Liebe Schwestern und Brüder,
unser Leben entfaltet sich in der Begegnung. So ist es von Anfang an: Wenn eine Mutter ihr neugeborenes Kind über Wochen hin anlächelt, lächelt das Kind irgendwann zurück. Und das hört niemals auf: Vom Anderen her, dem Gegenüber, das mich anschaut und anspricht, komme ich erst zu mir selbst. In den Begegnungen, denen ich mich öffne, gewinnt das Leben seine Perspektiven, seine Tiefe, seinen Ernst und seinen Glanz.
Der Philosoph Martin Buber hat sein ganzes Gelehrtenleben diesem Thema gewidmet: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung".
Er sieht uns Menschen von Anfang an und unablässig in den Dialog miteinander gestellt. Das Wesen dieses Dialogs aber sei es, so schreibt er, „den anderen im Zuhören so groß wie möglich zu machen."
In der Begegnung und im aufrichtigen Dialog lasse ich mich auf ein Abenteuer ein, dessen Ausgang offen ist. Ich lasse mir gesagt sein, was ich mir selbst nicht sagen kann. Ich muss mir womöglich etwas anhören, was mir unangenehm oder ärgerlich ist. Das ist herausfordernd, faszinierend und gefährlich zugleich. Ich gehe das Risiko ein, irritiert, sogar überwältigt zu werden. Auf jeden Fall gehe ich verändert aus der Begegnung hervor.
Man kann den Dialog auch verweigern.
Dann aber erstarrt das Leben.
Auch das Leben der Kirche.
Die gegenwärtige Kirchensituation, die tiefe Krise ihrer Glaubwürdigkeit, die Gleichgültigkeit der vielen, die von ihr nichts mehr für ihr Leben erwarten, hat viel mit solcher Dialogverweigerung zu tun. Mit dem Beharren auf Positionen aus Angst vor Identitätsverlust und weil man das Eigene wie einen kostbaren Besitzstand schützt, mit Machtwillen und manchmal schlicht mit Rechthaberei.
Der Dialog ist aber nicht irgendeine beliebige Zugabe zum „eigentlich" Christlichen.
Er ist dieses Christliche selbst.
Das Christentum ist keine ein für alle Mal abgeschlossenen Doktrin, die unabhängig vom Kontext ihrer Zeit und von den Menschen, an die sie sich wendet, verkündet werden könnte.
Der lebendige Gott offenbart sich im Reichtum der ausdrücklichen Glaubensgeschichte, der Wahrheiten, die sie in Worten und Symbolen tradiert. Gewiss.
Er offenbart sich aber auch in den „Zeichen der Zeit". Den drängenden Fragen, dem Leiden an der gegenwärtigen Kirchenrealität, vor allem aber in der Not der Menschen am Rand.
Lebendiger Glaube in Treue zur Überlieferung bedeutet gerade nicht, immer wieder die alten Antworten zu geben. Auch wenn sie wahr und richtig bleiben. Als Antworten aber auf Fragen, wie sie heute nicht mehr, oder zumindest nicht mehr so, gestellt werden.
Lebendiger Glaube in Treue zur Überlieferung bedeutet vielmehr, in einem tiefen Vertrauen in seine unüberholbare und bleibende Aktualität, diesen Glauben immer wieder neu dem Dialog auszusetzen, ja, ihn im Dialog auf´s Spiel zu setzen.
Gott gehört uns nicht. Und er gehört nicht der Kirche.
Als wäre er einzufangen in den Formen und Formulierungen des Glaubens, in denen sie seine Offenbarung durch die Zeiten trägt und bewahrt.
Wir besitzen ihn nicht. Sondern müssen ihn selbst immer suchen und entdecken, Zeit unseres Lebens, um vielleicht allmählich, aber in einem nie abgeschlossenen Prozess, in die ganze Wahrheit des Glaubens hineinzuwandern.
Im Gespräch und in der Begegnung, in der Offenheit und im Hinhören auf das Anderssein des Anderen, der uns mit seinen Fragen herausfordert und vielleicht provoziert, und doch mit uns auf einer gemeinsamen Suche ist, begegnen wir dem Geheimnis dessen, der größer ist als unser Herz und unser Verstand und größer auch als die kirchliche Wahrheitsverwaltung.
Ist das nicht die pfingstliche Botschaft vom Heiligen Geist, der uns Christus und seinem Wort treu bleiben lässt, gerade indem er uns öffnet, weit macht und sendet?
Yves Congar, der große französische Konzilstheologe, beschreibt den Geist als jene Wirklichkeit Gottes, die „das Evangelium vorwärts, in das „Noch nicht Gekommene der Geschichte" hineintreibt".
Er schreibt:
„Das vierte Evangelium bestätigt mehrfach, dass die Jünger erst später und im Licht von Ostern die Bedeutung der Worte und Taten Jesu verstanden haben. Es überliefert uns auch die Verheißung Jesu, dass der Geist die Jünger in die volle Wahrheit einführen und ihnen das Zukünftige enthüllen wird.
Das ist keine Vorhersage der Zukunft, sondern die Verheißung eines Beistandes, damit wir dem Wort Jesu treu bleiben und gleichzeitig in einer neuen geschichtlichen Situation neue Antworten geben."
Einander im Zuhören so groß wie möglich zu machen, sei, meint Martin Buber das Geheimnis wirklicher Begegnung.
Das Geheimnis Jesu, sein innerstes Wesen, war es, könnte man daran anknüpfend sagen, Gott im Zuhören so groß wie möglich zu machen. Ganz Ohr für ihn zu sein, ganz Leib und Leben.
Gottes Gegenwart in ihm, seinem menschgewordenen Wort, aber offenbart sich darin, dass Jesus den Menschen in seiner Zuwendung, im Zuhören, so groß wie möglich gemacht hat.
Ihn, den auferstandenen Christus, heute füreinander und für die Andern zu leben, vor allem für die am Rand, an den Peripherien, sind wir im pfingstlichen Geist herausgefordert und gerufen:
Als Menschen der Offenheit und des Dialogs, damit wir im Hören auf das Fragen und Suchen, auf die Not, den Hunger nach Sinn und nach Gerechtigkeit der Menschen von heute, die Botschaft selbst neu, tiefer und weiter verstehen, die auszurichten uns anvertraut ist.
Amen