Das Pontifikalamt wird zugleich als der „gelobte Gottesdienst" der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung gefeiert: Am 13. Juli 1934 haben die katholischen Arbeiter nach der Störung der Wallfahrt durch die Nazis ein Gelöbnis gegen Neuheidentum und sittliche Verwilderung mit einem gemeinsamen Treuebekenntnis abgelegt, womit ein Versprechen gegeben wurde, sich jährlich am Todestag Bischof von Kettelers zu einem Gottesdienst an seinem Grab im Mainzer Dom einzufinden. Die KAB erfüllt seit 1949 ihr Gelöbnis.
In diesen Monaten des Jahres 2001/02 feiern wir gleich zwei Ketteler-Gedenktage: Am Weihnachtstag des vergangenen Jahres waren 190 Jahre vergangen, seit er am 25.12.1811 in Münster geboren und am 26.12. in der dortigen St. Lamberti-Kirche getauft wurde; heute, am 13.07.2002, sind es 125 Jahre, dass der große Mainzer Bischof am 13.07.1877 bei der Rückkehr von seiner fünften Romreise im Kapuzinerkloster Burghausen bei Altötting starb und am 18.07. nach seinem eigenen Wunsch in der Marienkapelle des Mainzer Doms beigesetzt wurde.
Wenn wir heute dieses Jubiläums gedenken, darf es bei aller Bewunderung der Gestalt des Bischofs von Ketteler nicht nur um einen verklärten Rückblick gehen. Wir wollen vielmehr uns fragen, was wir von ihm für die Erfüllung unseres heutigen Auftrages lernen können. Dabei wissen wir, dass wir ihn nicht kopieren können: Unsere Zeiten und unsere Herausforderungen sind verschieden, aber zweifellos gibt es Gemeinsamkeiten, die mit der Einheit in unserem Glauben zusammenhängen.
Auch wenn Bischof von Ketteler zu einer Adelsfamilie gehörte, hatte er stets eine tiefe Sensibilität für die Not und für die Bedürfnisse aller Menschen. Vielleicht hing dies auch damit zusammen, dass er in einer Familie von neun Kindern von früh auf Rücksicht und Solidarität einüben musste. Darum konnte er wohl auch nie genug die Vorzüge eines intakten Familienlebens rühmen. Als er Kaplan in Beckum (1844) und bald darauf Pfarrer in Hopsten (1846) wurde, hat er sich zuerst der Armen und Kranken angenommen. Als Kaplan regte er in Beckum bereits die Errichtung eines Krankenhauses an. Auch in seiner Pfarrei war die Armut groß, verschärft durch eine Hungersnot und seuchenartige Infektionskrankheiten. Er selbst pflegte die Typhus-Kranken, ging in die Häuser, die von allen gemieden wurden, und wusch die Leichen. Gleich nach seinem Amtsantritt in Hopsten schreibt er die Worte nieder: „Da macht mir jetzt der Leib der mir Anvertrauten noch mehr zu schaffen wie die Seele, und es ist mir eine recht bittere Erfahrung, dabei so wenig helfen zu können." Dies ist das erste, was wir von ihm lernen können: Der Seelsorger von Ketteler, der er zeitlebens blieb, hatte eine große Witterungsfähigkeit für soziale Not und ihre Herausforderungen. Er war nie einfach ein distanzierter Beobachter, sondern er ließ sich von der Not anrühren. Dabei blieb es aber nicht, denn er war zugleich ein großes Talent für die rasche Planung und wirksame Organisation von Hilfe vor Ort.
Auch wir brauchen immer wieder diese eindrucksvolle Sensibilität und rasche Entschlusskraft. Sie müssen besondere Kennzeichen der sozialen und caritativen Aktivität von Christen sein. Wir dürfen nicht als neugierige Zuschauer durch die Welt gehen, sondern müssen wirklich die Verhältnisse aus der Nähe kennen, mit den betroffenen Menschen leiden und dürfen nicht zögern, uns die Hände schmutzig zu machen. Dabei gibt es zwar auch heute noch viele materielle Nöte sogar bei uns, aber die Wahrnehmungsfähigkeit muss noch viel größer sein, weil die Not heute viele Gesichter hat, die nicht selten verschämt, verborgen und unsichtbar ist, besonders wenn es um tiefe Verletzungen und um Isolierung von Menschen geht. Ein großer Kirchenvater hat einmal geschrieben, die Fühllosigkeit - er sprach von „Anästhesie", unser Wort für Narkose - sei die Wurzel und der Anfang aller Verfehlungen und Sünden der Menschen. Unsere Ellenbogen-Gesellschaft, bei der sich jeder rücksichtslos durchzusetzen versucht, bezeugt dies reichlich.
Es ist unglaublich, wie rasch der junge Pfarrer kurze Zeit danach von den Menschen in der Umgebung seiner Pfarrei mit all seinen Talenten entdeckt wurde. Darum riet Kettelers Beichtvater auch, er möge dem Drängen nachgeben und sich zum Vertreter der Region in die Frankfurter Nationalversammlung wählen lassen. In Frankfurt war er ein Mann, der sich, zuerst im Bündnis mit den Liberalen, grundlegend für die Menschenrechte einsetze. Darum forderte er auch Freiheit für die Kirche. Die einzige Rede, die man ihn im Frankfurter Parlament halten ließ, ging über die Schulfrage, in der er die volle Lehr- und Lernfreiheit und das Recht der Gemeinden auf eine Volksschule forderte. Als im September 1848 angesehene Abgeordnete kaltblütig ermordet wurden, hielt Ketteler die Leichenrede. Darin hat er vor allem die innere Zersetzung und den verführerischen Missbrauch von großen Idealen wie Frieden, Gleichheit und Brüderlichkeit aufgedeckt.
Mit einem Mal war Ketteler ein in ganz Deutschland bekannter Mann. In dieser Zeit sprach er auch bei seinen berühmten sechs Adventspredigten im Mainzer Dom über „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart" und schärfte seinen Hörern ein: „Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel." Hier ist schon eindeutig von den „Zeichen der Zeit" die Rede, die man nicht übergehen darf, weil wir sonst unsere Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nie erreichen. Pfarrer von Ketteler, der bald darauf die Aufgabe eines Propstes an der Hedwigs-Kirche in Berlin, freilich nur für ein halbes Jahr, übernahm, hatte ein untrügliches Gespür für die Grundrechte des Menschen. Sie sind auch dem Staat vorgegeben. Sie sind jedem Menschen, weil er ein Geschöpf Gottes ist, verliehen und nicht von Gnaden des Staates. Deswegen konnte Ketteler unerbittlich für alle Rechte kämpfen, die auch dem Gesetzgeber vor- und übergeordnet sind. Hier geht es bereits um das, was wir heute den Rechtsstaat nennen. Ketteler weiß natürlich auch, dass man sich zur Durchsetzung dieser Erkenntnisse in der Öffentlichkeit einsetzen und sie voll Freimut (die biblische „parrhesia"), gelegen oder ungelegen, vertreten muss. Dies wird ihn sein ganzes Leben lang auszeichnen, nachdem er im März 1850 von Papst Pius IX. zum Bischof von Mainz ernannt wurde.
Christentum und Kirche dürfen sich nicht in die Nischen unseres Lebens und auch nicht in die hehre Innerlichkeit des Herzens zurückziehen und verstecken, sondern müssen unentwegt die Frohe Botschaft von den Dächern künden und an die Hecken und Zäune unserer Gesellschaft gehen. Dazu gehört eben auch der Mut der Männer von 1934, hier in Mainz sich zu Christentum und Kirche zu bekennen, auch wenn sie durch eine alles übertönende Hitlerrede gestört wurden. Schließlich waren Männer dabei wie Nikolaus Groß, der am 7.10.2001 als Märtyrer selig gesprochen wurde und uns in besonderer Weise Vorbild ist und bleibt. Liebe Schwestern und Brüder, vergessen wir nicht, welche hohen Chancen des Glaubens wir gerade durch unsere großen Zeugen haben!
Ketteler wurde rasch zum „Arbeiter-Bischof". Die industrielle Arbeitswelt stellte Aufgaben, für die Staat und Gesellschaft nicht gerüstet waren und die in immer höherem Maß die caritativen Dienste der Kirche forderten: Krankenpflege, Alters- und Invalidenversorgung, Betreuung der Kleinkinder arbeitender Eltern, Schutz der Jugend in Lehrlings- und Mädchenheimen. Die Ordensschwestern verschiedener Gemeinschaften, die Ketteler in das Bistum rief oder sie auch wie die Schwestern der Göttlichen Vorsehung gründete, leisteten hier besonders in Schule und Krankenpflege eine herausragende Pionierarbeit. Er hat sich für die Waisenkinder und die gebrechlichen Alten sowie für die entlassenen Strafgefangenen eingesetzt. Aber unermüdlich lag ihm die Fürsorge für die Arbeiter am Herzen. So hat er in die Gewissen aller hineingerufen: „Christus ist nicht nur dadurch der Heiland der Welt, dass er unsere Seelen erlöst hat - er hat auch das Heil für alle anderen Verhältnisse der Menschen, Bürgerliche, Politische und Soziale gebracht. Er ist insbesondere auch der Erlöser des Arbeiterstandes." Dabei wurde Ketteler und seinen Hörern bis zu seinen großen Reden 1869 auf der Liebfrauenheide bei Offenbach und zugleich vor der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda deutlich, dass caritative Hilfe allein die soziale Frage nicht lösen kann. Deshalb betritt er ganz entschieden die Brücke, die von der caritativen Fürsorge zu Sozialreform und Sozialpolitik führt, eine Entdeckung, die besonders die jüngere Erforschung des Arbeiterbischofs hervorhebt. Hier scheut sich Ketteler auch nicht vor Gesprächen und Anleihen von einzelnen Gedanken bei politisch und weltanschaulich sonst Andersdenkenden, nämlich z.B. bei Ferdinand Lassalle. So verlangt er eine Erhöhung des Arbeitslohns, eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährung von Ruhetagen, ein Verbot der Kinderarbeit und die Abschaffung der Arbeit von Müttern und jungen Mädchen in den Fabriken. So hat er auch die Einführung unserer sozialen Sicherungssysteme und die Gesetzgebung zum Arbeiterschutz gefordert und vorbereitet. Die Zentrumspartei hat besonders nach seinem Tod diese sozialpolitischen Aufgaben aufgegriffen und schließlich ihnen zum Durchbruch geholfen, während die Liberalen dagegen waren und die Sozialisten abseits standen. Ketteler wollte eine Veränderung der Verhältnisse innerhalb des Systems der modernen Wirtschaft und Gesellschaftsordnung. Man kann das System nicht einfach umstürzen, man muss es von innen her mildern und korrigieren.
Die Sorge um die soziale Frage kommt bei Ketteler tief aus dem Herzen des Seelsorgers, auch wenn sie sich sehr weltlich äußert. Die soziale Frage ist eng, ja unzertrennlich mit dem Hirtenamt verbunden. In einer desolaten Lage können viele Menschen ihre Christenpflichten überhaupt nicht erfüllen. Sie rufen mit Kettelers Worten der Kirche zu: „Was helfen mir eure guten Lehren und eure Vertröstungen auf eine andere Welt, wenn ihr mich in dieser Welt mit Weib und Kind in Hunger und Not darben lasst. Ihr sucht nicht mein Wohl, ihr sucht etwas anderes." Gibt es auch heute in aller Welt stärkere Motive als diese elementare Sorge um den Menschen auf der Basis des Evangeliums?
Immer stärker muss Ketteler für die Freiheit der Kirche kämpfen. Er verlangt Achtung vor der Religion und vor dem Gewissensbereich. Er ist nach dem Krieg von 1866 und der Einigung Deutschlands, besonders aber in der Zeit des Kulturkampfes überaus enttäuscht über die Knebelung der Kirche. Er geht nun mit dem Liberalismus härter ins Gericht, der nach Kettelers Überzeugung seine besten eigenen Einsichten verrät. Wie schon früher ist er fest überzeugt: „Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf die Freiheit der Religion." Er sieht ein ganz enges Bündnis zwischen der Freiheit und der Kirche. Freilich verlangt dies auch recht verstandene Freiheit in der Kirche selbst. So gibt es zwar Züge der Resignation vor allem nach 1870, wobei hier auch Kettelers Erfahrungen mit dem Ersten Vatikanischen Konzil eine Rolle spielen, aber er bleibt bis zum Schluss standhaft und kämpferisch. Dennoch ist und bleibt er Seelsorger und ist bei aller Klarheit und Entschiedenheit auf Ausgleich bedacht. Der Künstler Prof. Duttenhoefer hat in dieser Hinsicht die Ketteler-Gestalt auf dem Bischofsplatz in Mainz sehr gut getroffen. Aber auch Enttäuschung bringt ihn nicht von seinem Weg ab. Als er 1877 zum letzten Mal nach Rom aufbricht, hat er ein Manuskript in der Tasche über „Das Kapital von Karl Marx".
Ist dies alles nicht heilsam: soviel Kraft und Geduld, die sich nicht in Hektik und Populismus erschöpfen, sondern gerade Reformen mit einem langen Atem angeht? Wir haben Grund genug, gerade in diesem Jahr unser Gelöbnis an seinem Grab zu erneuern. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz