Dass die Bronzefigur in der Mitte des Platzes einen Bischof darstellt, das kann die Touristin, die sich in der Mittagssonne auf der Bank niedergelassen hat, noch gut erkennen. Die Mitra auf seinem Kopf „verrät" den sitzenden Mann. Aber wer das sei? „Nun", sagt sie, „wir sind hier am Bischofsplatz, das wird ein Mainzer Bischof sein, vielleicht der Kardinal Lehmann". Knapp daneben.
Ein Mainzer Bischof ist es schon, aber die Figur wurde nicht etwa zur Kardinalserhebung des Mainzer Oberhirten im Jahr 2001 aufgestellt, sondern steht dort bereits seit Mitte der 90er Jahre. Sie zeigt einen Vorgänger von Lehmann, den Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Die dunkle Steinstele hinter der Figur verrät den Namen und zeigt auch einzelne Lebensstationen des Mainzer Bischofs. Eine Ketteler-Initiative hat sich damals dafür eingesetzt, dass der bedeutende „Sozialbischof" ein Denkmal erhalten soll - nur wenige Meter neben seiner früheren Residenz, die in Kriegswirren zerstört wurde und heute Platz für ein Parkhaus bietet. Dass man den engagierten Bischof, der in einem Atemzug mit dem Gesellenvater Adolph Kolping zu nennen ist, nicht direkt erkennt, geschweige denn zu seinem Leben etwas an dem Denkmal erfährt, war der Initiative schon damals ein Dorn im Auge.
Macht man sich in Mainz auf die Suche nach Spuren von Bischof Ketteler, so ist der Bischofsplatz ein guter Startpunkt, hier, wo sein siebter Nachfolger Karl Kardinal Lehmann wohnt und arbeitet. Von hier aus sind es nur wenige Schritte bis in die Augustinergasse in die Fußgängerzone, wo sich neben einer barocken Kirche, die sich nach italienischer Art in die Häuserfront einreiht, das Bischöfliche Priesterseminar befindet. Bischof Ketteler hat es 1851 wieder in Mainz errichtet, nachdem die theologische Ausbildungsstätte für Priester lange Zeit nach Gießen ausgelagert war.
Die Ideen des Sozialbischofs, der sich besonders um die Arbeiter verdiente und die so genannte „Soziale Frage" des 19. Jahrhunderts zu seinem Anliegen machte, ermöglichten in der Bischofsstadt eine ganze Reihe von Gründungen. Die bischöfliche Willigis-Schule, die nach ihm benannten berufsbildende Ketteler-Schulen oder das Mainzer Ketteler-Kolleg, das einzige katholische Abendgymnasium in Rheinland-Pfalz sind persönliche Gründungen des Bischofs oder spätere Einrichtungen in seiner Tradition. Der ist auch das „Ketteler-Cardijn-Werk" verpflichtet, das im Sinne der beiden Sozialreformer besonders Jugendlichen durch entsprechende Hilfsangebote und Qualifizierungsmaßnahmen einen guten Einstieg oder Wiedereinstieg in das Berufsleben ermöglichen will.
Vom Ketteler-Kolleg ist es nicht weit bis zu dem Platz, auf dem Ketteler beim ersten deutschen Katholikentag 1848 - damals noch als Priester im westfälischen Beckum und Hobsten - die ersten feurigen Reden gegen die soziale Ausbeutung der Arbeiter und für die Freiheit der Kirche und der christlichen Schulen hielt. Zwei Jahre später wurde er mit 39 Jahren zum jüngsten Bischof und kehrte an die Stätte seines Einsatzes zurück, um das, was er damals gefordert hatte, als Bischof in Stiftungen und Gründungen umzusetzen.
Verfolgt man die Straße, die vom Ketteler-Kolleg und dem Treffpunkt des Katholikentages weiter führt, gelangt man in den Mainzer Stadtteil Finthen, der nicht nur wegen seiner Spargelbauern und seines Karnevalsvereins bekannt ist. Hier gibt es auch die obligatorische „Ketteler-Straße", und das nicht ohne Grund. In Finthen legte Bischof Ketteler mit der Gründung der Ordensniederlassung der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung den Anfang für eine Wiederbelebung des Ordenslebens, das nach der Französischen Revolution fast vollständig ausgelöscht war. Die Schwestern von der Göttlichen Vorsehung hatten sich auf Wunsch Kettelers besonders besonders im Schuldienst für Mädchen und in der Krankenpflege engagiert. Bis heute sind etwa 750 Schwestern in aller Welt - besonders auch in Mittel- und Südamerika und in Südkorea - im Sinne Kettelers aktiv. Das Mutterhaus ist inzwischen in die Innenstadt Mainz verlegt, die Gründungsstation in Finthen ist aber erhalten und erinnert mit einer Steinstele im Eingang an den Gründer.
In einem anderen Stadtteil, Mainz-Mombach, erinnert heute die Herz-Jesu Kirche an Bischof Ketteler. Der Stadtteil ist traditionell von einer Arbeiterbevölkerung geprägt. Die Kapelle war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Grablege für den Bischof geplant, doch es kam der Erste Weltkrieg dazwischen, sodass das Grab weiterhin im Mainzer Dom ist. In Mombach wird jedoch auch heute noch das Ketteler-Gedächtnis gepflegt. Heute ist die Herz-Jesu-Kirche eine Filialkirche der Pfarrei St. Nikolaus in Mainz-Mombach.
Eine Spurensuche in Mainz endet dort, wo auch Bischof Ketteler den Höhepunkt seines Wirkens und sein irdisches Ende gefunden hat: Im Mainzer Dom. An Feiertagen singen dort die Knaben des Domchores, eine Gründung Kettelers. Auch der Dombauverein, der sich um den Erhalt des „Deutschen Nationalheiligtums", wie Ketteler ihn nannte, kümmert, ist eine Gründung des Bischofs. Von der Kanzel des über 1000jährigen Sakralbaus aus hat Ketteler in energischen Predigten, darunter besonders die als „Adventspredigten" bekannten Interventionen noch vor seiner Mainzer Bischofszeit, mit den Grundstein für die katholische Soziallehre gelegt.
Nach seinem Tod im oberbayerischen Kloster Burghausen wurde er in den Mainzer Dom überführt, wo er in der Marienkapelle - unmittelbar neben dem Eingang vom Markt aus - seine letzte Ruhe fand. Seine Grabstätte war zur nationalsozialistischen Zeit Ort für den Widerstand der christlichen Arbeiter gegen Hitler. Einem Gelübde von 1934 gemäß treffen sich bis heute Mitglieder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) am Todestags Kettelers am 13. Juli am Grab des Mainzer Sozialbischofs, um dort Gottesdienst zu feiern. Eine Leuchte am Grab brennt als „Ewiges Licht" und als Mahnung für Gerechtigkeit. Die Inschrift auf der Marmorplatte, die das Grab bedeckt:
„Der hochwürdigste Herr Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, 27 Jahre Bischof der Kirche von Mainz, mächtig in Worten und Taten von den Gräbern der Apostelfürsten eben zurückkehrend, im Kapuzinerkloster Burghausen am 13. Juli 1877 fromm entschlafen, harrt hier der Auferstehung".
(mik)