Liebe Schwestern und Brüder,
von Reiner Maria Rilke ist die folgende Begebenheit aus seiner Zeit in Paris überliefert:
Gemeinsam mit einer Begleiterin kam er regelmäßig um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine alte Bettlerin saß.
Ohne je zu einem Geber aufzusehen und ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern, als nur die Hand auszustrecken, saß sie stets am gleichen Platz.
Rilkes Begleiterin gab ihr häufig ein Geldstück. Er selbst gab nie etwas.
Nach dem Grund dafür gefragt, gab er zur Antwort:
„Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand."
Einige Zeit später brachte Rilke eine eben aufgeblühte Rose und legte sie in die hingehaltene Hand.
Er wollte weitergehen, als das Unerwartete geschah:
Die alte Frau blickte auf, sah den Geber an, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.
Eine Woche lang war sie danach verschwunden. Der Platz, an dem sie gesessen hatte, blieb leer.
Erst nach acht Tagen saß die Bettlerin wieder am gewohnten Ort. Wie zuvor: stumm und ohne aufzusehen, ihre Bedürftigkeit nur durch die ausgestreckte Hand anzeigend.
„Wovon hat sie denn all die Tage, an denen sie nichts erhielt, nur gelebt?", fragte Rilkes Begleiterin.
„Sie hat", antwortete er, „von der Rose gelebt."
Man könnte dieser Geschichte eine verklärende Tendenz vorwerfen. Mancher mag sie vielleicht für ein wenig kitschig halten.
In der harten Wirklichkeit reduzieren Armut und Not Menschen ja oft so sehr auf ihre materielle Bedürftigkeit, dass sie abstumpfen und – anders als diese Bettlerin- unempfänglich werden für alles Schöne und für jede zweckfreie Zuwendung.
Auch deshalb ist Armut ein Übel, das bekämpft werden muss.
Und doch kommt in der Begebenheit, die da geschildert ist, eine tiefe Wahrheit über uns Menschen zum Ausdruck.
Die Dichterin Hilde Domin hat sie einmal so formuliert:
„Wir essen das Brot – doch wir leben vom Glanz."
Von dem, was unverrechenbar und überraschend und als Geschenk auf uns zukommt. In beglückenden Begegnungen. In einem guten Gespräch. Im Blick der Liebe, der uns aufrichtet und tröstet.
Und manchmal fühlt man sich ja wirklich von einem Lob oder von einem Lächeln, das einem geschenkt wird, gestärkt, ermutigt und wie durch den Tag getragen.
Als der Versucher in der Wüste an den fastenden Jesus herantritt und ihn auffordert, aus Steinen Brot zu machen, weist der ihn zurück:
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt."
Im Kontext des Johannesevangeliums gewinnt dieser Satz eine geheimnisvolle Tiefe:
Dieses Wort aus Gottes Mund, so heißt es dort, ist Fleisch geworden, um in der Welt und unter den Menschen zu wohnen.
Es leuchtet im Dunkel als Glanz. Es ruft zum Vertrauen, aus dem wir leben dürfen:
Wie tief die Finsternis des Sinnwidrigen und Bösen auch sein mag-die Güte reicht tiefer.
Sie ist in der Welt, weil Gott das Ja seiner Liebe im menschgewordenen Wort einmal und ein für alle Mal, unwiderruflich, in sie hineingesprochen hat
So hatte es Johannes im Prolog seines Evangeliums besungen:
„Und das Wort ist Fleisch geworden (. . .).
Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.
Die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater."
In der Brotrede Jesu klingt das jetzt wieder auf:
Die Gegenwart Gottes in ihm, seinem Gesandten, ist die Herrlichkeit, ist der Glanz, von dem die leben dürfen, die sich im Glauben öffnen und ihn aufnehmen:
„Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist (. . .).
Wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben."
Um dieses Brot hat Jesus seine Jünger, uns, zu beten gelehrt:
„Dein Reich komme,
dein Wille geschehe."
Auch wenn es natürlich wahr ist, dass Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhalten, zielt die anschließende Bitte im Vater Unser, die Bitte um das tägliche Brot für den heutigen Tag, doch nicht einfach nur auf das physische Grundnahrungsmittel. Gott schenkt unserem Herzen, nicht nur unserer Hand.
Die Bitte meint auch jenes „himmlische Brot", das „Brot, das vom Himmel herabgekommen ist" und das er uns zu geben versprochen hat:
Die Gemeinschaft mit ihm, Christus, in dem uns die Liebe Gottes, seine Güte und Menschenfreundlichkeit, greifbar wird und uns für diese Welt und unsere Aufgaben in ihr zugesagt ist, damit wir daraus leben:
Als Menschen des Vertrauens und Boten einer größeren Hoffnung, die „heute", in ihrer jeweiligen Zeit und Situation, trotz allem, was immer wieder dagegen zu sprechen scheint, die Gegenwart Gottes, den Anbruch seines Reiches, der Ewigkeit in der Zeit bezeugen.
Als Menschen, die großzügig und ohne Berechnung, sich selbst geben und in ihrer Zuwendung dem Herzen des anderen schenken.
Als Menschen, die in Worten und Taten etwas von dem Glanz durchscheinen lassen, der ihnen aufgeleuchtet ist und von dem sie, wie angefochten auch immer, leben.
Amen