Mit 19 anderen Katholischen Abgeordneten der Frankfurter Parlamente war Ketteler der Einladung zur „Ersten Versammlung des Katholischen Vereins Deutschlands" nach Mainz gefolgt. Dort stellte er in einer improvisierten Rede über die Freiheit der Kirche die Soziale Frage als die Aufgabe der Zukunft dar, die zeitlose Aufgabe der Kirche ist. Auf den großen Eindruck dieser Rede hin wurde Ketteler eingeladen, im selben Jahr im Mainzer Dom die Adventspredigten zu halten.
Am 19. November 1848 hielt er im Mainzer Dom seine erste Predigt, es war das Kirchweihfest des Domes. Und Ketteler setzte sich mit dem Wesen und der Aufgabe der Kirche auseinander und es war ein ganz kurzer Weg zur sozialen Frage.
So sagt Ketteler in dieser Predigt:
"Die Kirche, der wir angehören, verdankt jene Kraft, wodurch sie auf Erden besteht, nicht den Menschen, sondern Gott und seinem eingeborenen Sohn Jesu Christi, dem alle Gewalt gegeben ist, im Himmel wie auf Erden."
Der Fortbestand der Katholischen Kirche ist also nicht dadurch gefährdet, dass die Gewalthaber und die Völker der Erde sich wider sie empören, und nicht dadurch gesichert, dass Fürsten und Völker sie beschützen, sondern sie lebt und besteht auf Erden durch den allmächtigen Willen dessen, der einst sprach: "Es werde"; und der mit diesen Worten die Welt ins Dasein rief. Und der dann in Jesu Christi die Worte gesprochen hat: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen"; der seiner Kirche die Verheißung gegeben hat: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen."
Die Menschen können der Kirche auch alles Irdische rauben, sie verspotten, erniedrigen, sie verhöhnen, aber die göttliche Kraft, die in dem gekreuzigten Christus lebt, können sie auch der gekreuzigten Kirche nicht rauben. Und in dieser Kraft wird sie fortbestehen und fortdauern bis ans Ende der Tage.
Und Ketteler sagt:
"Zahlreicher und mächtiger als je umstehen die Feinde der Kirche das Kreuz, an welchen sie dieselbe geschlagen, und Spott, Hohn, Lüge und Ungerechtigkeit sind die Stricke und Nägel, wodurch man sie so fest an den Balken zu binden wähnt, dass sie nie mehr ihren Händen entgehen wird. Aber immer wieder geschieht Auferstehung, Leben, und aus der Not wird neues Leben."
In der Ohnmacht zeigt Gott seine Macht. Damals wie heute.
Denn eigentlich wünschten auch wir, dass Gott Feuer vom Himmel senden möge, um die Gottlosen zur Umkehr zu zwingen, die Gleichgültigen aufzuschrecken. Eigentlich wünschten wir nur, dass Gott seine Macht machtvoll zeige, dass er seine Engel aufrüste, um die Bosheit und Gewalttätigkeit zu vernichten. Und dann schauen wir auf das Kreuz und wir spüren: Ein anderes Zeichen wird uns nicht gegeben.
Die Macht Gottes ist die Ohnmacht, und die Ohnmacht Gottes ist die Liebe, die nach der ganzen Welt greift. In Jesus Christus wendet sich Gott dieser Welt zu; in Jesus Christus erfahren wir die treue Zuwendung Gottes. Und Gott hat Jesus am Kreuz nicht vergessen, Gott lässt keinen Menschen an seinem Kreuz hängen.
Gleich werden wir das Brot brechen, und wir glauben: In einem Stück Brot ist Gott gegenwärtig. Nicht in Gold und Silber: In einem Stück Brot! Und mit den wandelnden Worten: "Das ist mein Leib, das ist mein Blut" ist Christus mit seiner ganzen Liebe unter uns.
Und Ketteler sagt weiter:
"Der fromme Glaube genügt nicht in dieser Zeit. Der Glaube muss reine Wahrheit durch Taten beweisen. Jetzt muss die Kirche eine Kraft des Lebens und der Liebe entfalten, die alle Wunden heilt, die das Laster auf Erden geschlagen hat."
Wir sagen heute, dass das caritative Tun eine Grundsache der Kirche ist, die Hinwendung zu Menschen. Der caritative Auftrag der Kirche ist genauso Bestandteil der Kirche wie die Verkündigung und wie die Katechese. Und dieses soziale Engagement grenzt keinen Menschen aus, sondern berührt alle Menschen, die dieser Hilfe bedürfen.
Zur Zeit Kettelers klaffte die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen denen, die etwas als Eigentum besaßen, und den Tagelöhnern weit auseinander. Und Ketteler hatte schnell erkannt, dass allein mit Appellen sich nicht Gerechtigkeit schaffen ließ: Und auf diesem Hintergrund entfaltet er die Lehre vom Eigentum
Gott ist Schöpfer dieser Erde, Gott ist Herr über die Schätze der Erde, des Bodens, der Meere. Der Mensch darf nutzen, was er zum Leben braucht. Die kirchliche Lehre, die Ketteler verkündet, gibt dem Menschen kein uneingeschränktes Eigentumsrecht an der Welt und über die Welt, sondern nur ein Nutzungsrecht gemäß der göttlichen Ordnung.
Der Mensch, der die Erde für sich nutzen darf, wird dies im Blick auf folgende Generationen tun, im Blick auf Gott, gegenüber dem er die Nutzung verantwortet. Er wird das nicht ausrauben, wovon er und die Menschen leben. Er wird nicht vergiften und unbrauchbar machen, was ihm zur Nutzung anvertraut ist. Und wir spüren die Aktualität dieser Botschaft in unsere Zeit hinein: Das Wort Verantwortung wird zum Leitwort des Handelns und Redens.
Der Mensch antwortet Gott, ihm gegenüber verantwortet er sein Tun - oder Nichts-Tun. Und der Mensch antwortet auf die Not des Mitmenschen, denn alles Eigentum nutzt nicht sich selbst, sondern es gibt die Sozialverpflichtung, von der Ketteler spricht - womit niemand mit dem, was sein ist, machen kann, was er will, sondern Verantwortung übernimmt für den, der keine Chance hat, etwas zu haben.
Wir können nicht die Zuwendung Gottes erfahren, ohne uns einander zuzuwenden, wir können nicht die Liebe Gottes empfangen, ohne Barmherzigkeit zu sein, jeder Gottesdienst sendet uns aus, um weiterzugeben, was uns geschenkt wurde.
* Redemanuskript der Predigt aus Anlass des 100. Jahrestages der Grundsteinlegung der Herz-Jesu Kirche in Mainz-Mombach - Ketteler-Gedächtniskirche - am 9.8. 2011
(c) Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann
Aus gleichem Anlass und am gleichen Tag hat Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann bei einer Forums-Veranstaltung in Mainz-Mombach auch einen Vortrag zu den Dom-Predigten Bischof Kettelers gehalten. Den Manuskripttext finden Sie hier (Link).