Interview mit Kardinal Lehmann für die Caritas-Zeitschrift „Sozialcourage" anlässlich des 200. Geburtstages von Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler

erschienen in der Ausgabe 1-2011

Sozialcourage: Herr Kardinal Lehmann, wie fühlen Sie sich als Bischof von Mainz Ihrem Vorgänger Wilhelm Emmanuel von Ketteler verbunden?

Kardinal Karl Lehmann: Es gibt eine räumliche und eine inhaltliche Nähe: Die räumliche bezieht sich darauf, dass wir in Mainz und Umgebung viele Spuren seines Lebens finden: Klostergründungen, Schulen, Straßen, die nach ihm benannt sind, nicht zuletzt sein Grab im Mainzer Dom. Viele soziale Einrichtungen gehen auf ihn zurück. Aber auch inhaltlich verbindet uns im Bistum Mainz vieles mit diesem „Sozialbischof". Unvergessen sind seine eindringlichen Predigten im Mainzer Dom oder auf der Liebfrauenheide bei Klein-Krotzenburg. Sein Anliegen, die Soziale Frage seiner Zeit für die Menschen in Not anzugehen, hat auch heute noch - in gewandelter Form - bleibende Aktualität.

Sozialcourage: Inwiefern?

Lehmann: Bischof von Ketteler hat vor allem die Not und Armut vieler Menschen in der Arbeitswelt wahrgenommen und ist dabei nicht mehr ruhig geworden. Er hat zu unterschiedlichen Zeiten und mit verschiedenen Mitteln gegen diese Armut gekämpft, zuerst durch Beseitigung der wichtigsten Nöte auf karitativem Weg, schließlich aber durch die Forderung nach Sozialreformen und nach Einführung einer Sozialpolitik. Die Zeiten haben sich zwar inzwischen gewaltig geändert, aber seine entscheidende Einsicht, sensibel zu sein für die Not der anderen, bleibt brennend aktuell. Papst Benedikt XVI. hat in seiner ersten Enzyklika „Deus Caritas est" ausdrücklich auf Bischof Ketteler verwiesen und ihn als „Wegbereiter" für die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft bezeichnet. Leo XIII., der die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum" (1893) geschrieben hat, sagte, dass er auf Kettelers Schultern stehe.

Sozialcourage: Welche Auswirkungen hatten seine sozialpolitischen Ansichten damals?

Lehmann: Die industrielle Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts stellte Aufgaben, für die Staat und Gesellschaft nicht gerüstet waren. Infolgedessen wurden die karitativen Dienste der Kirche immer mehr gefordert: Krankenpflege, Alters- und Invalidenversorgung, Betreuung der Kleinkinder arbeitender Eltern, Schutz der Jugend in Lehrlings- und Mädchenheimen. Die Ordensschwestern verschiedener Gemeinschaften, die Ketteler in das Bistum Mainz rief oder sie auch - wie die Schwestern der Göttlichen Vorsehung -gründete, leisteten hier besonders in Schule und Krankenpflege eine herausragende Pionierarbeit. Er hat sich auch für die Waisenkinder und die gebrechlichen Alten sowie für die entlassenen Strafgefangenen eingesetzt. Und unermüdlich lag ihm die Fürsorge für die Arbeiter am Herzen.

Sozialcourage: Ist Kettelers Soziallehre ein „Kind ihrer Zeit" oder können wir für die Gegenwart davon noch lernen?

Lehmann: Natürlich muss man jedes Lebenszeugnis aus der konkreten Zeit heraus verstehen und kann nicht alles einfach ins Heute übertragen. Dennoch gibt es Anknüpfungspunkte: Als Ketteler Kaplan in Beckum (1844) und bald darauf Pfarrer in Hopsten (1846) wurde, hat er sich zuerst der Armen und Kranken angenommen. Damals schrieb er die Worte nieder. „Da macht mir jetzt der Leib der mir Anvertrauten noch mehr zu schaffen wie die Seele, und es ist mir eine recht bittere Erfahrung, dabei so wenig helfen zu können." Dies ist das erste, was wir von ihm lernen können: Ketteler war zeitlebens ein Seelsorger und hatte eine große Witterungsfähigkeit für soziale Not und ihre Herausforderungen. Er war nie einfach ein distanzierter Beobachter, sondern ließ sich von der Not anrühren. Dabei blieb es aber nicht, denn er war zugleich ein großes Talent für die rasche Planung und wirksame Organisation von Hilfe vor Ort.

Sozialcourage: Was bedeutet dies für uns Christen heute?

Lehmann: Auch wir brauchen immer wieder diese eindrucksvolle Sensibilität und rasche Entschlusskraft. Sie müssen besondere Kennzeichen der sozialen und karitativen Aktivität von Christen sein. Wir dürfen nicht als neugierige Zuschauer durch die Welt gehen, sondern müssen wirklich die Verhältnisse aus der Nähe kennen, mit den betroffenen Menschen leiden und dürfen nicht zögern, uns die Hände schmutzig zu machen. Schließlich gibt es auch heute viele materielle Nöte bei uns in Deutschland, aber die Wahrnehmungsfähigkeit muss noch viel größer werden. Denn die Not heutzutage hat viele Gesichter, die nicht selten verschämt, verborgen und unsichtbar ist, besonders wenn es um tiefe Verletzungen und um Isolierung von Menschen geht.

Sozialcourage: Was bedeutet Ihnen persönlich das Leben und Wirken von Bischof von Ketteler?

Lehmann: Er ist gewiss der bedeutendste Vorgänger in der Geschichte des jüngeren, kleineren Bistums Mainz (im Unterschied zum großen alten Erzbistum). Ich begegne immer wieder seinen wichtigen Aussagen und den Früchten seines Wirkens. Dies spornt mich und viele Mitchristen im Bistum an. Ich freue mich, dass wir im Jahr 2011 seinen 200. Geburtstag feiern dürfen. Übrigens an Weihnachten - er ist und bleibt ein großes Geschenk für uns.

Interview: Alexander Matschak