Stellen Sie sich mal vor: Wilhelm Emmanuel von Ketteler, bald 200 Jahre alt, steigt von seinem Sockel auf dem Bischofsplatz in Mainz herab und beginnt zu reden... Klar, dass sich die Mainzer Kirchenzeitung „Glaube und Leben" diesen berühmten Interviewpartner nicht entgehen lässt... Klar auch, dass er es mit einer Fachfrau zu tun bekommt: Diplom-Theologin Dr. Elisabeth Eicher-Dröge, Leiterin des Katholischen Bildungswerks Südhessen, hat dem großen Sozialbischof interessante Antworten entlockt.
Bischof Ketteler, Sie wurden bereits früh als „Sozialbischof" bezeichnet. Sie selbst haben sich in Erinnerung an Ihre erste Pfarrstelle im Dorf Hopsten im Münsterland gerne einen „Bauernpastor" genannt. Ihrer Herkunft nach gehörten Sie zu den Privilegierten der damaligen Gesellschaft. Woher dennoch diese Haltung?
Privilegiert - das ist wahr. Ich stamme aus einer münsterländischen Adelsfamilie. Zu keiner Zeit musste meine Familie sich Sorgen um ihr alltägliches Dasein oder die Zukunft machen. Trotzdem hatten wir Kinder - wir waren insgesamt neun Geschwister - nie den Eindruck, im Überfluss zu leben. Ganz sicher hat da so etwas wie der Tugendkatalog meiner Zeit gewirkt, den meine Eltern durch ihre eigene Erziehung verinnerlicht hatten: Fleiß, Pünktlichkeit, Reinlichkeit, selbstverständlich Sparsamkeit und Ordnungsliebe.. Rückblickend sehe ich aber durch alle zeitbedingten Einschränkungen hindurch die so genannten Kardinalstugenden in meiner Erziehung aufscheinen: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß und Klugheit. Und die scheinen mir bis heute als Lebensimpulse sehr wertvoll.
Haben auch Ihre Eltern Sie beeinflusst?
Meine Eltern waren wirtschaftlich erfolgreich, aber auch sozial verantwortungsvoll. Mein Vater war preußischer Landrat. Ich erinnere mich an ihn als einen strengen, aber gerechten Mann. Dazu kam eine sehr liebevolle und gläubige Haltung, die meine Mutter einbrachte. Sie hat mich früh gelehrt, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und das Wohlergehen anderer als inneres Anliegen zu begreifen. Gebet, Gottesdienst und tätige Nächstenliebe: das war für sie gelebtes Christentum. In diesem Geist bin aufgewachsen - das hat mich geprägt.
Empfinden Sie es auch, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland heute wieder größer wird?
Ich sehe, dass Immer weniger Menschen große Besitztümer ihr Eigen nennen und immer mehr Menschen sehr wenig haben oder sind verschuldet. Und diejenigen, die heute privilegiert sind, schotten sich mehr und mehr von denen ab, die in prekären Verhältnissen leben....
Vieles davon kenne ich aus meiner Zeit. Auch bei meinen Zeitgenossen war die Ansicht verbreitet, sie könnten mit ihrem Besitz nach eigenem Gusto schalten und walten, wie sie wollten. Dazu habe ich auch damals schon Folgendes gesagt: Die Kirche kann aus tiefster Glaubensüberzeugung heraus niemandem das Recht zuerkennen, mit den Gütern der Welt nach Belieben zu verfahren. Dabei will sie Eigentum keinesfalls grundsätzlich aberkennen. Ich habe es immer mit Thomas von Aquin gehalten: Besitz schafft Verantwortungsbewusstsein. Aber für den christlichen verstandenen Eigentumsbegriff sind drei Punkte wesentlich: Erstens, das volle Eigentumsrecht an allem, was ist, steht nur Gott zu. Zweitens, der Mensch hat als Besitzender nur ein Nutzungsrecht. Und drittens, bei der Anwendung dieses Nutzungsrechts hat er die von Gott gesetzte Ordnung einzuhalten. Eine Ordnung, nach der die Güter dieser Welt zuerst ihm gehören und dazu dienen, die notwendigen Lebensbedürfnisse aller zu befriedigen. Das ist das oberste Ziel. Daher muss jeder und jede die Früchte des Eigentums wieder der Gemeinschaft zuführen, zum Wohle aller.
Ist das heute tatsächlich noch umzusetzen?
Ich räume ein, dass diese Wahrheit nur aus dem Glauben heraus erkannt wird. Aber sie ist heilsam für alle, und gerade deshalb sind wir als Christen aufgefordert, uns vehement für sie einzusetzen und sie als Forderung ins gesellschaftliche Leben einbringen. Das setzt allerdings meines Erachtens voraus, das wir als Christen mit gutem Beispiel vorangehen und nicht unglaubwürdig sind. Aber glauben sie mir - auch die Unglaubwürdigkeit christlichen Lebens gab es auch schon vor 150 Jahren.
Ausreichend bezahlte Arbeit scheint in einigen Beschäftigungsbereichen ein knappes Gut zu werden, und diejenigen, die hier noch Arbeit haben, leisten diese mitunter unter menschenunwürdigen Bedingungen. Was sagen Sie zu diesen Entwicklungen?
Das trifft mich - insbesondere deshalb, weil ich den Eindruck habe, hier waren meine Nachfahren schon einmal weiter. Seite Mitte des 20. Jahrhunderts machen wir Rückschritte hinter schon Erkämpftes! Ich erinnere mich an meine Predigt auf der Liebfrauenheide bei Offenbach 1869. Damals habe ich gesagt: „Was helfen die so genannten Menschenrechte in den Konstitutionen, wovon der Arbeiter wenig Nutzen hat, solange die Geldmacht die sozialen Menschenrechte mit Füßen treten kann?"
Was prangern Sie insbesondere an?
Heute ist das Sozialstaatsprinzip zwar verfassungsrechtlich verankert, dennoch brechen sich unter dem Diktat scheinbarer Wirtschaftszwänge wieder unmenschliche Arbeitsbedingungen Bahn. Einige meiner früheren Forderungen müssen heute genauso vehement vorgebracht werden wie Ende des 19. Jahrhunderts: beispielsweise eine dem wahren Wert der Arbeit entsprechende Entlohnung. Oder die Einschränkung der täglichen Arbeitszeit, damit Zeit und Muße für das private Leben bleibt. Und natürlich die Einhaltung der Sonntagsruhe, damit Leid und Seele die notwendige Zeit haben, um sich zu regenerieren. Das gilt im Übrigen auch für die besser Verdienenden.
Ich stelle im außerdem fest, dass auch heute noch unwürdige Arbeitsverhältnisse und Armut vor allem Frauen mit ihren Kinder treffen. Ich staune über die neuen Worte, die zur Beschreibung dieser Lebensverhältnisse gefunden wurden. Beispielsweise das Wort Prekariat. Dahinter steht nichts weniger als die Tatsache, dass die sozialen Errungenschaften rund um den Schutz von Arbeitnehmern wieder schwinden. Und zwar nicht nur beim so genannten Proletariat, der Arbeiterklasse, sondern mittlerweile auch auf allen Ebenen. Ein Skandal ist, das als notwendige Eigengesetzlichkeit und Marktlogik vorzutragen. Auch dieses Argument ist nicht neu. Ich finde es nach wie vor unerträglich und wehre mich als Christ entschieden gegen diesen Zeitgeist.
Wie stehen Sie zum Phänomen der „Tafeln", die kostenlos Lebensmittel an Bedürftige verteilen?
Ich bin hin- und hergerissen. Zunächst halte ich es für selbstverständlich, angesichts materieller Not konkret Abhilfe zu schaffen.
Ich denke, wir wären nicht menschlich, wenn wir angesichts hungernder Menschen, die vom Existenzminimum leben müssen, einfach wegschauen und überflüssige Lebensmittel vernichten würden. In dieser Hinsicht befürworte ich die Tafeln.
Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Die Armen brauchen unsere konkrete Unterstützung - aber sie brauchen genauso unsere Liebe und Solidarität. Menschen wie der heilige Franziskus, die heilige Elisabeth oder die Bettelorden des Mittelalters haben das vorgelebt. Wer sich wirklich ergreifen lässt von der Liebe Jesu zu den Menschen, kann gar nicht anders als solidarisch mit denen sein, die diese Solidarität am meisten benötigen. Wer Almosen gibt, teilt noch lange nicht das Leben. Über die Tafeln hinaus brauchen wir den Wunsch und den Willen nach echter Begegnung und geteiltem Leben. Erst dann wird zwischen Arm und Reich der Geist Jesu Christi spürbar.
Und ein Letztes: Ich habe lange Zeit meines Lebens geglaubt, es genüge, an den guten Willen und die christliche Haltung der Besitzenden zu appellieren, um der Armut Abhilfe zu schaffen. Bis mir immer klarer wurde, dass das nicht ausreicht. Hier ist neben dem privaten Engagement Politik ganz klar gefordert.
Menschen suchen heute wieder verstärkt nach verbindlichen Werten. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Zwei Aspekte fallen meines Erachtens besonders ins Gewicht. Der erste betrifft die Gesellschaft. Sie ist heute deutlich vielfältiger und die unterschiedlichen Milieus selbstbewusster. Autorität allein reicht heute nicht mehr aus, um Menschen auf gemeinsame Werte zu verpflichten. Menschen sind heute kritischer gegenüber allgemeinen Wertvorstellungen, die fraglos gelten sollten. Aber: Niemand sollte sich ungefragt menschlicher Autorität unterwerfen, sondern gut prüfen, was das Wahre und Gute ist.
Der zweite Aspekt ist schwerwiegender, weil er sich beinahe unbemerkt verfestigt hat. Ich nenne ihn den „Ungeist des Kapitalismus". Zu meiner Zeit brach sich diese Strömung gerade massiv Bahn. Ich habe mich dagegen immer vehement zur Wehr gesetzt. Aber mir scheint, heutzutage ist sie selbstverständlicher geworden. Geld und Konsum sind die Götzen der modernen Zeit. Sie verschaffen Anerkennung, verleihen Lebenssinn und Selbstwert. Um es auf den Punkte zu bringen: Wer nichts hat, ist nichts wert. Das spüren heute schon die Kinder. Und dieses Bewusstsein zieht sich durch alle Lebensalter und Gesellschaftsschichten. Wert hat, was Konsum ermöglicht. Das halte ich zwar für einen gesellschaftlichen Selbstbetrug.
Was würden Sie den Christen mit auf den Weg geben, die vielerorts in der Minderheit sind?
Nun, die Minderheitensituation war für Katholiken zu meiner Zeit der Normalfall. In der Mehrzahl waren sie ärmere Landbevölkerung mit geringem politischem Einfluss. Prozentual waren nur sehr wenige Familien mit Besitz und Bildung katholisch. Dazu mussten wir gesamtgesellschaftlich gegen eine massiv antikirchliche Haltung kämpfen. Dazu kam die Säkularisierung - seit 1803 war die katholische Kirche in Deutschland politisch und ökonomisch geschwächt Letztlich hat aber gerade diese Ohnmacht zu religiös-kirchlicher Erneuerung geführt, die dringend notwendig war. Diese Erneuerungsbewegung umfasste den Bildungs- und Erziehungsbereich ebenso wie die Seelsorge. Und selbstverständlich auch die karitativen Aufgaben. Wir haben uns mit aller Kraft und Energie dem Problem gewidmet, das gesellschaftlich anstand: der sozialen Frage. So hat rückblickend die kleine katholische Minderheit eine wichtige Rolle in der Sozialpolitik übernommen. Es war gut, dass wir nicht über das Verlorene geklagt, sondern nach mutig nach vorne geblickt haben. Denn das war unsere Aufgabe: Dem Heilswillen Gottes für die Menschen zu dienen, wie Jesus es vorgelebt hat. Selbstverständlich wird es auch darum gehen, weiterhin für die Freiheit der Kirche und ihre Rechte zu kämpfen. Aber auch das hat diese bereits in früheren Zeiten erlebt. Nichts ist für alle Zeit errungen. Die Freiheit ist nicht nur für die Kirche ein kostbares und bedrohtes Gut, für das es sich lohnt, auf allen gesellschaftlichen Bühnen klug, besonnen aber doch kraftvoll und mit Nachdruck zu ringen.
Die Kirche also ein mutiger Einzelkämpfer im Sturm der Zeit?
Bei allem Streben nach Unabhängigkeit der Kirche habe ich immer nach Verbündeten gesucht. Nach Menschen oder Gruppierungen, die ebenfalls an meiner Sache interessiert waren. Damals zum Beispiel der Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung, Ferdinand Lassalle. Selbstverständlich gab es inhaltliche Differenzen in unserem Denken. In meinem Anliegen, der Arbeiterfrage, und im Ringen um menschliche Arbeitsverhältnisse, habe ich ihn aber gewissermaßen als Bündnispartner sehen können. Das scheint mir auch heute die entscheidende Herausforderung: Angesichts der Minderheitensituation realistisch mit den eigenen Kräften umgehen und nicht zu scheu zu sein bei der Suche nach Bündnispartnern im gesellschaftlichen Umfeld. Sich selbst treu bleiben und mit anderen gemeinsam für die als gut erkannte Sache streiten. Das verschafft auch einer Minderheit Kraft, Stärke und Selbstbewusstsein.
Worin besteht die größte Herausforderung für christliche Gemeinden heute?
Ich bin als Bischof bei meinen Visitationen weit in meiner Diözese herumgekommen und habe viele Gemeinden besucht. Ihr Zeitgenosse Karl Brehmer hat in seinem Buch über mich für das, was ich damals vorfand, eine wunderbare Formulierung gefunden: „Es bedurfte [...] großer Anstrengungen, den Gläubigen ihr eigenes Fundament wieder transparent, lebendig und für den eigenen Alltag fruchtbar werden zu lassen. Eine Erschlaffung des Glaubens und unchristlicher Lebenswandel war an vielen Orten feststellbar". In diesem Zustand habe ich in der Tat viele Gemeinden angetroffen. Und vielleicht ist das nach wie vor die größte Herausforderung - die Überwindung einer tief sitzenden Glaubenskrise.
Wie kann das gelingen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir damals wie heute Menschen brauchen, die sich vom Geist Jesu Christi ergreifen lassen und aus diesem Geist heraus leben und handeln. Menschen, die fest darauf vertrauen, dass das Leben der Kirche sich nicht an irdischer Macht und Herrlichkeit festmacht. Menschen, die durch ihr Leben Zeugnis geben von Jesus Christus. Die Frage ist, wie das Vorbild dieser Menschen dann auch richtungsweisend für die Gemeinden werden kann. Das hat etwas mit Führung, genereller Ausrichtung, Entschiedenheit und Durchsetzungskraft zu tun. Für die Verantwortlichen in der Kirche ist das heute sicher keine leichte Aufgabe. Zumal die pastoralen Aufgaben mir deutlich vielfältiger erscheinen als zu meiner Zeit. Sich nicht in Aktivitäten zu verzetteln, sondern die Kräfte auf das Notwendige im wahrsten Sinne des Wortes zu konzentrieren, scheint mir für heutige Gemeinden die größte Herausforderung.
Meine feste Überzeugung ist aber, dass wir an dieser Aufgabe nicht vorbei kommen. Der Geist Gottes ruft uns, Leben und Glauben zu einer sichtbaren Einheit zu bringen. Gottesdienst und Dienst an den Menschen in Not gehören zusammen.
Die Katholische Kirche durchlebt tiefgreifende Krisen. Vielerorts sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren gegangen. Was ist zu tun?
Ich denke, dass unser Glauben uns selbst vorgibt, was zu tun ist. Erneuerung ist da ein wichtiges Stichwort. Sie hat etwas zu tun mit der Bereitschaft zu Umkehr und Buße. Wir werden gemessen an unserem Tun - an nicht mehr und an nicht weniger. Die Kirche hat viele Krisen erlebt und ist im Lauf ihres Bestehens mehr als einmal schuldig geworden. Aber sie hat immer wieder auch Erneuerung aus dem Geist Jesu Christi heraus erfahren. Darauf vertraue ich: Dass der Geist Gottes, der in der Kirche wirkt, Menschen die Kraft gibt, ihrem Leben und dem Leben der Kirche eine neue Richtung zu geben, die glaubwürdig ist und Vertrauen wieder herstellen kann. Das braucht Zeit. Zu meiner Zeit waren es die Vereine, in denen Menschen guten Willens sich zusammengetan haben, um der Kirche ein neues Gesicht zu geben. Wer weiß, welche Grundsteine heute gelegt werden, wo zwei oder drei im Namen Jesu zusammenkommen.
Sonderbeilage der Kirchenzeitung
Das Interview erschien auch in der Sonderbeilage der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" aus Anlass des 75. Geburtstages von Kardinal Lehmann (Download-Link zur Gesamtausgabe: 14 MB). Den Auszug (nur die Seiten des Interviews) können Sie als pdf unten downloaden.
Die Antworten Bischof Kettelers sind fiktiv, in vielen Aspekten aber eng an Aussagen einiger seiner bekanntesten Schriften angelehnt. Wer sie nachlesen möchte findet sie in W.E. von Kettler, Die Katholische Lehre vom Eigentum, Teil 1+2, in: Texte zur Katholischen Soziallehre II, 1. Halbband, hrsg. von der KAB, Kevelaer 1976, darin enthalten auch „Die Arbeiterfrage und das Christentum" sowie die Ansprache, die er 1869 auf der Liebfrauenheide bei Offenbach hielt, „Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit".