Wir haben nun im Jahr 2011 immer wieder die Erinnerung an Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811 bzw. 1850-1877) gepflegt und wach gehalten. Es gab viele einzelne Tagungen innerhalb und außerhalb des Bistums, zu einem guten Teil auch an seinem Grab hier im Dom. Dies gilt besonders auch für die Verbände, die in der Arbeitswelt rührig sind. Im Erbacher Hof haben wir gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz am 25./26. November 2011 zum 200. Geburtstag eine große Tagung abgehalten „Freiherr Wilhelm Emmanuel von Ketteler - der unmodern Moderne". In diesem Zusammenhang wurde auch der Band der Hirtenbriefe, der in der bisher elfbändigen Edition der „Sämtlichen Werke und Briefe" fehlte, in einer Neuausgabe der Öffentlichkeit übergeben (I,6). Wir werden die zahlreichen Referate dieser großen Tagung demnächst auch in den Druck geben. Es gibt manche neue Erkenntnisse, die wir weitergeben wollen.
Das Bistum selbst hat das Andenken an seinen wohl bedeutendsten Bischof seit der Gründung der neuen Diözese Mainz dadurch lebendig zu machen versucht, dass wir in Erinnerung an die sechs Adventspredigten des Pfarrers von Hopsten „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart" vom 19.11. bis 20.12.1848 neu auszulegen versucht haben. Dabei haben wir begonnen mit der Lesung einer Predigt von Intendant Professor Hansgünther Heyme eben aus diesen Predigten. Er sprach von der Kanzel, wie es damals üblich war. In den Adventspredigten im Dezember 2011 und in den Predigten zur Österlichen Bußzeit 2012 haben wir uns dann die wichtigsten Sachbereiche in den Predigten vor Augen geführt, drei im Advent, vier in den sogenannten Fastenpredigten. Ein gewisser Höhepunkt zwischen diesen beiden Predigtreihen war die Feier des 200. Geburtstages selbst, die wir am 1. Weihnachtsfeiertag - Ketteler ist am 25.12.1811 geboren - im Dom mit dem Festgottesdienst und einer Statio am Grabe verbinden konnten. Auch bei anderen Gelegenheiten, über die wir jetzt nicht länger handeln müssen, haben wir immer wieder die Spuren Kettelers innerhalb und außerhalb des Bistums entdeckt. Ob wir diese sieben Predigten gemeinsam veröffentlichen, muss noch entschieden werden.
Wir haben zurückgeblickt in eine Zeit, die uns gewiss schon fremder geworden ist. Die historische Forschung der letzten Jahrzehnte hat uns den geschichtlichen Ort Kettelers und die Rolle der Katholischen Sozialbewegung im 19. Jahrhundert noch näher gebracht. Lag der Katholizismus nach der Jahrhundertwende ziemlich am Boden und glich einem morschen Gebäude, so ist im Zusammenhang der Frankfurter Nationalversammlung 1848 ein neuer Aufbrauch spürbar geworden. Die deutschen Katholiken spürten, dass sie den sozialen Problemen nicht ausweichen konnten und durften. Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler wurde zum Erwecker des sozialen Gewissens. Er hatte nicht nur große Bedeutung für die katholische Sozialbewegung Deutschlands, sondern kämpfte für die Freiheit in einer vom Liberalismus und vom Staatskirchentum beherrschten und vom Sozialismus geprägten Welt. Besonders gegen sein Lebensende hat sich diese Auseinandersetzung im Kulturkampf gesteigert. Eine Frucht in unseren Bemühungen um das Bild Kettelers ist auch die Einsicht in die große Bedeutung des Mainzer Bischofs für die Seelsorge in seiner Zeit, darum ist auch die Neuausgabe der Hirtenbriefe wichtig.
Aber wir haben natürlich nicht nur nach rückwärts geschaut, sondern haben die Auswirkungen der Anstöße Bischof Kettelers in der Katholischen Soziallehre und in der Sozialpolitik näher verfolgt bis in unsere Gegenwart hinein. Dabei ist uns aufgefallen, in welch hohem Maße Bischof Ketteler in seiner Zeit vorausgeblickt hat in die Zukunft und wie er vieles vorbereitet hat, was bis zum heutigen Tag wirkt. So ist gleichsam als Zusammenfassung all dieser Dinge der Titel dieser letzten Predigt entstanden: Bischof von Ketteler als Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dabei wollen wir eine wichtige Mahnung des hl. Ignatius von Loyola nicht vergessen, der uns mit Recht warnt, wir sollten nicht so rasch von einem zweiten Paulus, Augustinus usw. und ähnlichen Dingen reden. Jede Zeit ist einmalig. „Wir müssen uns hüten, Vergleiche anzustellen zwischen den heute Lebenden und den Seligen früherer Zeiten." (Exerzitien, 12. Regel über die kirchliche Gesinnung) Dies gilt natürlich auch für eine Formulierung wie „Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils". Wenn wir uns dieser Gefahr bewusst sind, können wir dennoch einen solchen Versuch machen.
1) Bischof Ketteler hat früh erkannt, dass die soziale Verantwortung des Christen im Glauben verwurzelt ist. Das Eintreten der Kirche für soziale Gerechtigkeit und Liebe ist nicht Politik, vielmehr Seelsorge. Er hat am 19.11.1848 und in seiner Schrift aus dem Jahr 1864 „Die Arbeiterfrage und das Christentum" unvergessliche Worte dazu gesagt. Auch das Gutachten für die Bischofskonferenz vom September 1869 spricht aus dieser großen Verantwortung. Die traditionelle Seelsorge genüge nicht mehr. Um des ewigen Seelenheils willen müsse sich die Seelsorge mit der sozialen Frage befassen, die durchaus mit dem Glauben eng zusammenhänge. Sonst würden die Arbeiter der Kirche zurufen: „Was helfen mir eure guten Lehren und eure Vertröstungen auf eine andere Welt, wenn ihr mich in dieser Welt mit Weib und Kind in Hunger und Not darben lasst. Ihr sucht nicht mein Wohl, ihr sucht etwas anderes." (Schriften III, 150-153) In diesem Sinne hat Bischof Ketteler wirklich die Katholiken zu einem erneuerten sozialen Engagement aufgefordert und gerüstet. Dies gilt aber nicht nur für den deutschen Bereich, denn Bischof Ketteler war z. B. für die Entwicklung der Katholischen Soziallehre, wie Papst Leo XIII selbst sagte, „ein großer Vorgänger", als dieser 1891 seine erste Sozialenzyklika „Rerum novarum" schrieb. Es ist, so bin ich überzeugt, kaum zu überschätzen, in welcher Weise Bischof von Ketteler seinen Einsatz für soziale Gerechtigkeit dem deutschen Katholizismus als Erbe weitergab. Dies spiegelte sich auch noch bei der Gemeinsamen Synode (1971-1975), als das Thema „Kirche und Arbeiterschaft" diskutiert wurde (Offizielle Gesamtausgabe I, 313-364). Dabei ist es selbstverständlich, dass die soziale und wirtschaftliche Lage sich zwischen Ketteler und der Gegenwart außerordentlich verändert hat. Auch Ketteler konnte nicht alles realisieren, was er plante. So ist die nicht nur von ihm aufgeworfene Idee einer Teilnahme der Arbeiter am erwirtschafteten Vermögen von Unternehmen, die sogenannten Produktiv-Assoziationen bzw. Produktivgenossenschaften, zwar immer noch in Diskussion, aber Ketteler musste auch hier sehen, dass die harte Wirklichkeit oft anders ist.
2) Eine wichtige Voraussetzung für diese Erkenntnis der gesellschaftlichen, besonders sozialen Wirklichkeit ist die Wahrnehmung der „Zeichen der Zeit" (Mt 16,4). Ketteler hatte ein Gespür für den weltgeschichtlichen, nicht aufzuhaltenden Wandel, der sich damals im gesellschaftlichen Gefüge und in den wirtschaftlichen Verhältnissen Deutschlands zu vollziehen begann. Am 03.12.1848 sprach er hier im Dom den erstaunlichen Satz: „Man kann ... von der jetzigen Zeit nicht reden und noch weniger ihre Lage in Wahrheit erkennen, ohne immer wieder auf unsere sozialen Verhältnisse und insbesondere auf die Spaltung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, auf den Zustand unserer armen Mitbrüder, auf die Mittel hier zu helfen, zurückzukommen ... Wollen wir also die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, der erkennt die Gegenwart; wer sie nicht begreift, dem ist Gegenwart und Zukunft ein Rätsel" (Schriften II, 227ff.).
3) Zu diesen „Zeichen der Zeit", die ja in einigen Grundtexten des Zweiten Vatikanischen Konzils eine große Rolle spielen (vgl. UR 4, AA 14, GS 4 und 11, PO 9), gehört wohl auch die Einsicht, welche Stunde in der ökonomischen und sozialen Entwicklung geschlagen hat. Während nicht nur Ketteler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Meinung teilte, dass eine Intensivierung des christlichen Glaubens und vor allem der Nächstenliebe eine Wende in der immer dringlicher gewordenen Armutsbekämpfung bewirken könnte, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere Einsicht notwendig. Nicht eine Verteufelung von Industrie und Kapitalismus war nach Ketteler angezeigt, der Katholizismus sollte vielmehr innerhalb des kapitalistischen Systems an der Gestaltung einer sozialen Welt mitarbeiten. So ging Ketteler immer entschiedener den Weg der Sozialpolitik, womit ein gewerkschaftlicher Zusammenschluss der Arbeiter und eine Einschaltung der staatlichen Gesetzgebung zur Ordnung und Humanisierung der industriellen Arbeitswelt gegeben war. Es war Kettelers Überzeugung, dass dies der bessere Weg war. So stellte er 1865 fest: Auch Religion und Sittlichkeit reichen nicht aus, um die Arbeiterfrage zu lösen. Gewiss, der Staat muss mithelfen, die Kirche muss helfen - alles muss die Hand reichen, den Stand vor dem Verderben zu schützen, vor dem der Zahl nach alle anderen Stände zusammengenommen beinahe verschwinden. Nicht durch eine romantische Verteufelung der modernen Welt war dem Arbeiter zu helfen, nicht gegen, sondern innerhalb dieses Systems hatte nach Ketteler fortan der Katholizismus an der Gestaltung der sozialen Welt mitzuarbeiten. Ketteler ist überzeugt, dass „die soziale Frage mit dem Lehr- und Hirtenamt der Kirche unzertrennlich verbunden" ist (Schriften III, 151). Danach ist, wie Ketteler mit großem Realismus feststellt, die „soziale Frage das schwierigste und wichtigste Problem der Gegenwart" (ebd. 145). Vor diesem Hintergrund stellt Ketteler berechtigte einzelne Forderungen an die staatliche Gesetzgebung.
4) Ein weiteres Feld, auf das sich Kettelers Aktivitäten bezogen, waren die Freiheitsrechte und die Freiheit der Kirche. Diese waren durch absolutistische Praktiken der meisten deutschen Staaten eingeschränkt, besonders aber auch die Freiheit der Kirche durch einen zunehmend intolerant werdenden weltanschaulichen Liberalismus. Besonders in der Zeit des Kulturkampfes hat der Mainzer Bischof mit großer Schärfe die Einhaltung der Freiheit für die Kirche verlangt. Für uns ist diese Forderung heute eher selbstverständlich. Sie war es keineswegs in den letzten Jahren von Kettelers bischöflichem Wirken. In vielen Ländern müssen die Kirchen heute noch sehr darum ringen. Die Verwirklichung der Religionsfreiheit ist eine der wichtigsten Forderungen in der heutigen Welt.
5) Ganz wichtig ist aber auch das Verhältnis Kettelers zum Ersten Vatikanischen Konzil. Ketteler war in seiner ganzen Einstellung theologisch eher sehr konservativ. Manche sehen ihn wirklich als einen ultramontanen Vertreter. Umso erstaunlicher ist es, dass Ketteler zu den dezidierten Gegnern einer Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes in der von der Mehrheit vertretenen Form gehörte. Dies ist insofern weniger erstaunlich, als das Kirchenbild Kettelers von Johann Adam Möhler und Ignaz Döllinger geprägt war. Deshalb ist Ketteler in der Unfehlbarkeitsfrage im Unterschied zu den in Mainz wirkenden Theologen einen eigenen Weg gegangen. Er vertrat die Anschauung, die Kirche sei ein lebendiger Organismus. Deswegen forderte er ein grundlegendes Miteinander von Primat und Episkopat. Er wollte darum keine isolierte Behandlung der Lehre über den Primat. Darum war er nicht einverstanden, die Darstellung des Primates und der Unfehlbarkeit des Papstes vom Gesamtschema über die Kirche zu trennen und gesondert vorweg zu behandeln.
Nun muss man seine Haltung recht verstehen. Er selber betrachtete die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes „als die Norm meines Lebens und meines Gewissens ... Etwas anderes aber ist es, ob ich oder ein anderer Bischof das Recht habe, diese Lehre andern, ja der ganzen Christenheit, als Dogma unter der Strafe der Ausschließung von der Kirche aufzulegen. Ehe ich oder ein anderer Bischof diese unermessliche Gewissensverantwortung auf die Seele legen kann, genügt es nicht, dass ich sie mit Freuden für wahr halte und zur Norm meines Lebens nehme, sondern dass ich alle einschlägigen facta der Kirchengeschichte auf das Genaueste persönlich prüfe und nicht nur mich frage, ob ich nach denselben sie selbst für wahr halten darf, ob ich sie als die beste, die zuverlässigste, die wahrscheinlichste Meinung meinen Diözesanen predigen darf, sondern ob ich es ihnen nach Prüfung aller dieser Tatsachen unter dem Anathem auflegen darf." (Schriften III, 509) Schließlich hat Ketteler noch einen Besuch bei Papst Pius IX selbst gemacht.
Bekanntlich ist Ketteler mit der Mehrheit der deutschsprachigen Bischöfe mit seinen Forderungen nicht durchgedrungen. Die Mehrheit des Konzils entschied anders. So ist er vor der feierlichen Schlussabstimmung von Rom abgereist. Man muss diese seine Haltung richtig verstehen, was auch damals nicht leicht gewesen ist: Ketteler war nicht unter bestimmten Bedingungen gegen die Unfehlbarkeit des Papstes, aber er wollte die Fragen noch besser historisch und theologisch klären und sah in einer unnötig überzogenen Formulierung eher einen Schaden für die Kirche.
Was Ketteler damit meinte, ist schließlich beim Zweiten Vatikanischen Konzil geschehen, wo der Primat des Papstes grundlegend mit der Kollegialität der Bischöfe zum Ausgleich gebracht worden ist. Man kann von heute aus sagen, dass das Zweite Vatikanische Konzil mit der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche" das Anliegen Kettelers im Jahr 1964 erfüllt hat, „und zwar auf tiefere und gründlichere Weise, als es 1870 möglich gewesen wäre" (E. Iserloh). Auch dies ist ein wichtiges Beispiel, wie Bischof Ketteler ein Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils werden konnte.
6) Bischof von Ketteler hat auch in anderer Hinsicht das Denken der Katholiken bestimmt. Er war gewiss trotz seiner zwar kurzen, aber theologisch qualifizierten Bildung in Eichstätt und München kein fachwissenschaftlich ausgewiesener Theologe. Er war mehr ein Mann der konkreten Tat. Dafür war er aber theologisch solide gerüstet. Durch seine große rhetorische Kunst war er auch in der Lage, das Evangelium Jesu Christi überzeugend in die Lebenswelt der Menschen umzusetzen. Ich habe bei seinem 200. Geburtstag am 25.12.2012 eine Aussage von ihm aus einer Adventspredigt des Jahres 1849 näher ausgelegt, die zeigt, wie er die zentralen Wahrheiten des katholischen Glaubens in eindrucksvoller Weise zum Ausdruck bringen konnte. So sagte er: „Wenn Jesus Christus sich durch die Größe unseres Elendes nicht abhalten ließ, sich vom Himmel zu uns herabzulassen, so sollen auch wir, wenn wir Christen sind, dort hineilen, wo die Not am größten ist." Dies gibt einen tiefen Blick in das Herz dieses großen Bischofs. Dadurch hat er in beeindruckender Weise die Wahrheit des Glaubens, die Seelsorge und die Caritas miteinander eng verbunden. Der zu uns herabsteigende Gott verlangt auch von uns, dass wir in die Nöte unserer Welt absteigen. So hat Bischof Ketteler nach meinem Empfinden die Bedeutung der Caritas und der Diakonie, aber auch die missionarische Dimension unseres Glaubens, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil und in den Dokumenten danach wichtig geworden sind, vorbildlich vorweggenommen. Man darf also in Ketteler nicht nur seinen Kampf für die sozialen Nöte seiner Zeit und für die Freiheit der Kirche sehen, sondern wir müssen die innigste Verbindung immer wieder bewusst machen zwischen unserem Glauben und dem Eintreten für eine wahrhaft bessere Welt. Nur so konnte er sagen: „Unsere Religion ist nicht wahrhaft katholisch, wenn sie nicht wahrhaft sozial ist ... Nur dann, wenn unsere Kirche eine wahrhaft soziale Kirche ist, ist sie eine wahrhaft katholische Kirche." (Schriften III, ...)
7) Natürlich war es Ketteler nicht allein, der solche Ideen hatte und sie kraftvoll verkündete. Aber er ist in herausragender Weise zu einem Sprecher geworden, der diese Leitideen des Lebens der Kirche in besonderer Weise, vor allem überzeugend und leidenschaftlich verbreitet hat. Überhaupt war Ketteler im Umgang mit Menschen mutig, redlich und glaubwürdig. Dies geht besonders auch aus seinem Briefwechsel hervor. Dies gilt etwa für den Briefverkehr mit Papst Pius IX., mit Bismarck, mit dem Arbeiterführer Ferdinand Lasalle, aber auch mit einfachen Mitgliedern aus den Pfarrgemeinden der Diözese. Bischof Ketteler war selbstbewusst und mutig. Er war kein Freund versteckter Diplomatie.
Dies zeigt auch sein Umgang mit dem Mainzer Domkapitel. Dabei ging es zum Teil um die Rechte und Pflichten von Bischof/Domkapitel an der Domkirche. Man wird gewiss nicht alles rechtfertigen können, was Bischof Ketteler in dieser Hinsicht gesagt und getan hat. Wie wir heute durch den Briefwechsel wissen, konnte er manchmal auch geradezu zornig werden. Aber exemplarisch bleibt doch auch die Offenheit des Umgangs miteinander. Ein Historiker unserer Tage schreibt: „Der Umgang zwischen Bischof und Domkapitel scheint mir beiden zur Ehre zu gereichen. Ein willensstarker, selbstbewusster Bischof, der im Interesse seiner Handlungsfähigkeit seine Rechte bis an die Grenzen ausschöpfen wollte, und ein ebenfalls selbstbewusstes Domkapitel, das seinerseits auf die Wahrung seiner Rechte bedacht war und sich nicht scheute, einer so starken Persönlichkeit wie Ketteler entgegenzutreten." (K. Ganzer) Dies ließe sich in vieler Hinsicht noch an zahlreichen Beispielen genauer darlegen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der große Bischof auch lernen musste, dass nicht alles, was ihm wichtig war, gelingen konnte. An manchem hat er trotz größten Engagements nicht viel ändern können. Man darf in ihm nicht nur den mächtigen, großen, rhetorisch fähigen Bischof sehen. Diesen hoheitsvollen, starken Bischof mit einer imponierenden Persönlichkeit gibt es. Wir haben auf dem Mainzer Bischofsplatz eine bronzene Plastik Kettelers des aus Darmstadt stammenden Professor Thomas Duttenhoefer. Er hat sich unermüdlich in die spannungsvolle Gestalt dieses Bischofs aus einem adligen Geschlecht eingearbeitet, der zugleich so viel Sinn für die arbeitende Bevölkerung hatte. Er hat die hoheitliche Gestalt nicht verleugnet, ihr aber zugleich Nähe und Wärme verleihen können. Ketteler neigt sich zu den Menschen „unten". Er kennt ihre Armut. Darum findet man auch an seinem Bischofsgewand aufgesetzte Flicken. Die unübersehbare Figur mit der Bischofsmitra wirkt mächtig und überlegen, nicht primär durch Macht und Einfluss, sonder eher durch ihr Herabgeneigtsein. Trotzdem begegnet uns hier unverkennbar ein Mann mit entschiedenem Willen, der sich mit allen Kräften durchsetzen möchte.
Das Ketteler-Denkmal auf dem Bischofsplatz ist ein Symbol für die Kirche. Sie lebt erst richtig, wenn sie sich an die Straßen und Wegkreuzungen der Menschen im offenen Gelände begibt. Es ist aber zugleich ein Mahnmal. Es erinnert uns an die Verpflichtung zum Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Eine Kirche, die täglich diesen Mann und sein Werk öffentlich vor Augen hat, muss sich durch neue Gesichter der Not hier und weltweit herausfordern lassen. Dabei war es ein wichtiger Grundsatz des politischen Willens Bischof Kettelers, mit allen bereiten und einsatzfähigen Gruppen das Gute anzustreben.
Wir haben im vergangen Jahr immer wieder Gelegenheit gehabt, die Persönlichkeit und das Wirken Kettelers, auch und gerade durch neuere Forschungen, kennenzulernen. Dies soll uns Ansporn sein, sein Erbe auch im Alltag unseres Lebens zu verwirklichen. Schließen möchte ich mit einem kleinen Rückblick auf ein Wort von Papst Benedikt XVI., das er unmittelbar nach der Ankunft im Deutschland bei seinem Staatsbesuch am 22. September 2011 in Berlin sagte: „Die Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander. ‚Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion.' Dieses Wort des großen Bischofs und Sozialreformers Wilhelm von Ketteler, dessen zweihundertsten Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, ist heute nach wie vor aktuell."
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz