Auf ein Beispiel für Kettelers Qualitäten als Seelsorger, Pädagoge und Personalchef hat Pfarrer Franz Stolle aus Ober-Abtsteinach hingewiesen. Raimund Hornauer hat es auf der Grundlage von Akten des Diözesanarchivs in der Festschrift zum 350-jährigen Bestehen der dortigen Pfarrei St. Bonifatius geschildert.
Im November 1865 wurde dort Kaplan Konrad Belz vorgeworfen, den Messdiener Franz Röhrig dermaßen verprügelt zu haben, dass ihm das Blut aus Mund und Nase lief. Der Vater des Jungen, Gemeinde-Einnehmer Michel Röhrig, wandte sich deshalb mit einer schriftlichen Beschwerde an Bischof Ketteler, der noch am selben Tag Dekan Krämer in Heppenheim mit der Untersuchung des Falls beauftragte. Dieser begab sich nach Ober-Abtsteinach, um die Beteiligten zu vernehmen: den beschuldigten Kaplan, Pfarrer Georg Hinkel, die Mutter des Messdieners, Margarethe Röhrig, und Lehrer Johannes Metz, der während des Vorfalls in der Sakristei zeitweise anwesend war.
Nach Abschluss seiner Untersuchungen berichtete Krämer: „Kaplan Belz verdächtigte den Messdiener Franz Röhrig, der den Messwein für das Hochamt im Pfarrhaus abholte, unterwegs davon etwas getrunken zu haben. Er sah darin eine Entehrung der Eucharistie. Als Priester habe er die Pflicht zu verhindern, dass, wie er sich ausdrückte, der ungewaschene Mund eines bösen Buben mit dem Messwein in Berührung komme.
Aus den angefügten protokollarischen Aussagen geht hervor, dass Kaplan Belz am Allerheiligenfeste nach dem Hochamte in seiner Sakristei den Knaben Franz Röhrig mit den Händen ins Gesicht und wahrscheinlich auf die Nase geschlagen hat, so dass das Blut aus Mund und Nase lief. Kaplan Belz war, wie es scheint, darüber selbst betroffen und suchte dem Knaben das Blut aus dem Gesicht abzuwischen, wobei ein Ärmel der Albe, in die er noch gekleidet war, mit Blut befl eckt wurde. Der Knabe lief sodann, immer noch blutend, nach Haus zu seiner Mutter, welche ihn in diesem Zustand in das Pfarrhaus führte, um ihn daselbst dem Pfarrer zu präsentieren. Als sie diesen aber nicht antraf, machte sie dem Kaplan Belz Vorwürfe, und es fielen von beiden Seiten die im Protokolle der Mutter aufgeführten Reden."
Auch die Schilderung von Margarethe Röhrig ist in den Akten festgehalten: „Ich fragte den Herrn Kaplan, warum er mein Kind geschlagen habe. Mein Kind hat nicht vom Messwein gesoffen, weil meine Kinder sich nämlich ordentlich betragen. Da bemerkte mir der Herr Kaplan: ,Stehen Sie ihm nur recht bei und machen Sie ihn heute gar noch zu einem Heiligen.‘ Da erwiderte ich: ,Aus Ihnen, Herr Kaplan, kann man heute auch keinen Heiligen machen.‘"
In seinem Bericht, der Grundlage für die anstehende Personalentscheidung des Bischofs war, kommt der Dekan zu folgendem Schluss: „Dass Kaplan Belz bei Abstrafung des Franz Röhrig zu weit gegangen ist, unterliegt wohl keinem Zweifel, zumal bei diesem Knaben, der ein offenes, gutmütiges, weißköpfiges Odenwaldbübchen von zehn Jahren ist und für sein Alter zu klein. Nach meinem Dafürhalten ist er überhaupt nicht fähig, Wein zu naschen. Es scheint mir eher, dass er in großem Diensteifer und vielleicht nicht minder großem Ungeschick auf dem ungepflasterten, holprigen Wege vom Pfarrhaus zur Kirche etwas verschüttete."
In einem Brief, in dem er Belz seine baldige Versetzung ankündigt, schreibt Ketteler daraufhin dem Kaplan: „Ihr Verfahren gegen den Knaben Röhrig ist durchaus ungerecht. Sie haben das Kind bestraft lediglich auf eine Vermutung hin, weil sie bei der heiligen Messe glaubten bemerkt zu haben, dass das Messkännchen nicht mehr voll Wein sei. Ein solches Strafen von Kindern auf bloße Vermutung hin und ohne allen Beweis ist aber umso tadelnswerter, je schutzloser ein solches Kind ist. Überaus tadelnswert ist es aber, wenn es von einem Priester ausgeht. Eine solch ungerechte Behandlung genügt, um in dem Herzen eines Kindes für das ganze Leben eine Missstimmung zurückzulassen.
Ihr Verfahren ist aber nicht nur ungerecht, sondern auch voll Leidenschaftlichkeit und unter den gegebenen Verhältnissen voll Ärgernis für alle, die es gesehen haben. Was soll man von einem Priester sagen, der unmittelbar nach der heiligen Messe, noch mit der Albe angetan, lärmt und tobt und sogar ein Kind schlägt. Das ist ein abscheuliches, strafbares Ärgernis, und Sie haben allein dadurch vor Gott ungleich mehr gesündigt, als wenn ein armer Bube einmal eine Naschhaftigkeit begeht. Das Ohrfeigengeben bei jeder Gelegenheit ist schon an und für sich für einen Priester verwerflich und unwürdig; nach der heiligen Messe aber und im heiligen Priestergewande sind solche Handlungen wahrhaft empörend. Umso widerwärtiger ist dann Ihre Rede, die Sie dem Knaben über die Verunreinigung des heiligen Blutes gehalten haben. Das heilige Blut wird wahrlich nicht durch einen Knaben entheiligt, welcher vor der Messe aus dem Messkännchen trinkt, was hier im übrigen noch nicht einmal erwiesen ist. Das heilige Blut wurde allerdings von Ihnen entheiligt, da Sie es eben in der Kommunion empfangen hatten und nun im Messkleide im Zorn ein Bübchen misshandelten.
Bei diesem Ihrem äußerst verkehrten Betragen, welches leider nicht vereinzelt dasteht, bleibt mir nur der Trost, dass ich an einem gewissen Eifer für das Gute bei Ihnen noch nicht zweifle. Ihr Eifer ist aber ungeordnet und leidenschaftlich, so dass ich im Hinblick auf die Zukunft fürchte. Namentlich erfüllt mich an Ihrem Eifer mit großer Besorgnis, dass er mehr nach außen und auf die Fehler anderer gerichtet ist als nach innen und auf Ihre eigenen Fehler. Dieser äußerliche Eifer hat schon manchen Priester ins tiefste Verderben geführt."
Diese Anekdote aus dem Leben Bischof Kettelers lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 11.12.2011 auf der Themenseite "Blickpunkt regional" zum 200. Geburtstag Bischof Kettelers.