Liebe Schwestern und Brüder,
seine Sammlung von Weisheitsgeschichten aus dem osteuropäischen Judentum , die „Erzählungen der Chassidim" leitet Martin Buber - wie könnte es anders sein - mit einer Geschichte ein:
„Wie soll man Geschichten erzählen?
Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem ( das ist der als heilig verehrte Gründer der chassidischen Bewegung) gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. „Eine Geschichte", sagte er, „soll man so erzählen, dass sie selbst Hilfe sei." Und er erzählte: „Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt.
So soll man Geschichten erzählen.""
Was ist da geschehen?
Eine prägende Erfahrung mit einem großen Lehr- und Lebemeister ist zu einer Geschichte geronnen. Indem sie erzählt wird und der Erzähler sich in die Geschichte einbringt, wird etwas von der ursprünglichen Erfahrung wieder lebendig. Sie trägt in eine neue Erfahrung hinein, die wiederum zu einer Geschichte wird, die erzählt werden kann.
So ereignet sich lebendige Überlieferung. So ist auch die Kunde von Jesus von Nazareth verbreitet worden. Damals in Galiläa als die Menschen aufhorchten: „hier wird mit Vollmacht eine ganz neue Lehre verkündet!" und dann weitererzählt über Generationen hinweg, bis sie schließlich auch uns erreicht hat. Durch Menschen, die sich von dieser Geschichte haben ergreifen lassen und sie weitergesagt haben mit ihrem eigenen Leben. Die ihre eigenen Erfahrungen, ihre Freude und ihren Kummer, ihre Hoffnungen und ihre Ängste, sich selbst in diese Geschichte hineingetragen haben. So dass sie nun davon ihre eigene Geschichte erzählen können und bezeugen: die Kunde von Jesus von Nazareth trägt, sie hat mich reich gemacht, sie hat mich befreit und mir die Augen geöffnet. Sie heilt und trägt in ein Leben, das wirklich Leben ist.
In Jesus selbst verdichtet sich die ganze Geschichte Gottes mit der Welt und dem Menschen. Das gilt so sehr, dass wir sagen dürfen: Er ist Gottes menschgewordenes Wort. Sein ganzes Leben und sein Geschick erzählen, wer Gott für uns ist: von Gottes Liebe zu den Kleinen und an den Rand Gedrängten, von seiner Leidenschaft für das Leben, von seinem unbedingten Wunsch zu heilen und zu versöhnen. Und indem er mit seinem ganzen Leben den Menschen die Geschichte von Gott erzählt, wird er „getrieben von der Kraft des Geistes" und von ihm getragen, zu einer letzten Hingabe an Gott und die Menschen geführt, die selbst den Tod noch besiegt.
Wenn Lukas, der Evangelist, Jahrzehnte nachdem dies alles in Raum und Zeit sich zugetragen hat, daran geht vom Leben des Jesus von Nazareth zu berichten, seine Worte und Taten zu sammeln und niederzuschreiben, handelt er nicht als Historiker, der Daten und Fakten sichert und zusammenstellt. Er will, dass die Geschichte, die sich einmal ereignet hat, sich wieder ereignet im Leben derer, die von ihr lesen und hören. Er erzählt, um das, was er in Erinnerung ruft, zu vergegenwärtigen. „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt" - das gilt immer und jedes Mal neu, wo die Hörer der Botschaft sich auf sie einlassen und vom selben Geist getragen, der Jesus nach Galiläa treibt, demselben Geist, der dem Evangelisten die Feder führt, in die Geschichte einsteigen, die da erzählt wird, um sie weiterzudichten mit dem Stoff ihres eigenen Lebens.
Es ist wie eine fortgesetzte Menschwerdung des Wortes in denen, die sich vom Evangelium anrühren lassen und damit beginnen selbst als Menschen der Versöhnung zu leben, geheilt von der Angst um sich selbst, bereit, dem Andern ein Ansehen zu schenken, weil sie erfahren haben, dass Gott ihnen ein Ansehen schenkt, fähig geworden zur Hingabe und dazu, Christus für die Anderen zu leben.
Die Großen in der Geschichte des Glaubens haben es vermocht: ein Franz von Assisi, der aus allem Reichtum in die Armut hinein springt um die Seligpreisungen der Bergpredigt zu leben; eine Mutter Teresa, die die ganze Welt aufhorchen lässt, weil sie Jesu Wort „was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan" ernst nimmt und mit ihrem ganzen Leben durchbuchstabiert.
Uns aber, die wir weit weniger mutig und entschieden sind, wird Sonntag für Sonntag ein neuer Abschnitt aus der Geschichte des Jesus von Nazareth erzählt. Und auch für uns wird es da immer wieder einen Punkt geben, wo sie uns anrührt und ergreift. Und wo wir, wenn wir es nur zulassen, in sie hineingezogen werden und sie sich an uns ereignet.
Die Kunst des Baalschem durch Geschichten zu heilen, beschreibt Martin Buber so, dass beim Erzählen jeder Zuhörer glaubte, der Meister wende sich gerade an ihn und „in jedem erwachte unter der Berührung (des) Wortes die heimliche Melodie, die verschüttete, totgewähnte, und jeder empfing die Botschaft seines verlorenen Lebens, dass es noch da war und nach ihm verlangte."
So wird auch uns das Evangelium verkündet, dass wir daraus einen neuen Anfang finden. Und wenn wir wenigstens manchmal und für Augenblicke das Gefühl haben: wir sind gemeint, dann gilt auch uns: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt." Heute will das Vertrauen in Gottes Gegenwart durch die Kunde von Jesus auch in uns sich einbilden, uns durchdringen und verwandeln. Mensch werden in uns.
Amen.