„Die heimlich abgestohlene Physiognomie"

Ikonografische Studien zu Bildnissen des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877)

Von Dr. Winfried Wilhelmy, Direktor des Dom- und Diözesanmuseums Mainz

I. Einführung

Die Mainzer Erzbischöfe der Neuzeit ließen sich immer wieder im gemalten oder gestochenen Porträt darstellen. Das wohl bekannteste Beispiel ist Kardinal Albrecht von Brandenburg (1514-1545), der die berühmtesten Künstler seiner Zeit für die Aufträge  engagierte: Albrecht Dürer konterfeite ihn in mehreren Stichen, Lucas Cranach d. Ä. setzte ihn in zahlreichen Gemälden in Szene, zahllose Kleinmeister folgten ihnen in (Buch-)Malerei, Grafik, Medaillen und Plastik. Auch die Erzbischöfe des Barock ließen sich von ihren Hofmalern in mehr oder weniger offiziellen „Staatsporträts" ganz- und halbfigurig abbilden und in daran orientierten Stichen in immer wieder neuem Kontext darstellen. Mit dem Ende des Erzbistums bricht diese Tradition weitestgehend ab. Von Bischof Joseph Ludwig Colmar existiert nur eine Handvoll Porträts und Kettelers unmittelbare Amtsvorgänger, die Bischöfe Humann und Kaiser, lassen sich noch weniger im Porträt belegen.

Um so erstaunlicher ist es, dass sich diese Situation mit dem Pontifikat von Bischof von Ketteler (1850-1877) schlagartig ändert. Von keinem anderen Mainzer Bischof des 19. oder 20 Jahrhunderts sind so viele verschiedene grafische oder malerische Darstellungen auf uns gekommen wie von dem westfälischen Freiherrn. Einige dieser Porträts wurden bislang in Biografien zu illustrativen Zwecken wiedergegeben; narrative Szenen tauchen hin und wieder in geschichtlichen Überblickswerken auf. Bislang gibt es jedoch weder einen vollständigen Katalog zum Kettelerporträt - dies kann aufgrund der Fülle des Materials auch hier nicht geleistet werden - noch wurde dieses Material bislang ikonografisch gedeutet und eingeordnet. Der folgende Aufsatz versteht sich daher als Baustein zu einer Ikonografie eines der bedeutendsten Mainzer Bischöfe und einer der großen Gestalten der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Dabei wird der Begriff Bildnis sehr weit gefasst: neben reinen Porträts werden auch zahlreiche szenische Wiedergaben, seien es Ereignisse aus seinem leben oder, zumindest in Ansätzen, auch Karikaturen, erfasst.

Schematisiert man die Fülle der erhaltenen Bildnisse, so lassen sich zwei Grundtypen erfassen: Porträts des noch jungen Bischofs, deren Prototyp ein Jahr nach seinem Amtsantritt entstand sowie Bildnisse des ungleich älteren Oberhirten, die einen zwar gealterten, aber selbstbewussten und auf dem Höhepunkt seiner Durchsetzungskraft stehenden Mann zeigen. Wären beiden Typen nicht vielfach mit „Ketteler" bezeichnet, so würde man kaum glauben, den selben Mann vor sich zu haben, so unterschiedlich wirken die Physiognomien. Nicht zuletzt daher sei auch ein Blick auf Ketteler in der Wiedergabe der zu seinen Lebzeiten noch jungen Fotografie geworfen, bevor ein Streifzug durch das „Ketteler-Revival" im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts folgt. Besonders interessant sind die Darstellungen Kettelers im historisierenden „Kostüm", die im folgenden ebenso in die Betrachtung mit einbezogen werden wie szenische Widergaben. Ein kurzer Blick auf Kettelers Verhältnis zur Bildenden Kunst und die Frage nach seiner potentiellen Auftraggeberschaft von Kunst runden diesen Themenkomplex ab.

 

II. 1. Gemalte oder gestochene Porträts: Der junge Ketteler

Das Dommuseum besitzt ein hochovales Bildnis, das den jungen Ketteler als Halbfigur in Dreiviertelprofil nach links gewendet zeigt. Ketteler tritt hier nicht als Bischof in prunkvollen Pontifikalgewändern mit Mitra und Stab, sondern in der schlichten Amtskleidung der Zeit auf. Die Arme sind übereinandergelegt; in seiner Rechten hält er ein mit IHS gekennzeichnetes Gebetbuch. Im Hintergrund rechts ist ein Bogenpfeiler zu sehen, in den Kettelers Wappen eingemeißelt ist. Mit diesem gleichermaßen identifizierenden wie nobilitierenden Accessoire bewegt sich das Bildnis noch ganz in der Ikonografie des spätbarocken Herrscherporträts, wie es für Mainz. z. B. durch das Bildnis von Kurfürst Johann Friedrich von Ostein belegt ist; ledig die Draperie fehl hier

Wie die Signatur deutlich macht, wurde das Bildnis von 1851 von dem Darmstädter Maler August Noack (1822-1905) ausgeführt: „August Noack pinxit Darmstadt 1851" ist rechts unten in Rot zu lesen. August Noack, seit 1855 Hofmaler am großherzoglichen Hof in Darmstadt, ist wohl einer der bedeutendsten Darmstädter Maler der zweiten Hälfte des 19. Jhs., der vor allem für seine Porträts wie für Historienbilder mit evangelischer Thematik - insbesondere das 1867 entstandene „Religionsgespräch in Marburg" berühmt wurde. 1822 in Bessungen bei Darmstadt geboren lernte er zwischen 1839 und 1843 an der Düsseldorfer Akademie unter anderem bei Wilhelm von Schadow und, vor allem, bei dem berühmten Spätromantiker Carl Friedrich Lessing; es folgten weitere Studienaufenthalte, u. a. in München bei Ferdinand Kaulbach sowie in Antwerpen und Paris. Von dort kehrte er im März 1851 nach Darmstadt zurück. Kurze Zeit später entsteht das Porträt, über dessen schwierigen Entstehungsprozess der Künstler in seinem Tagebuch ausführlich berichtet. Die Anfertigung des Bildes entstand ganz offensichtlich nicht im Auftrag Kettelers, sondern war eine „freie" Arbeit des damals noch jungen und weitgehend  unbekannten Künstlers. Dementsprechend saß ihm der Bischof auch nicht Modell, sondern seine „Physiognomie" wurde ihm anlässlich eines Besuches in Gernsheim „heimlich abgestohlen": „Ich habe seit 8 Tagen bei Gelegenheit der Mission zu Gernsheim den Bischof von Mainz, Emanuel von Ketteler, gezeichnet, d. h. in der Kirche, im Pfarrhaus, bei Tisch usw. ihm seine Physiognomie heimlich abgestohlen, ihn überall hin verfolgt, seine Gestalt, sein Gesicht skizziert und auswendig gelernt, was mir auch ziemlich gelungen ist, ich bin recht zufrieden mit dem Erfolg dieser ebenso interessanten als schweren Aufgabe. (...) Ich habe einem Mainzer Kunsthändler versprochen, eine Zeichnung zu einem lithografischen Blatte zu liefern. Von dem Mann, der eben auf der Rundreise in seinem Bistum alle katholischen Herzen und Köpfe entzückt und verrückt, werde ich zwei Porträts in Oel malen, ein Profil und ein en face, wonach alsdann die Zeichnung gefertigt wird. Leicht ist es nicht, denn der Bischof hat noch nie zu einem Porträt gesessen und erklärte bestimmt, er werde dies auch nie tun".

Bislang völlig unbeachtet bewahrt das Dommuseum neben dem hier beschriebenen ersten Porträt auch einige der vorbereitenden Skizzen auf, die Noack damals zeichnete. Sie zeigen die das Porträt vorbereitenden spontanen Wiedergaben des Abzubildenden in Blei auf braunem Karton mit vereinzelten Weißhöhungen: dabei handelt es sich um eine Kopfstudie im Profil nach rechts bzw. im Dreiviertelprofil nach links, die zugehörige Brustskizze sowie eine recht steif wirkende Ganzfigur. Eine der Zeichnungen ist links unten mit „A. N. Gernsheim 1851" signiert; auf der Rückseite des Rahmens, der die vier Zeichnungen umfasst, wird mit „4 Noack-Skizzen aus Gernsheim 1851" gleichfalls auf Künstler, Ort und Entstehungsjahr verwiesen. Die Skizzen entstanden offensichtlich unter Zeitdruck und schwierigen Umständen, da Ketteler, wie oben skizziert, nicht gewillt war sich porträtieren zu lassen. Im Darmstädter Tageblatt von 1906, das ein Jahr nach Tod des Künstlers eine umfangreiche Reportage zu Leben und Werk des Verstorbenen brachte, wird berichtet, wie Noack angesichts dieser schwierigen Verhältnisse Abhilfe zu schaffen wusste: „Bei dem Gastmahl, welches nach der Missionspredigt in Gernsheim stattfand, wurde mit Genehmigung des Bischofs seinem Sitze gegenüber eine Oeffnung in die Türfüllung des nächsten Zimmers gemacht, von wo aus Noack seine Arbeit fortsetzte. Der Bischof hatte die Freundlichkeit, recht oft nach der Tür zu sehen, es war eine für die Festteilnehmer unsichtbare Porträtsitzung, und das auf diese Weise entstandene und später vollendete Bildnis wurde, nachdem es die Genehmigung des Bischofs erhalten, von W. Otto auf Stein gezeichnet, bei Hanffstaengel in München gedruckt und durch den Verlag von J. G. Wirth-Sohn in Mainz 1852 in den Kunsthandel gebracht". Das hier genannten Blatt von Hanffstaengl nach Noack muss in großer Auflage erscheinen sein; allein in den grafischen Beständen des Dommuseums ist es zweimal erhalten. Das Blatt, an dessen unterem Rand Noack, Otto und Hanffstaengl als Ausführende genannt werden, ist gegenüber dem Porträt leicht verändert. Die hochovale Bildform ist zwar ebenso beibehalten wie das Postament mit Säule und Wappen rechts. Der Dargestellte selbst ist aber mehr zur Bildmitte hin gedreht und sein Kopf wendet sich dem Betrachter zu; seine Arme sind nicht mehr verschränkt, statt dessen  stützt sich seine linke Hand auf eine Brüstung. Links ist das Blatt durch eine Darstellung des Domes im Bauzustand der frühen 50er Jahre - damals noch mit der charakteristischen Moller´schen Kuppel im Osten - ergänzt. Wie der Beleg im Impressum nachweist, müssen diese Änderungen entweder von Noack selbst vorgenommen oder zumindest von ihm autorisiert worden sein. Der Kopf dieses Porträts wurde dann in  mehreren Varianten im Petrus-Verlag in Trier als Öldruck umgesetzt: mal als Brustbild, mal „herangezoomt" in absoluter „Nahaufnahme" des Gesichtes.

Der ursprüngliche Porträtentwurf muss aber gleichermaßen geschätzt worden sein - interessanterweise wurde er in Mainz, wo das Urporträt, vermutlich im Besitz von Ketteler selbst, verblieben sein dürfte, nachgestochen und zwar von J. Lenhardt; die Verbreitung dieser Lithografie scheint aber nicht so groß gewesen zu sein wie der aus der renommierten Münchener Druckanstalt. Auch in Öl wurde Noacks erstes Kettelerporträt immer wieder kopiert, so z. B. in einer undatierten Variante  oder aber zehn Jahre nach dessen Tod von einer ansonsten unbekannten Malerin namens Maria Schaefer, die 1887 signierte. Auch im Besitz der Schwestern der Göttlichen Vorsehung befindet sich eine in Öl ausgeführte, aber nicht signierte Kopie. Gleich dem Kopf der Lithografie so wurde auch der Profilkopf von Noacks erstem Kettelerporträt in Nahaufnahme als Öldruck umgesetzt. Das lebendige Infinito dieses Öldrucks, der durch seinen unfertigen skizzenhaften Charakter ein Original vortäuscht, dürfte für die Beliebtheit gerade dieser Porträtvariante gesorgt haben; auch sie ist im Dommuseum gleich mehrfach erhalten. Gewisse mehr dem Devotionalienhandel zuzurechende Porträts, wie diese als Hinterglasmalerei mit Goldbelag ausgeführte Variante mit eher geringem Kunstcharakter seien hier nur der Vollständigkeit halber - oder vielleicht sollte ich besser sagen: zur Abschreckung" gezeigt...

Wie oben zitiert, wollte Noack von vorneherein „zwei Porträts in Oel malen, ein Profil und ein en face". Auch letzeres hat sich im Dommuseum erhalten, ein im Format geringeres, aber gleichfalls hochovales Ölgemälde, das unten rechts in rot mit „A. Noack 1852" signiert und datiert ist. Im Gegensatz zu der „barocken" Variante mit Postament und Wappen wird dieses Bildnis ganz von der markanten Physiognomie mit dem streng-asketischen Kopf mit dem dünnen, straff zurückgekämmten Haar dominiert. Der hypnotisch wirkende Blick, obgleich vom Betrachter abgewandt, zieht ihn dennoch in seinen Bann. Kein Beiwerk im neutral in Braun gehaltenen Hintergrund lenkt von der überaus energisch wirkenden Gestalt ab. Vielleicht hat gerade dieses allzu Strenge verhindert, dass auch diese Variante reproduktionstechnisch„ausgeschlachtet wurde; vielleicht kam das Bild aber auch einfach ein Jahr zu spät, so dass der Markt bereits gesättigt war.

August Noack hatte aber kein Monopol auf die Darstellung des jungen Ketteler. Auch der Mainzer Maler Eduard Heuß (1808-80) versuchte sich an dessen Bildnis, allerdings in größerem Zusammenhang. Ausgangspunkt war sein in den frühen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenes Gemälde der Freiburger Bischofskonferenz, das Ketteler zusammen mit den übrigen Oberhirten der oberrheinischen Kirchenprovinz zeigt. Hier thront Ketteler, die linke Bildhälfte dominierend, im Kreis der Bischöfe von Fulda, Limburg, Freiburg und Rottenburg. das Gemälde wurde von Valentinus Schertle, May und Wirsing gestochen. Berühmtheit erlangte dieses Kettler-Porträt aber als separates Blatt: aus der Ganzfigur wurde ein aus diesem Zusammenhang entferntes Brustbild, dessen pathetischer Griff an das Kreuz als Zeugnis eines festen Glauben interpretiert werden darf. Vor allem dieses Motiv sicherte dem Blatt, das im Verlag Kirchheim erschien, in den Zeiten des Kulturkampfes eine überaus weite Verbreitung im Kreis der katholischen Gläubigen.

 

II.2: Gemalte oder gestochene Porträts:  Der alte Ketteler

Bekannter als diese Jugendbildnisse sind heutzutage aber die Porträts des gealterten Kettelers am Ende seines Pontifikates. Sie existieren in mehreren Varianten, deren wichtigste die des als Kniestück wiedergegeben sitzenden Bischof ist. Ketteler sitzt hier vor einem neutral braunen Hintergrund im Bischofskleid in einem Sessel, nach rechts gewendet. Auf einem Tischchen rechts liegen zwei Bücher. Der ausführende Künstler des Originals ist mir leider nicht bekannt; das Dommuseum bewahrt aber eine sehr gute Kopie auf, die 1911, so die Signatur, wohl anlässlich des 100sten Geburtstages von Peter Metz angefertigt wurde. Bei den Schwestern der Göttlichen Vorsehung befindet sich eine im Accessoire bereicherte Fassung: hier steht auf dem Tischchen, auf das sich der Bischof stützt, ein Ebenholzkreuz mit elfenbeinernem Corpus und silbernen Ornamenten. Links oben ist Kettelers Wappen dargestellt. In einer dritten Variante des Typus wechselt Ketteler die Kleidung und trägt Mozzetta und Rochett; er sitzt nicht, sondern steht und in seiner rechten Hand hält er eine Feder. Darüber hinaus ist der Hintergrund, ganz nach barockem Vorbild links mit einer Draperie verhüllt, während ein Durchblick rechts den Blick auf den Dom im Bauzustand von 1875 freigibt Der ungelenke Stand, die Drehung sowie der Blick und die Haltung seines linken Armes lassen aber keinen Zweifel daran, dass es sich hier um kein selbstständiges Porträt, sondern nur um die Variation des oben vorgestellten Grundtypus handelt. Das Gemälde ist vermutlich erst nach seinem Tod entstanden. Zahllosen Stichen liegen diese drei Porträts zugrunde; dabei wird sich im wesentlichen auf Büste bzw. Kopf in allen nur denkbaren Stadien der Nahaufnahme konzentriert. Ein erster Stich entstand im Lithografischen Institut C.F. Calow in Köln, ein weiterer wurde von Franz Waldschmitt nach einer 1878 angefertigten Zeichnung von Peter Halm gestochen, während ein dritter Stich von A. Feyen - wohl ebenfalls posthum - angefertigt und vom Mainzer Kunstverlag Joseph Landmann vertrieben wurde. Sowohl diesen grafischen Blättern als auch den Ölgemälden liegt, jedenfalls was Kopf und Büste betrifft, letztendlich das Gedenkblatt zugrunde, das anlässlich des 25-jährigen Bischofsjubiläums 1875 im Verlag von J.P. Haas in Mainz erschien. Während des Kulturkampfes wurde gerade dieses Porträt ausgewählt, um zur Unabhängigkeit der Kirche von staatlicher Bevormundung aufzurufen: „Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion; wenn das Volk zur Religion nicht zurückkehrt, dann kann es keine Freiheit tragen", so die Titelei eines nur 15 x 11 cm großen Bildzettels, vermutlich aus den 70er oder 80er Jahren des 19. Jhs.

 

III. Ketteler in der Fotografie

Aufgrund der engen Übereinstimmung der Porträts des „alten" Kettelers mit Originalfotos ist an dieser Stelle nach der Rolle zu fragen, die die Fotografie für die Ketteler-Bildnisse spielt. Für die Wiedergabe des „jungen" Kettelers bieten sich kaum vergleiche an; mir ist nur eine einzige fotografische Reproduktion bekannt, die, so der Untertitel, den „jungen Dorfpfarrer im Göddendorf Hopsten"  zeigt. Dass es nicht mehr Fotos des jungen Pfarrers gibt, lässt sich zwanglos mit dessen damals noch unbedeutender öffentlicher Stellung erklären; zudem befand sich die Fotografie um und vor 1850 ja noch im Stadium der Entwicklung und war weder technisch ausgereift noch weit verbreitet. Am Ende von Kettelers Pontifikat hingegen hatte sich dies geändert: Porträtfotografie war zwar immer noch aufwändig, nahm aber zunehmend einen dem gemalten Bildnis vergleichbaren Rang an. Entsprechend viele Fotografien Kettelers sind heute noch - wenn auch meist nur im Publikationsdruck - bekannt.

Ketteler hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Widerwillen gegen das Porträtsitzen offensichtlich aufgegeben; sein oben zitiertes Diktum von 1851, dies nie tun zu wollen war, vermutlich bedingt durch die neue und schnellere Technik, hinfällig geworden - selbstverständlich verschlang auch das Fotografieren etwas von seiner kostbaren Zeit, aber, natürlich, bei weitem nicht so viel wie das Posieren vor der Staffelei. Seine wichtigsten, auf Repräsentation bedachten Fotos zeigen in vor allem in sitzender Halbfigur, einmal im Kleid des einfachen Priesters, einmal mit Mozzettta und Rochett. Beide, einander in der Haltung des Porträtierten sehr ähnliche Fotos dürften den Malern der oben vorgestellten Altersporträts als Vorlage gedient haben. Sie wurden, auch nach Kettelers Tod,  immer wieder aufgelegt, das letztgenannte Foto z. B. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von der erst 1892 gegründeten München-Berliner Autotypie-Firma Meisenbach Riffahrt & Co. Eine weitere, in Haltung und Kleidung sehr ähnliche Fotografie, für die sich Ketteler wohl um 1875 ebenfalls zur Verfügung stellte und die sich lediglich im Tischdekor links unterscheidet, wurde besonders populär, da sie zuerst von den Münchener Arbeitervereinen als Postkarte vertrieben und dann als Sterbebildchen verwendet wurde.

Auch der stehende Ketteler wurde posthum als Foto vertrieben, z B. von der Verlagsbuchhandlung süddeutscher katholischer Arbeitervereine; im Kloster der Schwestern der Göttlichen Vorsehung findet sich eine seitenverkehrte, aber in Haltung und Dekor direkte bildliche Umsetzung in Öl, die stilistisch ins frühe 20. Jahrhundert zu datieren ist. Wohl aus Pietätsgründen ist der Dargestellte aber in bischöfliche statt in schlichte priesterliche Gewänder gekleidet.

 

IV. Ketteler in den Darstellungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts

Die Altersbildnisse bzw. die Fotografien des betagten Bischofs - und zwar ausschließlich sie - wurden auch immer wieder dreidimensional umgesetzt; häufig im Relief, seltener in der vollplastischen Skulptur. Dabei wird sich in der Regel auf eine reine Kopfansicht im Profil beschränkt, wie in dem hier gezeigten Relieftondo, das 1935 von dem Münsteraner Bildhauer Albert Mazzotti im Auftrag des Westdeutschen Arbeitervereines gearbeitet wurde; gleiches gilt für eine ebenfalls in die erste Hälfte des 20. Jhs. zu datierende Plakette. Hin und wieder wird der Bischof auch als Brustbild wiedergeben, so z. B. 1911 als L. Chr. Lauer Kettelers Bildnis für eine Anstecknadel wählte, die den Teilnehmern des Katholikentages 1911 zur Verfügung gestellt wurde oder aber in einem Keramikrelief, das 1936 von Rudolf Landmann gearbeitet wurde. Auch klassische, all´antica gearbeitete Büsten zeigen den hochbetagten Bischof, so eine 1935 von Fritz Knobloch gearbeitete Büste. Als besonders ehrwürdige Bildgattung entstanden all diese dreidimensionalen Bildnisse erst posthum; m. W. nach wurde zu Kettelers Lebzeiten kein dreidimensionales Bildnis von ihm erstellt. Auffällig dabei ist die Häufung der Darstellungen in den frühen 30er Jahren. Ketteler wurde im damals heraufziehenden Nationalsozialismus als besondere Identifikationsfigur der katholischen Arbeiterschaft verehrt, was sich bereits 1927 in der Feier anlässlich seines 50sten Todestages manifestierte - in jenem Jahr entstand u. a. eine mit einem Hammer signierte und 1927 datierte Kopfstudie. Vor allem in den folgenden Jahren entstanden die meisten der oben vorgestellten Büsten, aber auch in der Malerei lebte sein Porträt wieder auf. Dabei wurden entweder die bereits bestehenden Vorbilder erneut kopiert - im Falle eines „Jugendbildnisses" verraten lediglich die neusachliche  Farbigkeit und der originale Art-Déco-Rahmen, dass es sich um eine Arbeit der 20er Jahre des 20.Jhs. und nicht des 19. Jhs. handelt - oder aber in moderne Stilformen übersetzt. Als besonders gelungenes Beispiel hierfür sei ein Holzschnitt genannt, in dem die bekannte Profilansicht auf künstlerisch höchstem Niveau in spätexpressionistischer Formensprache umgesetzt wird. 

Die Frage der Ketteler-Denkmäler und -gedenksteine vor allem der 2. Hälfte des 20sten Jahrhunderts sei hier ausgeklammert; dies wäre einen eigenen Vortrag ebenso wert wie Ketteler im Bild von Gedenkmünzen, Briefmarken und anderen Erinnerungsmedien (s. Beitrag Braun). Auch Ereignisbilder wie Ketteler am Sterbebett des Revolutionärs Lichnowsky, Kettelers Weihe im Mainzer Dom oder der todkranke Ketteler auf dem Sterbebett in Burghausen bleiben in der heutigen Betrachtung außen vor, da dies den Rahmen sprengen würde. Statt dessen sei abschließend ein kurzer Blick auf Ketteler als - zumeist adorierende - Stifterfigur im neugotisch-historisierenden Kostüm geworden; eine Rolle, die heutzutage aufgrund der schweren Zugänglichkeit der Monumente so gut wie vergessen ist. 

V. Ketteler im Historienbild

Zu Kettelers Pfarrei in Hopsten gehörte auch eine 1694 zu Ehren der hl. Anna erbaute Kapelle, die ein Gnadenbild der Mutter Mariä beherbergte. Die Wallfahrt zu diesem Gnadenbild war vor dem Amtsantritt von Ketteler in Hopsten stark zurückgegangen. Zu deren Wiederbelebung erbat er sich in Rom einen vollkommenen Ablass für die Wallfahrer, der 1847 erteilt wurde. Ketteler ließ daraufhin die Kapelle renovieren und erweitern und tatsächlich stieg die Zahl der Wallfahrer daraufhin nicht unerheblich an. Nach seiner Ernennung zum Bischof von Mainz kehrte Kettleler mehrfach nach Hopsten zurück und suchte das von ihm so verehrte Gnadenbild auf, so 1853 oder auch 1855, als er am 22. August jenen Jahres an der Schlussfeier der St. Annen-Wallfahrt teilnahm. Vermutlich aus dieser besonderen Verehrung heraus ließ Ketteler 1865 in einem  - mir leider bislang unbekannten - Münchener Atelier ein Votivbild nach Art eines spätmittelalterlichen Triptychons errichten. Es zeigt im Mittelteil das Gnadenbild der Anna Selbdritt, links ist Pater Bonaventura zu sehen, ein Bruder von Ketteler. Rechts kniet Ketteler selbst. Hirtenstab, Pontifikalgewänder und die zu seinen Knien niedergelegte Mitra weisen ihn ebenso als Bischof aus wie das Mainzer Bistumswappen in der Arkade oben links; rechts oben ist sein Familienwappen zu erkennen. Ketteler ist hier ganz nach Art von spätmittelalterlichen Stiftern wiedergegeben: altniederländische bzw. altkölnische Vorbilder - hier sei an die Stifterfigur des Genter Altares oder aber an Stifterdarstellungen des Meisters des Bartholomäusaltares erinnert - liefern die Vorlage für das Podest, auf dem er kniet, die Arkade, die ihn überfängt oder das an einem Vorhang gereihte Drap d´honneur, das den Bildraum nach hinten begrenzt. Auch der Realismus des Porträts geht mit diesen Vorbildern konform - hier steht er in der Tradition der Wiedergabe des jungen Ketteler und zeigt den charakteristisch-kantigen Kopf mit den markant-strengen Gesichtszügen und dem dünnen, straff zurückgekämmten Haar.

Ein weiteres Gemälde, das Ketteler im historisierenden Gewand zeigt, wurde anlässlich seines 25-jährigen Bischofsjubiläums in Auftrag gegeben: das Retabel, das heute den Altar in der Marienkapelle des Mainzer Domes schmückt. Für die drei spätgotischen Figuren im Zentrum des Retabels wurde ein neuer, durch bemalte  Flügel zu verschließender Schrein errichtet. Der eine Flügel zeigt außen Erzbischof Willigis mit dem 1009 fertig gestellten Dom; der andere Ketteler bei der Domweihe 1875. Auch hier dürften altniederländische Vorbilder für die Art der Darstellung eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.

1855 wurde auf Initiative von Ketteler hin in Sandbach im Odenwald das St. Marien-Waisenhaus gegründet. 1881 gedachte man des 25-Jubiläums und ließ aus diesem Anlass die Kapelle mit Wandgemälden ausmalen. Sie zeigen im Stile des Historismus verschiedene christologische Szenen, so z. B. Kinder, die von ihren - wohl verstorben zu denkenden - Müttern in die Obhut des Herrn gegeben werden. In einer anderen Szene schreitet Christus über Drachen und Basilisk; von seinen stigmatisierten Händen gehen Strahlen zu den vor ihm knienden Gestalten aus. Eine von ihnen ist, wie das Familienwappen rechts unten deutlich macht, Bischof Ketteler. In prunkvolle Pontifikalgewänder gekleidet, kniet er zu Füßen Christi. In seinen Händen trägt er das Modell des Sandbacher Waisenhauses, auf das die Strahlen Christi herabscheinen. Anders als in dem Hopstener Votivbild trägt Ketteler noch die Mitra auf seinem Kopf; die Anwesenheit Christ scheint ihm nicht bewusst  zu sein. 

 

VI. Ketteler als persönlicher Auftraggeber von Kunst?

 In Kettelers Leben scheint Kunst keine besondere Rolle gespielt zu haben. Sein Medium war das Wort, nicht das Bild. Wir wissen zwar, dass sich im zu seiner Zeit im Bischofshaus hochrangige Kunstwerke befunden haben, so z. B. „Christus als Schmerzensmann" oder „Christus und die Kindlein" , beide aus der Cranach-Werkstatt; in seinem privaten Gebetsraum wiederum waren die Oppenheimer Sebastianstafeln des Meisters WB aufgehängt. Bei all diesen Bildern handelte es sich aber um alten Bistumsbesitz, der entweder zu Repräsentationszwecken oder aber zur Andacht aufgehängt war; dahinter steckte weder ein besonderes Interesse an diesen Dingen noch eine gezielte Sammlungsstrategie oder gar eine Sammlerleidenschaft. Wie z. B. sein Essgeschirr oder seine Möbel belegen, lebte er persönlich völlig bescheiden und betrachte Ausgaben für Kunst mit Sicherheit als überflüssigen Luxus, der gegenüber caritativen oder seelsorgerischen Zwecken stets zurückzutreten habe. Lediglich dem Amt geschuldete „Kunst"-Objekte fanden in seinem bischöflichen Alltag Verwendung, aber auch hier tritt er nicht als aktiver Auftraggeber, sondern als passiver Empfänger auf. So ist z. B. sein Primizkelch, wie die Inschrift im Fuß belegt, ein Geschenk von seiner Mutter; Geschenke - in diesem Fall seines Bruders - sind auch sein (zweiter) Bischofsstab oder der Ketteler-Teppich.

Auch bei der unter seinem Pontifikat durchgeführten umfassenden Domrenovierung trat er nicht als treibende oder gar eine künstlerische Linie vorgebende Kraft in Erscheinung, sondern überließ dies den zuständigen Gremien und den Fachleuten, allen voran dem damals noch jungen Pälat und Subcustos Friedrich Schneider. Ketteler stand anfangs beispielsweise der Wiederherstellung der Ostkrypta ablehnend gegenüber, da er sie für liturgisch überflüssig und schlichtweg zu kostspielig hielt; von Schneiders 1871 erschienener flammender Streitschrift zugunsten der Krypta ließ er sich jedoch umstimmen und die Krypta wurde gebaut. Sofern er Stilfragen überhaupt für relevant hielt, so dürfte er, ganz dem Zeitgeschmack folgend, dem Historismus zugeneigt gewesen sein; Aufzeichnungen hierzu fehlen.

Als persönlicher Auftraggeber von Kunstwerken lässt sich Ketteler also nicht belegen; dementsprechend dürften auch seine Porträts jeweils von außen initiiert und von Dritten beauftragt und bezahlt worden sein. Dessen ungeachtet bilden sie ein wichtiges Zeugnis seiner klerikalen und politischen Bedeutung weit über das 19. Jh. hinaus. Eine Geschichte des deutschen Bischofsporträts im 19. h. bleibt weiterhin ein dringendes Desiderat der Forschung; Kettelers Bildnis würde in einem solchen Werk aber in jedem Fall eine zentrale Rolle zukommen.

(c) Dr. Winfried Wilhelmy, Abdruck nur nach vorheriger Absprache mit dem Autor