Die Menschen erlösen und beseligen

Porträts des jungen Ketteler, (c) Dom- und Diözesanarchiv

Bistumstagung über Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler

Von Jürgen Strickstrock
 
Als „Sozialbischof" ist er bekannt und als Wegbereiter der katholischen Soziallehre. Wie hat Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler darüber hinaus Pastoral verstanden?

Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler hat sich vor seiner Bischofsweihe freiwillig zur Armut verpflichtet. Wie ernst es ihm damit war, habe seine Hinterlassenschaft nach seinem Tod am 13. Juli 1877 gezeigt. Dies stellte Professor Philipp Müller bei der Bistumstagung zum 200. Geburtstag Kettelers im Haus am Dom in Mainz heraus. Der Mainzer Pastoraltheologe hielt das Eröffnungsreferat zum Thema „Bischof Kettelers Verständnis von Pastoral". Das ist auch der Schwerpunkt dieses Tagungsberichts, in dem andere Schlaglichter, die normalerweise mit dem Namen Ketteler verknüpft sind, ausgeklammert werden: sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit, sein politischer Kampf für die Freiheit der Kirche gegen staatliche Bevormundung in der Paulskirchenversammlung von 1848, im Ständeparlament des Großherzogtums Hessen-Darmstadt und im Reichstag  von 1870 wie auch sein Widerstand gegen das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit im ersten Vatikanischen Konzil.

Seelenheil so wichtig wie materielles Wohlergehen

Der große Wegbereiter der Katholischen Soziallehre in der Umbruchsituation der industriellen Revolution folgte in seinem sozial-karitativen Engagement seiner Grundüberzeugung als Seelsorger: dass der Glaube sich in tätiger Nächstenliebe bewähren muss. Soziales Engagement gehörte zu Kettelers priesterlichem Selbstverständnis. Das Seelenheil der Menschen lag ihm genauso am Herzen wie ihre materielle Not. Die „Zeichen der Zeit" erkennen, die Not der Menschen wahrnehmen und sie überwinden: Das waren zentrale Elemente seiner Hirtensorge, die im Glauben an Gott und in der Liebe zur Kirche verankert war.

Die Kirche war für Ketteler eine „Anstalt zur Erlösung und Beseligung der Menschen". Er liebte die Kirche, weil er in ihr Christus liebte. Im Auftrag Gottes und im Gehorsam gegenüber dem Papst wollte er als „guter Hirte" das Glaubensgut bewahren, die Sakramente schützen und die kirchliche Ordnung aufrecht erhalten, erläuterte Müller, wie Ketteler das Bischofsamt verstand.

Bei seinem Amtsantritt 1850 lag das kleine Diaspora-Bistum Mainz noch schwer darnieder. Die Priesterausbildung zu  verbessern und die religiöse Bildung der Gläubigen zu fördern, das waren für den neuen Bischof die dringlichsten Herausforderungen. In einem ersten Schritt verlegte er 1851 die Theologenausbildung von der staatlichen Universität Gießen wieder nach Mainz, ohne die damit verbundene Brüskierung der Regierung zu scheuen.

Er überprüfte, ob Missstände beseitigt wurden

Die offensichtlichen Missstände im Klerus, die auch im Zeitgeist eines schrankenlosen Liberalismus wurzelten, versuchte er durch große Priesterexerzitien, die er zweimal im Jahr durchführte, zu überwinden. Seine Visitationen in den Gemeinden hatten auch disziplinarischen Charakter. Er machte die Pfarrer auf Missstände aufmerksam und überprüfte später, ob sie beseitigt wurden.

Wichtige Werkzeuge seines pastoralen Wirkens waren die Orden. Ketteler arbeitete eng mit den Englischen Fräulein (Maria-Ward-Schwestern) zusammen. Er schätzte ihre schulische Mädchenbildung ebenso wie die Arbeit der Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus und im Waisenhaus.  Aus der Sorge um die Dienstmädchen rief er Arme Schulschwestern des heiligen Franziskus nach Mainz; für die Marienschule gewann er 1851 Schulbrüder. Im selben Jahr gründete er die Genossenschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung, die er in den Schulen und in der Krankenpfl ege einsetzte. Die Clarissen-Kapuzinerinnen, die 1860 nach Mainz kamen, fanden seine volle Unterstützung.

Ebenso energisch unterstützte er den Aufbruch der vielen religiösen Bruderschaften und Vereine, wie die Herz Mariä Bruderschaft, die er in 101 Pfarreien des Bistums einführte, den „Verein der heiligen Kinder", den Bonifatiusverein und den Gesellenverein Adolf Kolpings.

Ein wichtiges Anliegen war ihm auch die Restaurierung der Kirchen, nicht zuletzt des Mainzer Doms. Selbst von einer  tiefen Frömmigkeit geprägt, verhalf er dem „Großen Gebet" in den Gemeinden zu neuer Blüte, setzte Akzente in der Verehrung der Bistumsheiligen und belebte das Wallfahrtswesen. An vielen Wallfahrten nahm er teil, gern übernahm er die Predigt. All dies war für ihn keine religiöse Sonderwelt. Vielmehr war es ihm ein Anliegen, dass die Gläubigen, Priester wie Laien, sich ihrer poli-tischen,  sozialen und kulturellen Mitverantwortung bewusst waren.

Einen besonders hohen Stellenwert hatten für Bischof Ketteler die Volksmissionen der Jesuiten, die er auf breiter Ebene förderte. Die Jesuiten wirkten seit 1859 in Mainz. Hier war damals ihre einzige Kommunität außerhalb Preußens. Der Historiker Professor Klaus Schatz, der selbst dem Jesuitenorden angehört, verwies in seinem Vortrag darauf, dass Ketteler sechs Schriften über die Jesuiten verfasst und sie in drei weiteren Schriften ausführlich dargestellt hat. In einem Brief an seinen Bruder Wilderich brachte Ketteler zum Ausdruck, dass er die Jesuiten als Seelsorger sehr hoch schätzte, auch wenn er ihr massives Eintreten für die Trennung von Kirche und Staat für schädlich hielt. So bedauerte er es sehr, dass sie während des Kulturkampfs 1872 aus dem deutschen Reich ausgewiesen wurden.

Er war ein „unmoderner Moderner"

Professor Peter Reifenberg, Direktor der Bistumsakademie, hielt im Resümee der Tagung fest, dass Ketteler ein „unmoderner Moderner" gewesen sei. Kardinal Karl Lehmann, der den neuen Band mit den Hirtenbriefen  Kettelers vorgestellt hatte, erklärte im Schlusswort: „Wir haben durch die Tagung große Ermutigung erfahren und gesehen, wie die Gesichter der Not sich wandeln."

Diesen Beitrag lesen Sie - zusammen mit weiteren Beiträgen auch auf der Themenseite "Blickpunkt regional" der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 11.12.2011.

O-Ton Ketteler

„Wo ist die allgemeine Menschenbildung, die den Geizigen mildtätig macht, die den lüderlichen Jüngling, das eitle Mädchen mit Liebe zum Nebenmenschen erfüllt, wo ist die Lehrweise, das Lehrbuch, das im Stande wäre, den Geist der christlichen Entsagung, Selbstverleugnung in die Herzen der Menschen einzupflanzen? Zeiget es mir, zeiget mir das Geschlecht mit wahrer Nächstenliebe, das ihr ohne Christentum, durch eure Weltweisheit gebildet, und ich will mit euch das Christentum über Bord werfen. So lange ich aber sehen werde, dass alle Weisheit, alle Wissenschaft, alle Weltbildung  zusammengenommen nicht im Stande ist, ein einziges Fünklein christlicher Liebe auf Erden zu entzünden, nicht im Stande, ein einziges Leben der Liebe zu gestalten, einen einzigen Geizigen von seinem Geize zu heilen, werde ich feststehen in dem Glauben, das die Menschheit in Sünde gefallen und nur durch das Christentum wieder hergestellt werden kann."
Aus der Adventspredigt Kettelers am 17. Dezember 1848 im Mainzer Dom