Liebe Schwestern und Brüder,
wenn eine Mutter ihr neugeborenes Kind viele Tage und Wochen immer wieder angelächelt hat, geschieht eines Tages das Wunderbare:
Das Kind antwortet ihr und lächelt zurück.
Es ist ein einmaliger und kostbarer Moment. Ein Augenblick des Erwachens:
Der kleine Mensch im Arm seiner Mutter, fühlt sich angesprochen. Er beginnt, zu sich selbst zu kommen, sich als eigenes Wesen zu erfahren, als ein „Ich", in der Zuwendung, die ihm ein anderer schenkt.
Was da im Kind aufgebrochen ist, wird ein Leben lang weitergehen:
Wir brauchen immer ein Gegenüber, das uns ansieht und anspricht. Wir brauchen ein „Du", damit wir „Ich" sagen können.
Die Zuwendung des Anderen erschließt uns das Selbstsein und öffnet uns den Zugang zur Welt und zum Leben.
Das ist faszinierend. Und es ist zugleich auch gefährlich.
Es macht uns verletzlich, dass wir so ausgesetzt sind und uns im Entscheidenden nicht selbst in der Hand haben.
Das Wort, das uns berührt, so dass wir uns öffnen und entfalten, können wir uns nicht selbst sagen. Wir müssen es uns gesagt sein und schenken lassen:
Vor allem das Wort der Liebe, das Wort der Anerkennung und auch das Wort der Vergebung.
Es kann uns auch vorenthalten werden.
Und es gibt auch Worte, die uns nicht wachsen lassen, sondern klein machen:
Es gibt das vergiftete Lob, das unser Misstrauen weckt. Es gibt Worte, die uns ängstigen, so dass wir uns in uns selbst verkriechen, uns abschotten und verschließen möchten.
Es gibt die Zuwendung des Anderen in Begegnungen, in denen wir größer werden und Gespräche, die den Horizont weiten und in denen wir unsere besten Gedanken und tiefsten Gefühle entdecken und aussprechen lernen.
Aber: Es gibt eben auch so viel böses Gerede, Gemeinheit, die Hetze, die Menschen ganz stumpf werden lassen, taub und unempfänglich, in sich selbst und in ihren Ängsten verschlossen und unfähig, sich überhaupt noch menschlich zu artikulieren.
Im Evangelium des heutigen Sonntags begegnet Jesus einem ganz und gar in sich gefangenen Menschen:
Ein Taubstummer wird zu ihm gebracht.
Das Wunder der Heilung, von dem uns erzählt wird, beginnt dann damit, dass Jesus ihn beiseite nimmt. Weg von der Menge. Vom Lärm und Gerede der Vielen.
Er schafft einen Raum der Intimität. Und in die Zuwendung, die er dem Taubstummen schenkt, legt er sein Wort: „Effata", das Wort, das ihn öffnet und ihm den Zugang zur Welt, zu den Andern, zum Leben wieder erschließt.
„Er hat alles gut gemacht."
Im Ruf des Erstaunens, in den die Zeugen des Wunders ausbrechen, klingt von Ferne das „Es war sehr gut" der Genesis am Abend des 7. Schöpfungstages an.
Und es wird deutlich, worum es in diesem Evangelium eigentlich geht:
Das Wunder, das uns erzählt worden ist, verweist auf die Heilung des ausgesetzten und verletzlichen, des verwundeten und in sich verkrümmten Geschöpfs „Mensch" in der Tiefe durch die Berührung mit Christus, der menschgewordenen Zuwendung Gottes, dem Wort seiner Liebe.
Wie das kleine Kind sich durch das Lächeln der Mutter angesprochen fühlt und zurücklächelt, so soll die von Gottes Zuwendung, seinem Wort, ins Dasein gerufene und im Dasein gehaltene Schöpfung im Menschen die Augen aufschlagen und Antwort geben.
In Christus legt sich das schöpferische Wort Gottes noch einmal und endgültig und unüberbietbar als Liebe aus.
Sie leuchtet vor uns auf, damit wir aufwachen und von ihr berührt, uns öffnen und aufbrechen in ein Leben, das ihr entspricht, das sie widerspiegelt und ihr entspricht:
Als Menschen des Vertrauens und als Friedensstifter,
im Hunger und Durst nach Gerechtigkeit,
in unserer Zuwendung zu den Kleinen und Schwachen,
der Empathie, in der der Mensch seine Menschlichkeit zeigt,
der Fähigkeit zum Mitleid mit der geschundenen Kreatur und mit unserem Nächsten, in dem uns Christus begegnet und fragt, ob wir uns ihm in Liebe öffnen und in ein Leben rufen lassen, das von der Hingabe mehr erwartet als von der Selbstbehauptung, die sich vor dem anderen und vor der Welt verschließt.
Wo auch immer wir die Evangelien aufschlagen:
Die Worte, die uns in ihnen überliefert sind, damit wir uns durch sie berühren und herausfordern lassen, münden alle in ein einziges Wort und sind in ihm zusammengefasst.
Es lautet:
„Effata !", „Öffne dich!"
Amen