Auch im Ried ist nun ein Fall von sexuellem Missbrauch durch einen katholischen Pfarrer bekannt geworden. Die Betroffene, Dr. Ilonka Czerny, hat selbst den Anstoß zur Aufarbeitung der Taten von 1978 bis 1981 gegeben. Die Mitglieder der Gemeinde Sankt Bonifatius Goddelau wurden am Samstag im Rahmen einer Gemeindeversammlung über die Geschehnisse und ihre Aufarbeitung informiert. An der Veranstaltung im Pfarrsaal unter dem Motto „Licht ins Dunkel bringen“ nahmen neben Czerny und Vertretern der Gemeinde auch die Bevollmächtigte des Mainzer Generalvikars, Stephanie Rieth, sowie mehrere Vertreterinnen der Präventions- und Interventionsstelle des Bistums Mainz teil.
Pfarrer Clemens Wunderle als Verantwortlicher für den Pastoralraum Nördliches Ried, zu dem die Goddelauer Pfarrei inzwischen gehört, hob einleitend hervor, dass die damaligen Taten bis heute schwer belastend seien. Wenngleich man die Ereignisse nicht rückgängig machen könne, sei man der Betroffenen gegenüber verpflichtet, Transparenz über das Geschehene zu schaffen und so nachträglich ein Stück Gerechtigkeit herzustellen, wenn das überhaupt möglich sei. Er bat Czerny im Namen der Gemeinde um Vergebung für die Vorgänge. Wunderle sagte weiter, dass diese Situation auch für die Goddelauer Gemeinde eine Herausforderung darstelle, er jedoch eine enorme Bereitschaft erfahren habe, gemeinsam diesen Weg der Aufarbeitung zu gehen und im Sinne der Betroffenen zu handeln.
Czerny berichtete bei der Versammlung, dass sich der damalige Pfarrer der Gemeinde über drei Jahre hinweg mehrmals wöchentlich an ihr verging. Zu Beginn der Taten war sie zwölf Jahre alt, ihre Familie war damals auf verschiedene Weise in der Gemeinde aktiv. „Es war die klassische Situation des ‚lieben Onkels‘ “, so berichtete sie. „Einerseits half Pfarrer Haubrich mir bei den Hausaufgaben, andererseits musste ich ihn befriedigen.“ Er schaffte es, dass sie zuhause nichts von dem „Geheimnis“ erzählte. „Es war zugleich ein geistlicher Missbrauch“, so Czerny, „denn er fragte mich bei der Beichte auch nach sexuellen Aktivitäten aus. Er bestand darauf, dass ich bei ihm beichte.“
Der Täter war bis 1988 als Pfarrer in Goddelau tätig und wohnte dort auch wieder nach seinem Übergang in den Ruhestand. Erst als Czerny, die inzwischen in Stuttgart lebt, ihn beim Bistum anzeigte, wurde ihm letztendlich aus Rom auferlegt, den Wohnort zu wechseln. Gegenüber dem Bistum gab er seine Handlungen zu, worauf ihm das Recht zur Zelebration als Ruhestandspfarrer entzogen wurde. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Haubrich wurden wegen Verjährung eingestellt. Im Jahr 2017 ist er verstorben und liegt in Goddelau begraben – Reue gegenüber Czerny hatte er bis zum Schluss nicht gezeigt.
Für die 58-jährige wirken die Taten bis heute traumatisch nach. Schon als junge Erwachsene benötigte sie erste Therapien, litt unter schweren Depressionen und psychosomatischen Beschwerden – typische Symptome ihrer posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie inzwischen weiß und ähnlich auch von anderen Betroffenen gehört hat. „Mein Beziehungsleben hat Haubrich für immer kaputt gemacht“, sagt sie. „So bin ich auch kinderlos, obwohl ich mir eine eigene Familie gewünscht hätte.“
Ihren Glauben hatte sie trotz der Ereignisse nicht verloren: Neben Kunstgeschichte und Kunstpädagogik studierte sie auch Theologie. Das Arbeiten für die Kirche – seit 2001 leitet sie neben ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit den Fachbereich Kunst der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart – fällt ihr aber zunehmend schwer. Sie engagiert sich in den Betroffenenbeiräten der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Deutschen Bischofskonferenz, will ihr Leben aber auch nicht ausschließlich von den damaligen Ereignissen bestimmen lassen.
Im Februar diesen Jahres wurden die Gemeindegremien über den Fall informiert und es bildete sich zur Aufarbeitung eine Arbeitsgruppe, der neben der Betroffenen und ihrer Zwillingsschwester auch Pfarrer Wunderle, Gemeindereferentin Angelika Rodenhausen und fachlich kompetente Pfarrgemeindemitglieder angehören. Bei der Gemeindeversammlung nahm Stephanie Rieth, im Bistum als Bevollmächtigte des Generalvikars zuständig für das Thema Sexualisierte Gewalt, Stellung zu den Geschehnissen und zum Umgang mit dem Täter. „Die damalige Bistumsleitung ist dem nicht konsequent nachgegangen“, sagte sie. Die Glaubenskongregation in Rom hätte die kirchenrechtliche Verjährung aufheben können, tat dies aber nicht. Mögliche weitere Betroffene, etwa aus anderen Gemeinden Haubrichs, seien bislang nicht bekannt.
Der Bericht von Ilonka Czerny führte zu Entsetzen bei den Gemeindemitgliedern, besonders weil viele den Täter noch persönlich kannten. In Murmelgruppen gab es die Möglichkeit, sich auszutauschen und die anfängliche Sprachlosigkeit zu überwinden. Der Schock saß bei vielen der Anwesenden tief, es flossen auch Tränen. „Wenn die Kirche wieder glaubwürdig werden will“, so Czerny, „muss sie sich dem stellen, was passiert ist. Ich denke, die Gemeinde Goddelau ist auf einem guten Weg.“ Aus den Gruppen kamen kritische Nachfragen an das Bistum etwa zu Haubrichs prachtvoller Beerdigung und dem damaligen Täter- statt Opferschutz.
Pfarrer Clemens Wunderle ging mit Blick auf die Zukunft auch auf das institutionelle Schutzkonzept ein, welches in diesem Jahr in den Gemeinden des Pastoralraums erarbeitet wurde. „Wir haben alle unsere Abläufe auf den Prüfstand gestellt“, sagte er, „und alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen, damit solche Verbrechen bei uns nie mehr vorkommen können.“ Auch Dr. Ilonka Czerny betrachtet die Aufarbeitung ihres Falls als Beitrag zu Prävention: „Wer das Schutzkonzept der Gemeinde liest und weiß, dass so etwas auch hier schon passiert ist, hat sicher eine ganz andere Aufmerksamkeit für das Thema.“