1. Kindheit und Jugend
2. Der Student
3. Im Staatsdienst
4. Auf der Suche nach einem neuen beruflichen Anfang
5. Priester im Bistum Münster
6. Die Zeit und ihre Umstände
7. Erstes Auftreten in Mainz
8. Die Adventspredigten im Dom zu Mainz
9. Propst an St. Hedwig in Berlin
10. Der Bischof von Mainz
11. Die Situation der Diözese Mainz
12. Kettelers eigene Ordensgründungen
13. Die Schwestern von der Göttlichen Vorsehung
14. Bischof Ketteler, der Unermüdliche
15. Der Bischof in kollegialer Verantwortung
16. Bischof Ketteler und die soziale Frage
17. Kirche und Staat
18. Kettelers Lösungsweg
19. Der Kulturkampf
20. Das Vaticanum I
21. Ketteler und Rom
22. Würdigung
Downloadmöglichkeit des Referates
Am 25. Dezember 1811 wurde Wilhelm Emmanuel Josef Hubert Maria Freiherr von Ketteler geboren. Er war das sechste von neun Kindern des königlich preußischen Landrats Maximilian Friedrich von Ketteler-Harkotten und seiner Ehefrau Clementine, geb. von und zu Wenige-Beck, in Münster. Am folgenden Tag wurde er getauft. Der Vater war Jurist und, wie eben erwähnt, in der Verwaltung tätig. Die Mutter sei liebenswürdig und fromm gewesen, aber in der Erziehung auch streng. Das Leben der von Kettelers war einfach, fern von Luxus, von christlichem Geist geprägt. Wilhelm Emmanuel galt als unruhiger, draufgängerischer Junge, manchmal sogar unbeherrscht und jähzornig.
Wilhelm Emmanuel wurde zunächst im elterlichen Haus unterrichtet und, da er, wie gesagt, als schwieriger Junge galt, gaben ihn die Eltern in das damals sehr angesehene Jesuiteninternat in Brig, im Schweizer Wallis.
Die Jesuiten versuchten ihr Bestes mit ihrer strengen Erziehung, bändigen konnten sie den Jungen nicht. Nach vier Jahren holte ihn der Vater nach Münster zurück, damit er dort das Abitur ablege. Dieses hat er nicht glänzend bestanden, man gab ihm ein Abiturzeugnis der sogenannten bedingten Reife.
Der 18-Jährige wurde Student der Rechtswissenschaften in Göttingen. Er galt als eifrig und wissbegierig, die juristischen Vorlesungen allein genügten ihm nicht, allgemeinbildende Fächer wurden ebenso belegt. Ketteler schloss sich einer akademischen Verbindung an, einer, die sich auch duellierte. Ein solches Duell ließ nicht auf sich warten, nach einem Streit, bei seinem Temperament kein Wunder, bekam der junge Wilhelm Emmanuel von Ketteler die Aufforderung zum Duell. Bei
diesem büßte er seine Nasenspitze ein. Der junge Ketteler konnte das Ausheilen der Wunde nicht abwarten, er versuchte selbst sein Glück, was die Nase noch mehr verunstaltete. Der Vater drang auf eine Operation. Die wurde in Berlin durchgeführt. Ein Markenzeichen der kettelerschen Physiognomie blieb es jedoch, dass jeder bemerken konnte, mit Kettelers Nasenspitze ist etwas nicht in Ordnung.
Nach den Studien in Göttingen studierte der junge Freiherr in Berlin, Heidelberg und München weiter. In Münster machte er das Staatsexamen und trat 1833 als Gerichtsreferendar in den Staatsdienst. Wie üblich, wurde Ketteler zum Militär eingezogen. Nach einem Jahr verließ er das Militär wieder als Unteroffizier. Die Weiterbeschäftigung aber in der Verwaltung machte ihn nicht glücklich und er beschloss, wieder aus dem Staatsdienst auszuscheiden.
Der äußere Anlass dafür war das sogenannte Kölner Ereignis, die Tatsache nämlich, dass am 20. November 1837 die Preußische Regierung den Kölner Erzbischof verhaften ließ, weil der sich weigerte, die Vereinbarung der Preußischen Regierung mit den westdeutschen Bischöfen hinsichtlich der religiösen Mischehen zu befolgen. Einem solchen Staat wollte Ketteler nicht dienen.
Wie aber weiter? Das war die große Frage, die sich für Ketteler jetzt stellte. Er musste nicht am Hungertuch nagen, ein kleines Einkommen hatte er durch seine Familie, aber die Lebensfrage, was er nun überhaupt anfangen wollte mit seinem Leben, die war noch nicht beantwortet.
Für Ketteler war es immer wieder eine Frage gewesen, ob er nicht Priester werden sollte. Und so schrieb er an seinen Bruder Wilderich: ‡Um mich zum geistlichen Stand würdig umzugestalten, wären größere Wunder erforderlich, als Tote auferwecken.-
Er wandte sich an den Bischof von Eichstätt, von Reisach, zu dem er ein besonderes Vertrauen gefasst hatte. Er schrieb ihm zweimal, der antwortete ihm nicht. Als von
Reisach dann nach Münster kam und Ketteler traf, behandelte er ihn so, als ob diese Frage nach seinem zukünftigen Beruf und die grundlegende Frage seiner Berufung schon längst beantwortet sei. Er fragte nur, wo er sich nun als Priester ausbilden lassen wolle. Ketteler nahm diese Begegnung als Fingerzeig Gottes und er begann seine theologischen Studien und seine Priesterausbildung zunächst in Eichstätt, dann in München.
Am 1. Juni 1844 wurde Ketteler zum Priester geweiht. Am 2. Juni 1844 feierte er im Dom zu Münster seine erste Heilige Messe. Die Eltern haben diesen Tag nicht mehr erlebt. Der Vater war bereits 1832 gestorben, die Mutter wenige Tage vor der Priesterweihe.
Im November 1844 trat Wilhelm Emmanuel seine erste Stelle als dritter Kaplan in Beckum, einer kleinen Stadt südöstlich von Münster, an. Zwei Jahre blieb von Ketteler dort.
Schon in Beckum zeigte es sich, dass er nicht nur ein Mann großer Tatkraft war, sondern auch ein Priester mit einem besonders ausgeprägten Gewissen. Sein Leitwort hatte er in den Satz gefasst: ‡Von nun an darfst du auf Erden kein anderes Interesse mehr haben als das Seelenheil der Menschen und ihre Not.- Dass er Beides im Blick hatte, das Heil der Menschen mit ihrer unsterblichen Seele und die irdische Not, zeigte sich sehr schnell. Für die Kinder, die von abgelegenen Bauernhöfen nach Beckum in die Schule kamen, die einen langen Weg zur Schule hatten und die in der Mittagspause nicht wussten, wo sie sich aufhalten sollten, stellte er einen Raum zur Verfügung, in dem es warm war und in dem es ein Mittagessen gab. Als er dann Kinder erlebte, die auf der Straße bettelten, errichtete er ein Haus für arme Kinder und schärfte seiner Gemeinde ein: "Ein bettelndes Kind in unserer Gemeinde, das wäre etwas Unerhörtes."
1846 wurde der Kaplan zunächst Pfarrverwalter von Hopsten, dann Pfarrer dort. Hopsten liegt etwa 60 km nördlich von Münster, 2000 Einwohner zählte der Ort damals. Der Vorgänger war 98-jährig gestorben, die Gemeinde war verwahrlost.
1846 war das Jahr einer großen Missernte, eine entsprechende Hungersnot war die Folge. Ketteler gründete sofort einen Hilfsverein für die vom Hunger Betroffenen, stellte einen Teil seines Vermögens zur Unterstützung der Armen zur Verfügung, brachte seine Familie dazu, einige Fuder Getreide zu stiften, und als dann zu der Hungersnot auch noch der Typhus ausbrach, war die Angst in der Pfarrei Hopsten besonders groß. Der Pfarrer zögerte nicht lange, er gab ein gutes Beispiel, in dem er selbst von Haus zu Haus ging, die Kranken besuchte, selbst Pflegedienste verrichtete, um in der großen Not das Notwendigste zu tun.
Der seelischen Not in Hopsten begegnete der Pastor mit der Gemeindemission, um den Glauben zu vertiefen und zu erneuern, um all das, was unter seinem Vorgänger, der ein Anhänger der Aufklärung war, an geistlichem Leben und an Frömmigkeit zum Erliegen gekommen war, wieder neu zu entfachen. Er sagte in einer Predigt:
"Die Armen müssen erst wieder fühlen, dass es eine Liebe gibt, die ihrer gedenkt, ehe sie der Lehre der Liebe Glauben schenken. Dazu müssen wir die Armen und die Armut aufsuchen, bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel ihre Verhältnisse, die Quellen ihrer Armut erforschen, ihre Leiden, ihre Tränen mit ihnen teilen. Keine Verworfenheit, kein Elend darf unsere Schritte hemmen. Wir müssen es ertragen können, verkannt, zurückgestoßen, mit Undank belohnt zu werden. Wir müssen uns immer wieder durch Liebe aufdrängen, bis wir die Eisdecke, unter der das Herz des Armen oft vergraben ist, aufgetaut und in Liebe überwunden haben."
Wenn wir heute in unserem Bistum mit dem Begriff ‡Sozialpastoral- das Wirken der Caritas und die Seelsorge als eine Einheit, die der Gegenseitigkeit bedarf und die sich durchdringt und die den besonderen Reichtum und die Strahlkraft der Kirche ausmacht, bedenken, dann haben wir in Wilhelm Emmanuel von Ketteler einen Vordenker, der uns die Spur in unser Heute gelegt hat.
1796 war es zwischen Frankreich und Preußen zu einem Friedensschluss gekommen, Preußen erhielt die rechtsrheinischen Gebiete als Entschädigung. 1803 kamen die Fürsten zusammen und es wurde der sogenannte Reichsdeputationshauptschluss beschlossen, in dessen Folge fast der gesamte kirchliche Besitz in weltliche Hände überging. Die geistlichen Fürstentümer fanden so ihr Ende. Die meisten Klöster wurden aufgehoben, viele kirchliche Einrichtungen konnten, da ihnen nun die entsprechenden Grundlagen für wirtschaftliches Handeln fehlten, nicht mehr weitergeführt werden, die Kirche verarmte.
Es war aber auch die Zeit einer fortschreitenden Industrialisierung. Eine neue Schicht kam an den Horizont der Gesellschaft infolge der Industrialisierung: die Arbeiter und das Industrieproletariat.
Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, der Pfarrer in Hopsten, dachte er, sei nun am Ziel seiner Wünsche angekommen, denn das war seine innerste Überzeugung und sein tiefster Wunsch: Er wollte Bauernpastor werden. Und das war er jetzt. ‡Ich bin im Paradies-, schreibt er. Andere dachten nicht so. In einer Zeit des gesellschaftlichen, kirchlichen und sozialen Umbruchs waren es nicht die regierenden Fürstenhäuser, die sich der bedrängenden Fragen der Zeit annahmen, die deutsche Kleinstaaterei, ausgeprägt in vielen Fürstentümern, tat ein übriges dazu, um keine gemeinsame Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden. Da mussten sich andere zu Wort melden und mussten ihre Stimme erheben. Während Pastor von Ketteler eigentlich daran noch nicht dachte, redete ihm eines Tages sein Beichtvater ins Gewissen. Es war der Landdechant Rahfeldt von Halverde.
Er erkannte in seinem Beichtkind die Führungsqualitäten und er konnte ihn dazu bewegen, für die von den Fürsten für den 18. Mai 1848 einberufene deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zu kandidieren. Die Abgeordneten wurden vom Volk gewählt und sollten eine neue Verfassung für einen neuen deutschen Bundesstaat ausarbeiten. Ketteler kandidierte für den Wahlkreis
Tecklenburg und wurde mit großer Mehrheit in die Nationalversammlung gewählt. Als Abgeordneter konnte er sich dort nicht besonders stark entfalten, er hatte sich oft zu Wort gemeldet, er kam jedoch infolge der großen Rednerlisten nur ein Mal zu einer Rede in der Paulskirche. Er ergriff in der Schulfrage das Wort, forderte u.a. die Lehr-und Lernfreiheit sowie das Recht der Gemeinden auf ihre Volksschulen.
1848 war auch das Jahr des ersten deutschen Katholikentags hier in Mainz. Das, was sich in der Nationalversammlung schon abzeichnete, dass es dort einen katholischen Club gab, dem vor allem die Abgeordneten angehörten, die später im sogenannten Zentrum ihre Partei finden sollten, das wurde auf dem Katholikentag als Wille des deutschen Katholizismus deutlicher. Die Katholische Kirche in Deutschland fand ihre Stimme wieder. Sie meldete sich zu Wort mit ihren Bischöfen und fand immer mehr zu einem gemeinsamen Ausdruck zusammen. Ketteler nahm an diesem Katholikentag teil. Er hielt eine Stegreifrede über die Freiheit der Kirche und die soziale Frage. Seine Worte fanden viele aufmerksame Ohren, unter anderem jene des Mainzer Dompfarrers, der ihn einlud, im Advent 1848 im Mainzer Dom die Adventspredigten zu halten. Er gab diesen die Überschrift: ‡Die großen sozialen Fragen der Gegenwart-
Die erste Predigt hatte die Frage des Eigentums zum Thema. In dieser Predigt heißt es u.a.: "Gott hat die Natur erschaffen, um alle Menschen zu ernähren. Und dieser Zweck muss erreicht werden. Deshalb sollte jeder die Früchte seines Eigentums wieder zum Gemeingut machen, um, soviel an ihm liegt, zur Erreichung dieser Bestimmung beizutragen." (Kettelerwerke I,1 œ 1. Predigt 1848, S. 30, in Brehmer, S. 31)
Die zweite Predigt ging auf die Gesinnung ein, die, wenn sie christlich geprägt ist, es nicht zulassen wird, dass auf der einen Seite Reiche und Besitzende ihr Vermögen vergeuden und im Überfluss leben, während auf der anderen Seite die Armen verhungern und die Kinder verwildern. Es ist die Gesinnung eines Menschen, aus der heraus die Taten erwachsen, sagt Ketteler. Eine Gesinnung aber braucht Werte. Ohne Wertorientierung verwildert der Mensch. Ketteler belässt es in dieser Predigt nicht allein bei der Theorie. Er stellt Forderungen wie jene nach gerechten Steuern, nach einer Neuorganisation von Sparkassen, die dann später in den sogenannten Raiffeisenkassen ihren Ausdruck gefunden haben. Er spricht Arbeiterorganisationen an, die Freiheit des Gewerbes, die Möglichkeit der Teilung von Grund und Boden, und er führt weiter aus: "Um die sozialen Übel zu heilen, genügt es nicht, dass wir einige Arme mehr speisen und kleiden ... , sondern wir müssen die ungeheure Kluft in der Gesellschaft, einen tief eingewurzelten Hass zwischen Reichen und Armen ausgleichen ... Wir müssen die geistige Armut der leiblichen Armen wieder heben, gerade wie bei den Reichen, so gut auch bei den Armen. Die Quelle der sozialen Übel in der Gesinnung wie die Habgier, die Genusssucht, die Selbstsucht, die Reichen von den Armen abgewendet hat. So haben Habgier, Genusssucht und Selbstsucht in Verbindung mit äußerer großer Not den Hass der Armen gegen die Reichen hervorgerufen. Statt die wahren Ursachen und vielfach im eigenen Verschulden die Quellen der Not aufzusuchen, sehen sie nur in dem Reichen die alleinige Ursache ihres Elends." (eben da S. 44-45, in Brehmer S. 35)
Die dritte Predigt befasst sich mit der Freiheit des Menschen. Er grenzt sie klar ab von der Selbstherrlichkeit, die im Egoismus ihren Ursprung hat, Freiheit besteht nicht darin, tun und lassen zu können, was man will. Diese Orientierungslosigkeit gefährdet jedes Zusammenleben der Menschen. Es gibt dann keine Sicherheiten und kein Vertrauen mehr. Ketteler hingegen begründet die Freiheit in der Geschöpflichkeit des Menschen. In dieser ist dem Menschen bewusst, dass er, in Christus neu geboren die Freiheit der Kinder Gottes, den Freiraum des Evangeliums als Quelle aller Orientierung und als Grundlage des Lebens erreicht hat. Das Evangelium ist die Grundlegung der Würde des Menschen, die Verfassung für ein solidarisches Zusammenleben in menschlicher Gemeinschaft.
Mit der vierten Predigt nimmt Ketteler am 18. Dezember 1848 die Frage der Gerechtigkeit in den Blick. Er schreibt zunächst, wohin jene Haltung führt, in der der Mensch meint, dass es keinen Gott gebe und dass dieses Leben hier auf
Erden alles sei. Für Ketteler führt diese Haltung zum Wettkampf um das beste Leben. Man muss mit allen Mitteln das Beste aus diesem Leben herausholen und dies auch auf Kosten anderer. Das Eisenherz, das Menschen sich so zulegen, bringt soziale Kälte hervor. Wenn nur das materiell reiche Leben erfülltes Leben ist, wird die Sehnsucht des Menschen getötet, auch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die dem Menschen eingegeben ist. Es gibt aber, so sagt Ketteler, "einen Herrn des Himmels und der Erde, der die Waage der Gerechtigkeit in Händen hält, ein Gericht, in dem Recht gesprochen wird, eine Ewigkeit, in der jeder Mensch persönlich empfängt, was er hier persönlich aussät, Lohn, der Gerechte, Strafe, der Ungerechte." (Kettelerwerke I,1 œ 4. Predigt 1848, S. 63/64 in Brehmer S. 40)
Noch eine fünfte Predigt hält Ketteler im Mainzer Dom in diesem Advent. In ihr nimmt er die Familie, die soziale Gemeinschaft und den Staat in den Blick. Die Ehe ist für ihn das Heiligtum des Christentums. In ihr vollzieht sich das Ideal der Familie. Auch da betrachtet er zunächst den Zeitgeist, in dem es der Unglaube fertig bringt, die Ehe als nicht gottgewollt, sondern als eine verwerfliche Einrichtung darzustellen. Das heiligende Band des Sakraments wird verneint, die Einheit von Mann und Frau in Frage gestellt, die Unauflöslichkeit der Ehe bestritten. Damit geht nach Meinung Kettelers dem Staat ein wichtiges Fundament verloren. Die Entwicklung des Menschen, vor allen Dingen der entwicklungsfördernde Einfluss der Frau, so sagt er, in der Familie wird durch eine solche Haltung gestört, die Persönlichkeitsbildung wird beschädigt, der Mensch ist orientierungslos und der Staat haltlos, sagt Ketteler, wenn das Institut der Ehe in seinen Grundfesten in Frage gestellt wird.
Die sechste Predigt spricht von der Autorität des Glaubens. Sie spricht von den natürlichen Autoritäten der Eltern, Lehrer, Freunde und Vorbilder. Sie spricht aber auch von den Unvollkommenheiten des Menschen, der für sich nicht letzte Autorität sein kann. Andererseits verlangt es die Würde des Menschen auch, dass eine letzte Autorität nicht durch Menschen über ihn gesetzt sei. Keine menschliche Autorität und kein durch Menschen gemachtes Gesetz kann letzte Autorität für den Menschen sein. Es würde seine Freiheit und seine Würde zerstören.
Noch einmal geht Ketteler deshalb auf den Menschen als Geschöpf Gottes ein. Nur dadurch ist er frei, dass Gott ihn geschaffen hat, ihm seine letzte Autorität in Liebe und Gerechtigkeit als Maß und Richtung für das Leben geschenkt hat. Gott hat in dieser Liebe nur ein Interesse, dass der Mensch in seiner Würde erhalten und entfaltet werde und dass er das tiefste Ziel dieser Würde, das ewige Leben, nicht verliere. Deswegen muss er im zeitlichen Leben so in Würde leben dürfen, dass die Ewigkeit nicht aus dem Blick gerät.
Diese Predigten fanden hohe Aufmerksamkeit auch über den Bereich von Mainz hinaus. Sie wurden aufgenommen, bedacht, besprochen und bekämpft.
Ketteler selbst legte 1849, als die sogenannten Grundwertegespräche in der Paulskirche abgeschlossen waren, sein Abgeordnetenmandat wieder nieder. Er kehrte nach Hopsten zurück, allerdings konnte er nur noch kurze Zeit dort bleiben, denn man hatte ihn als Propst an die St.-Hedwigskirche in Berlin berufen.
Die heutige Kathedrale war damals die einzige Kirche Berlins für die rd. 20.000 Katholiken der Stadt und die etwa 5.000 katholischen Soldaten. Das Pfarrleben war durch königliches Dekret genauestens geregelt. Es zeichnete sich durch viele Einschränkungen aus.
Ketteler tat sich sehr schwer, den Ruf nach Berlin anzunehmen, doch man machte ihm deutlich, dass dies der Wille Gottes sei. Also ging er im Oktober 1849 an die Hedwigskirche und widmete sich mit aller Kraft der Seelsorge. Bei 25.000 Katholiken kamen nur wenige hundert sonntags zum Gottesdienst. Er bekam sofort die sozialen Nöte der Stadt in den Blick, bereitete dort den Neubau eines Krankenhauses vor und führte als aufsehenerregendes Ereignis 1850 die erste Fronleichnamsprozession nach der Reformation in Berlin ein.
Der Aufenthalt in Berlin war nur von kurzer Dauer. Im März 1850, wenige Monate nach seinem Amtsantritt also, bekam er die Nachricht, dass er zum Bischof von Mainz gewählt sei. Damit hatten die Wirren um die Neubesetzung des Mainzer Bischofsstuhles, der seit dem Tod von Bischof Leopold Kaiser am 30. Dezember 1848 vakant war, ein Ende.
Am 16. Juli 1850 betrat Ketteler zum erstenmal als neu ernannter Bischof den Boden seiner Diözese. Er kam mit dem Schiff von Koblenz, ab Bingen war seine Reise eine Triumphfahrt. Am 25. Juli 1850 wurde Ketteler im überfüllten Mainzer Dom zum Bischof geweiht. Bereits in seiner ersten Predigt versprach er den Armen und Bedrängten seine besondere Aufmerksamkeit, Sorge und Hilfe.
Aus dem kurfürstlichen Mainz war eine bitterarme Diözese geworden. Bischof Ketteler hatte viele Baustellen zu bedienen. Er begann bei der wichtigsten: der Priesterausbildung. Das Priesterseminar wurde wieder volle theologische Lehranstalt, denn bisher studierten die Priesteramtskandidaten in Gießen. Ketteler rief ausgezeichnete Lehrer nach Mainz, so dass die Ausbildung des Priesternachwuchses in besten Händen lag. Regens war Christoph Moufang, ein Mann mit überragenden Fähigkeiten. Durchaus mit dem Blick auf möglichen Priesternachwuchs gründete er zwei Konvikte, eines in Mainz, eines in Dieburg.
Um Knotenpunkte geistlichen wie auch sozialen Lebens zu gewährleisten, bedurfte es weiterer Initiativen. Eine ganz wichtige, eigene Kraft waren für jene Zeit Ordensgemeinschaften. Es gab im Bistum Mainz jedoch nur noch einen Orden, die sogenannten Englischen Fräulein nämlich, die Maria-Ward-Schwestern, heute Congregatio Jesu, die seit 1752 eine Schule in Mainz unterhielten.
Ketteler hielt nach Möglichkeiten Ausschau, Orden in das Bistum zu rufen. 1852 berief er die Marienbrüder und legte mit ihnen den Grundstock für die St. Marienschule, das heutige Willigisgymnasium. Er stiftete 1853 ein Haus für gefährdete Mädchen, stellte es unter der Leitung der ‡Frauen vom Guten Hirten-, rief die Kapuziner in das Bistum. Sein früh verstorbener Bruder Richard leitete das erste Kapuzinerkloster in Mainz, 1854 wurde es gegründet, ein Jahr später allerdings verstarb Pater von Ketteler.
In der Krankenpflege wirkten an mehreren Orten die Armen Franziskanerinnen, die heute noch in Mainz sind, im sogenannten Bilhildisstift tätig, die Barmherzigen Schwestern aus Niederbronn im Elsaß, bekannt auch als Bühler Schwestern, heute Schwestern vom Göttlichen Erlöser, kamen in das Bistum und wirkten segensreich in Worms, in Bensheim, in Darmstadt und in Giessen. In Darmstadt und Giessen sind sie bis heute noch tätig, an den anderen Orten nicht mehr.
Zwei Ordensgemeinschaften verdankten sich jedoch unmittelbar der Initiative des Mainzer Bischofs. Zum einen die Gemeinschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung, zum anderen war es die Gemeinschaft der Josefsbrüder, deren Wirken für das St. Josephshaus in Klein-Zimmern bestimmt war, eine Einrichtung, wie es damals hieß, für vernachlässigte Jungen. Das Ziel war folgendermaßen beschrieben:
"Die sittlich religiöse Erziehung ... Die Erlernung aller notwendigen Elementarkenntnisse ... Die Ausbildung der Kinder für ihren späteren Lebensberuf ... Die Grundlegung eines frommen christlichen Lebens durch ordentlichen Religionsunterricht."
Die Schwestern von der Göttlichen Vorsehung sind prägend und wichtig bis heute für unser Bistum.
Schon im Namen wurde deutlich, was Bischof Ketteler auf seinen unermüdlichen Visitationsreisen sehr schnell als seelsorgerliche Notwendigkeit erkannt hatte: Die
Erziehung der Jugend, besonders der weiblichen Jugend, und die Krankenpflege, insbesondere in den Landregionen.
Die Gemeinschaft breitete sich aus. Nach den Beschränkungen des Kulturkampfes, in dem der Schuldienst für die Schwestern fast völlig untersagt war, und sie sich sehr stark dann auf den Bereich des Krankendienstes und der Krankenpflege eingestellt hatten, konnte die Genossenschaft sich wieder weiter entwickeln. Sie übernahmen Krankenhäuser in Lampertheim, in Mainz-Mombach, im Albertushospital zu Gau-Algesheim, in Hirschhorn, in Herbstein, in Lorsch, in Mainz. Das Hildegardiskrankenhaus, das 1912 eröffnet wurde, ist eine Gründung dieser Gemeinschaft.
1883 kam die Päpstliche Approbation, die Gemeinschaft bildete mehrere Provinzen in Deutschland: Mainz, Aschaffenburg, Oberursel.
1951, im Jubiläumsjahr, hatte die Gemeinschaft 1.495 Angehörige. Über Nordamerika breiteten sie sich aus in Südamerika, vor allem in Peru, und dann in Südkorea. Sie ist ein lebendiges Denkmal dieses großen Bischofs. Sein Geist lebt in dieser Gemeinschaft weiter in der Sorge um die Jugend, in der Sorge um die Armen und Kranken.
Wie viele caritativ tätige Orden ist auch diese Gemeinschaft zur Zeit in den Herausforderungen, die sich durch einen ausbleibenden Nachwuchs stellen.
Wir haben schon aus dem Wenigen, das ich sagen konnte, feststellen dürfen, wie deutlich Bischof Ketteler die Zeichen der Zeit erkannt hat, wie sehr er auch die Wunden, aus denen die Kirche blutete, die der Gesellschaft geschlagen waren und die Einzelne in den Verletzungen ihres Lebens zu tragen hatten, erkannte, so dass es ihm ein ganz wichtiges Anliegen war, als Bischof sich in besonderer Weise dem Heilsdienst Jesu Christi verpflichtet zu sehen. Seine vielfältigen, seelsorgerlichen Impulse sprechen dazu eine klare Sprache.
Bischof Ketteler war viel unterwegs; die Firmreisen, die Visitationen führten ihn in die letzten Winkel seines Bistums. Er lernte dort die Zustände der Pfarreien kennen; er nahm wahr, was die Geistlichen beschäftigte, wie sie ihre Seelsorge verstanden, und er sparte nicht mit Kritik, wenn ihm Schieflagen auffielen oder unhaltbare Zustände sich zeigten.
Wilhelm Emmanuel von Ketteler als starke Führungspersönlichkeit wusste, dass die Führung, die er dem Bistum angedeihen ließ und die von vielen Menschen dankbar wahrgenommen und angenommen wurde, auch der Kollegialität und der Mitwirkung der Gläubigen des Bistums bedurfte. Dass er diese immer wieder an seinen Überlegungen teilhaben ließ, sie in seine Initiativen einband, davon zeugen seine zahlreichen Hirtenbriefe. Sein modernes Denken ist aber auch daraus abzulesen, dass er in den Priestern seines Bistums die Mitverantwortlichen für die Leitung in der Seelsorge sah und sie auch einforderte.
Wir haben von der Wiedereröffnung des Mainzer Priesterseminars bereits gehört, unzählige Briefe schreibt Ketteler an seine Priester. Er ruft sie jährlich zu Priesterexerzitien zusammen.
1852 beruft er die erste Diözesankonferenz ein, an der alle Priester teilzunehmen haben. Er bespricht dort die aktuellen Fragen und diskutiert mit den Geistlichen. Auf diesem Weg will Ketteler auch die Lebensgemeinschaft der Priester stärker spürbar werden lassen. Ketteler fand, dass diese Diözesan-konferenzen die vorbereitenden Schritte auf eine Diözesansynode sein sollten. Diese gelang nicht, weil die zeitlichen Abstände dieser Treffen zu groß waren.
Wir haben schon die hohe Sensibilität, die Ketteler für die Not der Menschen eigen war, angesprochen. Die Gestalt des Heiligen Franziskus war ihm großes Vorbild. Viele
Predigten belegen dies. Richtungsweisend ist sein erster Hirtenbrief, den er an die Gläubigen seines Bistums am 25. Juli 1850 schreibt. Darin verspricht er: "Ich bekenne, dass ich von jetzt an mit allem, was ich bin und habe, nicht mir, sondern euch gehöre. Ich bekenne, dass ich verpflichtet bin, jeden Überfluss und jedes Wohlleben in meiner Einrichtung zu vermeiden und alles, was ich aus dem Einkommen der Bischöflichen Stelle erübrige, zu milden Zwecken zu verwenden. Ich bekenne, dass ich verpflichtet bin, meine Zeit und alle Kräfte meines Lebens und meiner Seele dem Dienste Gottes und euren Seelen zu widmen." Dieses Versprechen hat Ketteler in seinem bischöflichen Wirken beispielhaft umgesetzt.
Er suchte die Menschen, wo sie waren. Er schaute hin, wie sie lebten und nahm die Zeichen der Zeit des 19. Jahrhunderts sehr bewusst auf. Die aufkommende Industrialisierung änderte die Gesellschaft nachhaltig. Viele Menschen, die als Kleinbauern und Tagelöhner ein oft sehr kümmerliches Leben geführt haben, verließen das Land, zogen in die Städte, dorthin, wo Industrie sich ansiedelte, und damit kamen sie von einem Elend in ein noch viel größeres. Ketteler wusste, dass Mildtätigkeit allein, dass das eine oder andere gute Werk nicht ausreichen konnten, um diesen Herausforderungen zu genügen. In seinem grundlegenden Werk ‡Die Arbeiterfrage und das Christentum- (1864) suchte er nach Antworten.
Dem dienten auch seine berühmten Ansprachen auf der Liebfrauenheide, zum Beispiel zum Thema "Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit", die er am 25. Juli 1869 vor rd. 10.000 Arbeitern auf der Liebfrauenheide bei Offenbach gehalten hatte. Ebenso suchte er die Fuldaer Bischofskonferenz für diese Frage zu sensibilisieren. Ein Referat, das er dort hielt, hatte den Titel "Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter".
Die Fragen, die Ketteler stellte, waren in jener Zeit etwas Neues. Sie entstanden aus Bedrängnissen dieser Zeit. Es gab keine vergleichbaren Erfahrungen. Und von daher wusste niemand auf Anhieb, wie die Lösung der Arbeiterfrage aussehen könnte. Ketteler hielt zwei Dinge für notwendig: Zum einen plante er die Gründung von fünf Produktivgesellschaften, für die er 50.000 Gulden bereitstellen wollte, und er hoffte,
dass der Arbeiterführer Lassalle, den Ketteler angeschrieben hatte, ihm hier helfen könnte.
Zum Anderen trat er für die Prinzipien der Katholischen Sozialethik ein, hielt an ihren anthropologischen und sozialphilosophischen Einsichten fest und buchstabierte sie auf die neuen Verhältnisse. Vor allem war er davon überzeugt, dass es keine Lösung der sozialen Fragen geben könne, wenn Kirche und Religion aus dem Geschehen ausgeschlossen würden.
Zunächst glaubte Ketteler, der Staat könne zur Lösung der sozialen Frage gar nichts beitragen. Er war anfangs davon überzeugt, dass nur die Katholische Kirche hier Abhilfe schaffen könnte. Er kam im Lauf seines Lebens aber immer mehr zu der Einsicht, dass der Staat und die Kirche in Gemeinsamkeit sich der sozialen Frage, jeder mit seiner eigenen Positionierung, aber nicht gegeneinander annehmen müssten.
Eine christliche Gesinnung hielt Ketteler in dieser Frage für unabdingbar und er sah in ihr den Kern aller möglichen Lösungen. Genauso unabdingbar war es dann für ihn, dass der Staat eine Sozialpolitik auf die Beine stellen müsste und dass Arbeiter in Selbsthilfeorganisationen entsprechenden Schutz und entsprechende Hilfe erfahren sollten.
Ketteler betont auf der Liebfrauenheide 1869 Folgendes: (Im Liberalismus) "Die Arbeit wird nicht nur als Ware, sondern der Mensch mit seiner Arbeitskraft überhaupt als Maschine betrachtet. Wie man die Maschine so billig als möglich kauft, um sie dann Tag und Nacht auszunutzen bis zur Zerstörung, so wird der Mensch mit seiner Kraft nach diesem System gebraucht." Er sagt weiter: "Der Menschenverband wurde zerstört und an dessen Stelle trat der Geldverband in furchtbarer Ausdehnung. Daraus entstanden nun überall, wo sich diese Verhältnisse schrankenlos entwickeln konnten, die fürchterlichsten Zustände." Das heißt, die gesellschaftliche Solidarität wurde aufgekündigt. Ein rücksichtsloser Konkurrenzkampf "alle gegen alle-, der organisierte
Menschenverband der vorindustriellen Gesellschaft wurde durch eine namen- und gesichtslose Masse von Menschen abgelöst."
Den Liberalismus seiner Zeit geißelt Ketteler als schrankenlose Menschenverachtung und er sieht den Sozialismus als ein Kind des Liberalismus an. Im Sozialismus erkennt er zwar viele Züge, die positiv sind, Solidarität zum Beispiel und der Sinn für Gerechtigkeit, aber es fehlt ein positives Menschenbild mit dessen Begründung in der Gottebenbildlichkeit des Menschen.
Sozialethisch setzt er bei der Eigentumsethik an. Der Grundsatz für die Nutzung des Eigentums lautet: ‡Alle Menschen erhalten aus den Gütern dieser Erde all das, was sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt brauchen als Eigentum.- Das Eigentum als Besitz sieht er als Frucht der Arbeit. Es ist also produktives Eigentum und als solches sozialpflichtig. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist ein Rechtsprinzip. Er verpflichtet die Eigentümer für das Gemeinwohl Verantwortung zu übernehmen und dafür zu sorgen, eine möglichst gerechte, breitgestreute Verteilung in der Nutzung des Eigentums zu erreichen.
In seiner Rede auf der Liebfrauenheide 1869 sieht er die Grundlage für die Notwendigkeit von persönlichem Eigentum in der Menschenwürde. Daraus leiten sich die sozialen Menschenrechte ab. Ketteler sagt dazu: ‡Was helfen uns die sogenannten Menschenrechte in den Konstitutionen, wovon der Arbeiter wenig Nutzen hat, solange die Geldmacht die sozialen Menschenrechte mit Füßen treten kann?- Ketteler fordert also das Sozialstaatsprinzip als Verfassungsprinzip, eine Forderung, die erst mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Wirklichkeit wurde.
Die Industriegesellschaft seiner Zeit muss nach Ketteler so gestaltet werden, dass auch der breiten Masse der Arbeiter die Vorteile, die diese Form des Erwerbs von Eigentum hat, als Vorteile zur Verfügung gestellt werden. Das Kapital darf nicht allein das Angebotsmonopol von Arbeitsplätzen haben. Vielmehr bildet die Arbeitskraft der Einzelnen die unabdingbare Grundlage, auf der ein Arbeitsprozess aufbaut, eine
Produktion gelingt, ein Verkauf sich gestaltet und ein Gewinn eingefahren wird, der nicht allein dem Kapital und dem Besitzer zugute kommt, sondern der gerechterweise mit den Arbeitern geteilt werden muss. Aus diesem Ansatz heraus fordert Ketteler eindeutig Gewerkschaftsbewegungen und bejaht auch Streik. Unter Beibehaltung des Rechts auf Privateigentum an Produktionsmitteln möchte er den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit dadurch auflösen, dass er das kapitalistische System zugunsten des Arbeiters umgestaltet.
Ketteler wusste genau, dass diese Ansätze nur langfristig greifen konnten. Deswegen verlangte er als Sofortmaßnahme, dass Kirche ex Caritate helfen müsse, um den Arbeiter und seine Familie in seiner Würde zu verteidigen und dafür einzutreten, dass Kapital, Arbeit und Gewinn allen am Produktionsprozess Beteiligten in gerechter Weise zukommen. Vor der Fuldaer Bischofskonferenz verlangte Ketteler 1869 Kranken-kassen und Krankenhäuser, entsprechende Hilfen für Wöchnerinnen, Sorge für die Neugeborenen, Teilnahme an Lebensversicherung, Ruhegehalt, Renten für Witwen und Waisen, Leichenbestattungsvereine, Bäder-und Waschanstalten, Konsum-und Kreditvereine und die Einrichtung von Werkstätten und Fabriken nach den Gesundheitsregeln.
Es wurde Ketteler immer klarer, dass die soziale Frage nur politisch gelöst werden konnte. Der Staat gab ja das Prinzip der absoluten Gewerbefreiheit vor. Deswegen muss er, so sagt Ketteler, auch für die Folgen aufkommen und die Rahmenbedingungen, die der Würde des Menschen entsprechen, setzen. Daher verlangt Ketteler eine umfassende Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiter. Sie sollte
u.a. enthalten:
Interessant ist, wie Ketteler diese soziale Frage in die Theologie einbringt. Vor der Bischofskonferenz in Fulda sagt er: ‡Die soziale Frage gehört zum Glaubensschatz, das heißt, aus dem Glauben ergeben sich Konsequenzen für die Beurteilung und Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.- Für Ketteler ist die soziale Frage eine pastorale Notwendigkeit. Zwar befasst sich die Kirche nicht zunächst mit dem Kapital der Industrie, sondern mit dem Heil des Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums, durch die Pflege christlichen Lebens und der Nächstenliebe. Aber diese von Christus der Kirche übertragene Aufgabe kann den Menschen nicht dienen, wenn es die soziale Frage ignoriert und sich rein auf die bisher gewohnte Form der Seelsorge beschränkt.
Deswegen entwickelt Ketteler ein pastoraltheologisches 7-Punkte-Programm, mit dem die Kirche folgende Verpflichtungen hat:
Die Förderung verschiedener Arten von Arbeiterorganisationen
Wir können aus dem Aufgeführten gut ablesen, wie bahnbrechend Kettelers Gedanken waren, wie ungewohnt für Kirche und Politik solche Überlegungen sein mussten.
Zusammenfassend lässt sich über Kettelers sozialpolitisches Denken sagen: Er hielt in gleicher Weise die Grundwerte Freiheit und soziale Gerechtigkeit für unabdingbar. Was er über die Grundlagen von Staat und Gesellschaft erarbeitet und publiziert hat, enthält in den wesentlichen Aussagen die Konturen jenes Gesellschaftsverständnisses, aus dem auch heute noch der politische und soziale Katholizismus lebt und seine Impulse in die Gesellschaft einbringt. Seine Aussagen zur Religionsfreiheit, zum Verhältnis von Staat und Kirche, zum Subsidiaritätsprinzip, sein Eintreten für den Rechtsstaat, seine Gedanken über die Demokratie von unten und über das Verhältnis von Politik und Sittlichkeit machen ihn zu einem Wegbereiter des heutigen auf den unverzichtbaren Grund-und Menschenrechten beruhenden demokratischen Staates.
Ketteler war sicher nicht ein christlicher Staatstheoretiker wie es Leo XIII. war, aber dieser Papst, der als erster Papst die soziale Frage aufgegriffen und sie auf der Ebene der Weltkirche behandelt hat, hat immer wieder auf Ketteler verwiesen, hat ihn sein großes Vorbild genannt. Ketteler hatte mit feinem Spürsinn die Fragen der Zeit erkannt.
Ungeachtet dieser immer stärker werdenden Spannungen zwischen katholischer Kirche und Preußischem Staat in der Bismarckzeit haben Kettelers Sozialideen doch ihren Weg in den Raum der Politik gefunden. Sein Neffe, Ferdinand Graf von Galen, Vater des berühmt gewordenen Kardinals von Münster, Clemens August von Galen, hatte am 19. März 1877 vier Monate vor dem Tod Kettelers einen Antrag auf eine umfassende Arbeiterschutzgesetzgebung in den Reichstag eingebracht. Darin wurden zur Gesunderhaltung von Leib und Seele arbeitshygienische Sicherungen gefordert, Versicherungen für die wirtschaftliche Existenz, Kranken-, Invalidität-und Alters
rentenversicherung. Gedanken, die damals im Reichstag bei den Liberalen nur Hohn und Gelächter hervorgebracht haben. Und doch war durch Ketteler ein Grundstein gelegt, auf den andere als Sozialpolitiker aufbauen konnten. Franz Brandt zum Beispiel, Karl Tremborn, Franz Hitze, August Pieper und der Arbeitsminister der Weimarer Republik August Braun.
Ketteler hatte sich auch mit den anderen sozialen Ideen jener Zeit auseinandergesetzt. Auf den Weg zum I. Vatikanum nach Rom las er das "Kapital" von Karl Marx.
Im Juni 1867 gab Papst Pius IX. in Rom bekannt, ein allgemeines Konzil einzuberufen. Dieses wurde dann am 29. Juni 1868 vom Papst feierlich einberufen und am 8. Dezember 1869 in St. Peter eröffnet. Ketteler begrüßte dieses Konzil sehr. In vielfältiger Weise war er bei seiner Vorbereitung beteiligt.
In Deutschland wurde jedoch bei Politikern wie bei Theologen dieses Konzil mit großem Argwohn beobachtet. Man befürchtete eine allzu einseitig abgefasste Erklärung der Unfehlbarkeit, einen sich verstärkenden römischen Zentralismus. Vor allem aber befürchtete die Preußische Staatsführung, dass die Unfehlbarkeitserklärung ein Freibrief für den Papst sei, sich in alle politischen Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Auch führende Katholiken hielten die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit für zeitlich ungünstig und nicht opportun.
Wenige Tage vor Eröffnung des Konzils traf Ketteler in Rom ein. Er wohnte im Germanicum und gehörte zu den wenigen Bischöfen, denen der Papst eine Privataudienz gewährte. Ketteler konnte beim Papst einiges richtig stellen, was andere über ihn fälschlicherweise in Rom alles berichtet hatten.
Während des Konzils selbst bemühte er sich, die Geschäftsordnung des Konzils zu verändern, so dass das breite Spektrum der Konzilsväter in rechter Weise gesehen und gewürdigt würde.
Ketteler hatte sich sehr energisch und intensiv in der Konzilsaula zu Wort gemeldet. Er trat der übertriebenen Auffassung von der Reichweite der Päpstlichen Unfehlbarkeit entgegen und betonte, dass diese nur dann gegeben sei, wenn der Papst ‡ex cathedra- aufgrund seines Amtes in Angelegenheiten des Glaubens und der Sittenlehre ausdrücklich eine unfehlbare Lehre verkündete. Mit Ketteler lehnten etwa hundert andere Bischöfe die Vorlage zum Dogma der Unfehlbarkeit ab. Sie waren nicht inhaltlich dagegen, wollten aber Änderungen dergestalt, dass alle zustimmen könnten. Da diese Bischöfe jedoch nicht mit Nein stimmen wollten, reisten Ketteler und andere am 17. Juli, dem Vorabend der feierlichen Schlussabstimmung, aus Rom ab. Ketteler hielt den Zeitpunkt der Erklärung von der päpstlichen Unfehlbarkeit für nicht günstig. Am Inhalt selbst hatte er nichts auszusetzen.
Trotz seiner kritischen Haltung, die er gegenüber der Kurie und auch gegenüber der Geschäftsordnung für das I. Vatikanische Konzil wie auch gegenüber manchen Phasen des Verlaufs hatte, war Ketteler ein treuer Sohn der katholischen Kirche. Mit inniger, kindlicher Verehrung hing er am Papst. Pius IX. stand bei ihm in hohem Ansehen. So war es für ihn auch klar, dass er an den Feierlichkeiten anlässlich des Goldenen Bischofsjubiläums des Papstes im Juni 1877 nach Rom reisen würde. Es war die fünfte seiner Romreisen. Der Papst hat sich über das Kommen Kettelers sehr gefreut und hat ihm besondere Aufmerksamkeit auch in einer Privataudienz zuteil werden lassen. Wie bei früheren Rombesuchen predigte er in der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell Anima. Seine letzte Predigt dort hatte das Thema ‡Die Stellung des Papstes und der Kirche in der modernen Welt-. Diese Predigt wurde als sein geistliches Testament betrachtet.
Noch bevor Ketteler nach Rom aufgebrochen war, hatte er sich eine Erkältung zugezogen, der er keine große Beachtung schenkte. Diese hatte jedoch immer mehr von ihm Besitz ergriffen und ihn sichtlich geschwächt. Völlig erschöpft hat er die Ewige Stadt verlassen und kam nach mehreren Zwischenstationen in den Wallfahrtsort Altötting. Dort feierte er seine letzte Heilige Messe. Anschließend reiste er in das
Kapuzinerkloster Burghausen, um einen alten Freund im dortigen Kapuzinerkloster zu besuchen. Er vermochte sich jedoch nicht mehr zu erholen. Am 13. Juli 1877 verstarb Ketteler in Burghausen und wurde am 18. Juli seinem Wunsch gemäß in der Marienkapelle des Mainzer Domes beigesetzt. Die Inschrift auf seinem Sarkophag lautet:
"Der Hochwürdigste Herr Wilhelm-Emmanuel Freiherr von Ketteler, 27 Jahre Bischof der Kirche von Mainz, mächtig in Wort und Werk, von den Gräbern der Apostelfürsten eben zurückkehrend, im Kapuzinerkloster zu Burghausen am 13. Juli 1877 fromm entschlafen, harrt hier der Auferstehung."
Es gab in Deutschland keinen anderen Bischof, der so selbstlos und selbstsicher, in so viel Redlichkeit und religiösem Ernst mit Entschlossenheit und Tatkraft die Aufgabe seines Bischofsamtes erfüllt hat. Er stand auf dem schmalen Boden, den die Katholische Kirche in Deutschland nach 1803 einzunehmen hatte, und er stand dort mit der Kraft und dem Eindruck seiner Persönlichkeit.
66 Jahre wurde Bischof Ketteler alt. 27 Jahre war er Bischof von Mainz. Er steht als eine besonders markante Gestalt unter den herausragenden Bischöfen, mit denen das Bistum Mainz seit Bischof Colmar gesegnet war und bis heute gesegnet ist.
(c) Weihbischof Dr. Werner Guballa
Es gilt das gesprochene Wort!
* Vorträge von Weihbischof Dr. Werner Guballa am „Tag der Caritas", 9. Juni 2011, im Erbacher Hof und am „Tag der Theologiestudierenden (TheoTag)", Mittwoch, 15. Juni 2011, in der Kath. Hochschulgemeinde Mainz
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