Ketteler hat das soziale Engagement der Kirche nicht „erfunden". Für ihn gehört es zum christlichen Glauben von Anfang an dazu. Seine Themen sind „immer noch von Bedeutung". Sagt Kardinal Marx. Und hat deshalb ein Buch über Ketteler, die Kirche und ihr olitisches Tun geschrieben.
„Irdisches Wohl und ewiges Heil sind nicht zu trennen, sondern aufeinander zu beziehen. Deshalb: Christ sein heißt politisch sein!" So beendet Kardinal Marx sein Vorwort. Dieser Schlusssatz st zugleich Auftakt für einen programmatischen Blick zurück
nach vorn: Mit ausgewählten Reden und Predigten Kettelers lassen sich Akzente setzen in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Auch wenn die Fragen andere geworden sind, „vielleicht hilft uns auch die Lektüre Kettelers, unser eigenes Nachdenken zu
inspirieren".
Ein Beispiel. Ketteler spricht vor Arbeitern in Offenbach. 1869. Ein Thema ist der gerechte Lohn. Ketteler: „Die erste Forderung des Arbeiterstandes ist: eine dem wahren Werte der Arbeit entsprechende Erhöhung des Arbeitslohnes. Diese Forderung ist im Allgemeinen höchst billig: auch die Religion fordert, dass die menschliche Arbeit nicht wie eine Ware behandelt und lediglich durch An- und Abgebot abgeschätzt werde."
Marx hat einige weitere Reden und Predigten zusammengestellt, die genau das bewirken, was er im Nachwort verspricht: „Eine Lektüre der Schriften Wilhelm Emmanuel von Kettelers regt auch heute dazu an, sich über das eigene Handeln Rechenschaft abzulegen, und ermutigt dazu, die Botschaft Jesu Christi in Wort und Tat zu verkündigen und sich nicht von gesellschaftlichen und politischen Umständen davon abhalten zu lassen."
In ein Buch zum Geburtstag, einem zum 200. erst recht, gehört ein Blick auf den Lebenslauf. Spannend zu lesen, wie ungeplant und doch nicht zufällig Ketteler seine Rolle in der deutschen Kirche und Gesellschaft fi ndet. 1948. Das erste deutsche Parlament tagt in der Frankfurter Paulskirche. Ketteler ist Abgeordneter. Und Priester im Münsterland. Als zwei Parlamentarier ermordet werden, hält er die Predigt beim Begräbnis. Und wird politisch. Er geißelt jene als Schuldige, die mit ihren Hassreden die Saat gelegt haben für die Morde. Der Text wird landesweit gedruckt. Zwei Wochen später hält er beim ersten Katholikentag in Mainz - aus dem Stegreif, wie Marx schreibt - ein Plädoyer für das soziale Engagement der Gläubigen. Die Rede gefällt dem Mainzer Dompfarrer. Ketteler darf einige Monate später die Adventspredigten dort halten. Darin wieder der Aufruf, den Armen zu helfen. „Eigentum verpflichtet": eine seiner Botschaften steht heute im deutschen Grundgesetz.
Johannes Becher
Diese Buchbesprechung lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" Nr. 42 vom 16. Oktober 2011.
„Spiritualität und Weltverantwortung, Mystik und Politik gehören zusammen. Mystik ist keine Weltflucht und Politik keine Glaubensflucht. Vielmehr macht die wahre Frömmigkeit des Evangeliums hellwach für die Not des Nächsten und für Ungerechtigkeit und Unfrieden. Und ebenso gewinnt das politische und karitative Engagement der Kirche erst Tiefenwirkung, wenn es vom Quell echten Glaubens genährt wird."
„Für die Kirche liegen die Herausforderungen auf der Hand. Sie ist in ihrer politischen und sozialen Verkündigung dem Programm Jesu verpflichtet. Weder eine Entpolitisierung der Botschaft Jesu mit der Konsequenz einer reinen Innerlichkeit noch die Verwirklichung eines Reiches im Sinne eines klerikalen Gottesstaates werden der Botschaft des Neuen Testaments gerecht."
„Beides ist wichtig: die tätige Hilfe für den Nächsten und die strukturelle Hilfe. Beides ist vom Evangelium her im Blick zu behalten. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter appelliert im Grunde auch daran, dem unter die Räuber Gefallenen nicht nur zu helfen, sondern auch politisch dafür zu sorgen, dass die Wege von Jerusalem nach Jericho sicherer werden."
„Was wir an Ketteler aber jenseits des historischen Kontextes ablesen können, ist die Berufung für das Politische und für das Religiöse. In beidem leitete Ketteler das Ziel, dem Menschen zu dienen... An den menschenfreundlichen Gott zu glauben heißt, sich für eine menschenfreundliche Welt einzusetzen."
Alle Zitate aus dem Vorwort von Kardinal Reinhard Marx
Hinweis: „Christ sein heißt politisch sein" von Kardinal Reinhard Marx, Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2011: 14,95 Euro.