Wie der Dom ist die Stephanskirche doppelchörig. Im kleineren Westchor, unter der im Barock eingebauten Orgel-Empore, ist im letzten Jahr ein Raum entstanden, dessen Wände saniert wurden und dessen erneuerte Bodenfliesen, nach mittelalterlichem Muster gebrannt, das Licht in einem warmen, rötlich-braunen Ton wiedergibt. Dieser Ort ist nun zum würdigen Rahmen für eine Büste geworden, die jahrzehntelang in der Sakristei auf einem Schrank verstaubte. Sie und ihr Inhalt erinnern an den Gründer der Kirche, den Hl. Willigis.
In glänzendem, versilbertem Kupfer steht die 80 cm hohe Reliquienbüste, getragen von vier Löwen, auf einem Eichenholzsockel. Der Kopf des Kirchengründers mit dem bartlosen, freundlichen Gesicht und dem üppig gelockten Haar trägt die reich mit Perlen verzierte Mitra, die Bischofsmütze. Noch prächtiger geschmückt ist das Pallium, ein ringförmiges, vom Papst als Amtszeichen verliehenes Band um den Hals.
Geschaffen wurde das Reliquiar vom Kölner Goldschmied Gabriel Hermeling 1899 und gestiftet vom damaligen Pfarrer Josef Körner: Das verrät das umlaufende Inschriftenband auf Latein.* Auf einer Ausstellung in den USA erhielt der kunstvolle Behälter 1940 eine Grand-Prix-Auszeichnung.
Was enthält das Reliquiar?
Die Inschrift sagt dazu klipp und klar: „die heiligen Gebeine des ruhmreichen Erzbischofs."
Ein Kenner der mittelalterlichen Kirchengeschichte wird bei dieser schnörkellosen Feststellung die Stirn runzeln. Weiß heute nicht jeder, welch ein Missbrauch mit der Reliquienverehrung schon getrieben wurde? Weiß nicht jeder Leser der Romane Umberto Ecos, dass Heiligengebeine in Antike, Mittelalter und Neuzeit aus frommen und schnöden Motiven schlichtweg erfunden, umgedeutet und (verbotenerweise) auch gehandelt wurden?
Und nun soll das Reliquiar der Stephanskirche die mehr als tausendjährigen Knochen eines ganz bestimmten Mannes enthalten, der 1011 gestorben ist? Schienbein, Schädel, Brustwirbel, Schlüsselbein u.v.a. sollen echt sein?
Wo in St. Stephan schon ein aus dem Morgenland mitgebrachter Stein von der Steinigung des Hl. Stephanus‘ als Reliquie aufbewahrt wurde, dann aber doch als pietätlos (und selbstverständlich unhistorisch) verworfen wurde.
Hochwüchsiger Greis um das Jahr 1000
Umso erstaunlicher ist es, dass die Inschrift offensichtlich recht hat. Denn ein Beitrag von Werner Klenke vom anthropologischen Institut der Universität Mainz in der „Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte" (Jhg. 1961/1962) kommt nach eingehenden, akribisch dokumentierten Untersuchungen zu dem Schluss, dass es sich bei den aufbewahrten Reliquien um „die körperlichen Überreste des Erzbischofs" handelt, eines Mannes, der um das Jahr 1000 gelebt hat, großgewachsen war (wie auch sein erhaltenes Messgewand bezeugt) und ein hohes Alter erreicht hat.
Wer sich also der uralten Tradition der Reliquienverehrung verbunden fühlt, weil er den sterblichen Überresten eines Heiligen gegenüber Ehrfurcht verspürt, eines mit großen Verdiensten schon zu Gott Gegangenen, und auf seine Fürsprache bei Gott vertraut, der kann unter der Empore mit gutem Grund in Andacht verweilen.---------
* Inschrift auf dem Willigisus-Reliquiar:
Gloriosi Praesulis S. Willigisii sacra lipsana marmoreo olim condita sepulcro explosione MDCCCLVII diruto pretiosa hac theca recondi curavit devotus quidam donator memoriam recolens solemnis diei qua Adm. R. D. Josephus Körner Cons. Ecclesia. anno MDCCCIC quinque lustra in parochiali munere transegit +
„Die heiligen Reliquien des ruhmreichen Bischofs, des Hl. Willigisus, die einst in einem Marmorgrab bestattet waren, das durch die Explosion im Jahr 1857 zerstört wurde, ließ ein demütiger Stifter in diesem kostbaren Behälter/Reliquiar bergen. Er bewahrte hierdurch die Erinnerung an den feierlichen Tag, an dem der hochwürdige Administrator, Herr Joseph Körner, Cons.(??) in der Kirche im Jahr 1899 25 Jahre im Pfarramt vollendete."
(Übersetzung von Prof. Dr. J. Blänsdorf)