Glauben, das die Menschheit in Sünde gefallen und nur durch das Christentum wieder
hergestellt werden kann."

Gott hat mit jedem Menschen etwas ganz Besonderes vor, er hat mit jedem Menschen einen ganz eigenen Plan. Jeder Mensch ist wichtig vor Gott. Was die Menschen sagen, ist da nicht wichtig. Gerade junge Menschen fragen immer wieder, welche Aufgabe sie auf dieser Welt haben. Und wir sagen ihnen die frohe Botschaft: Gott hat mit dir etwas ganz Besonderes vor.

ln seiner 5. Predigt, am 19. Dezember, entfaltet Ketteler die Bedeutung der Familie für das Gelingen des Lebens. Heute erleben wir in politischen Gesprächen die Diskussion um den Familienbegriff: "Familie ist dort, wo Verantwortung füreinander übernommen wird" - aber wir sagen: Familie ist dort, wo Kinder sind. Der Zusammenhang mit einer christlichen Ehe wird kaum noch in der Diskussion gesehen. Der Begriff der Treue ist aus dem Blick geraten: zu bleiben, auch in der Krise. Und wir spüren die Aktualität der Botschaft Kettelers.

ln seiner 6. Predigt vom 20. Dezember 1848 betont Ketteler die Bedeutung der Kirche für das Heil der Menschen. Wenige Tage vor Weihnachten sagt er: Jesus Christus ist die Offenbarung Gottes in die Welt hinein. Es geschieht Erlösung für alle Menschen guten Willens. Und hier hören wir die Sätze des 2. Vatikanischen Konzils: Die Kirche ist dort, wo die Menschen sind, als Antwort Gottes für die Menschen.

Die Kirche lebt eben nicht wie eine Burg jenseits dieser Welt, sondern mitten unter den Menschen, unter den ganz konkreten Menschen, den geschundenen und Zweifelnden, den Glaubensstarken und den Schwankenden und alle Grenzen sind da nicht wichtig oder sie verschwinden. Für Abgrenzungen ist hier kein Platz.

 (c) Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann; es gilt das gesprochene Wort