Liebe Schwestern und Brüder,
auf meinem Schreibtisch im Büro liegt eine „to-do-Liste". Punkt für Punkt ist darauf notiert, was ich im Lauf der Woche zu erledigen gedenke. Ich bilde mir ein, das würde mir helfen, den Überblick zu behalten. Und es erfüllt mich für einen Moment mit Genugtuung, wenn ich ein Häkchen hinter einen der Punkte machen kann.
Noch nie freilich bin ich bis zum Ende einer Woche mit meiner Liste fertig geworden. Zu jedem Punkt, den ich als erledigt abgehakt habe, sind drei neue hinzugekommen. Am Montag beginnt das Ritual dann von vorn: Ich setze eine neue Liste auf mit den Prioritäten der neuen Woche. Wohl wissend, dass ich wieder nicht damit zu Rande kommen werde.
So ähneln wir wahrscheinlich alle ein wenig dem Sisyphos. Jener Gestalt der griechischen Mythologie, die von den Göttern dazu verurteilt ist, einen Felsen den Berg hinauf zu bewegen, jeden Tag neu, weil dieser Felsen immer wieder, kaum ist Sisyphos am Ziel angekommen, ins Tal hinabrollt:
Auch wir werden niemals wirklich fertig mit dem, was uns aufgetragen ist. Das gehört wohl zum Wesen unseres endlichen, mit begrenzten Kräften ausgestatteten Lebens: Hinter jeder Lösung, die wir finden, tun sich neue Probleme auf. Manchmal gönnen wir uns einen Augenblick der Ruhe. Aber wir wissen dann schon, dass unsere Aufgabe nie vollkommen erfüllt sein wird, dass nie alles gut und vollbracht ist, und dass unser Fels am nächsten Tag doch wieder auf uns wartet.
Wir erfahren das im „Kleinen" unseres Alltags in der Familie und am Arbeitsplatz, in manchen Konflikten, in denen wir verstrickt sind, in dem, was wir dem andern und auch uns selbst immer wieder schuldig bleiben. Und ebenso im „Großen" den Themen, die uns umtreiben, wenn uns den Herausforderungen unserer so zerrissenen Welt und Gesellschaft stellen und doch wissen, dass es nie genug sein kann, was wir mit unserem Engagement bewirken.
Vielleicht liegt es daran, dass diese Welt noch im Werden ist. Sie geht, wie wir glauben und hoffen, einer Vollendung entgegen. Noch aber ist sie von Kämpfen und Widersprüchen geprägt. Es gibt in ihr das Endgültige und Vollendete nicht, keine Vollkommenheit, die nichts mehr zu wünschen übrig ließe.
Höchstens als Ahnung, als Anlauf und Annäherung: Manchmal berühren wir etwas davon, wie es sein und bleiben sollte, wie es gut wäre und erfüllt. Aber wir können es nicht halten. Die Gegenkräfte sind zu groß. Und der Felsen verliert die Balance und rollt wieder ins Tal.
Man könnte darüber resignieren oder in Zynismus verfallen: weil alles Mühen absurd erscheint, wenn es das Wahre und Richtige im Falschen nun einmal nicht gibt.
Manche verbrauchen sich im Aktionismus. Sie brennen ein Feuerwerk der guten Taten und der gutgemeinten Projekte ab. Manche bleiben dann ausgebrannt zurück, ohne nachhaltig Licht ins Dunkel gebracht zu haben.
Als die Jünger, die Jesus ausgesandt hatte, zurückkehren, sind sie erschöpft. Sie haben gelehrt und geheilt, die unreinen Geister aus den Herzen und Köpfen der Menschen zu vertreiben versucht und sich bemüht, das Senfkorn des Gottesreiches auszusäen. Aber sie werden des Ansturms nicht Herr. Es ist nicht genug. Allen können sie ohnehin nicht helfen. Geradezu modern mutet an, wie das Markusevangelium den Stress schildert, in den sie geraten sind: „Sie fanden nicht einmal mehr Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen."
Da versammelt Jesus sie alle um sich: seine Jünger, diese hilflosen Helfer und die vielen Mühseligen und Beladenen, die sie bedrängen, weil sie mit ihrem Leben einfach nicht fertig werden. Und, als hätte er alle Zeit der Welt, lehrt er sie lange.
Wir erfahren nichts über den Inhalt seiner Predigt. Nur, dass er sie aus Mitleid gehalten habe. Aus ihm spricht der in all unseren Mühen, im Gelingen und Scheitern, mitleidende Gott, der in all dem, womit wir nicht fertig werden, gegenwärtig und am Werk ist.
Darin, dass er den ganzen unerledigten Rest im Kreuz auf sich genommen hat, gründet die Hoffnung unseres Glaubens auf Erlösung und Vollendung.
Uns bleibt, in seinem Namen, dort wo wir stehen, mit dem, was uns gegeben ist, in den Aufgaben, die uns gestellt werden, zu tun, was wir können. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Der Sisyphos-Felsen, der uns am Morgen erwartet, erscheint im Licht dieser Hoffnung neu und verwandelt: als das tägliche Kreuz unserer Nachfolge auf dem Weg des Mitleidens und der Liebe, auf dem wir einer Vollendung entgegengehen, die wir nicht von uns selbst erwarten.
Wenn wir das glauben, kann uns das aufrichten und trösten.
Wir dürfen uns die Menschen, die zu Füssen Jesu saßen und seine Predigt hörten, als glückliche Menschen vorstellen.
Amen.