5. Fastensonntag - Pfr. Stefan Schäfer
Liebe Schwestern und Brüder,
nachdem sie ihm die Stelle gezeigt haben und er nun am Grab seines Freundes Lazarus steht, „da", so notiert es der Evangelist, „weinte Jesus".
Und obwohl Johannes die hoheitlichen Attribute des gottgesandten Messias, die Souveränität Jesu auch in dieser Krise, sehr deutlich betont, - die Tränen, die Jesus um Lazarus weint, sind doch sehr menschlich unsere Tränen, die gleichen Tränen, die auch wir weinen, wenn wir an unseren Gräbern stehen.
Das ist kein Widerspruch:
Die „Herrlichkeit Gottes", die sein Messias sichtbar macht und offenbart, ist seine Barmherzigkeit. Nicht die Herrlichkeit eines Gottes, der unberührt und unberührbar über dem Leiden der Menschen thront, sondern des Gottes Jesu Christi, der zum Mitleiden mit seinen Geschöpfen entschlossen ist, der unsere Tränen weint und in unserer Trauer gegenwärtig ist.
„Misereor", sagt dieser Gott: „Ich erbarme mich."
Zwei Mal wird in unserem Evangelium heute gesagt, dass Jesus „innerlich", dass er „im Innersten" erregt war. Ihn erschüttert der Tod des Lazarus und der Schmerz derer, die ohnmächtig und ratlos und elend dem Todesschicksal gegenüberstehen:
Diesem konkreten Tod gegenüber. Aber auch seinen Erscheinungsformen überall und zu allen Zeiten:
dem Leiden und Sterben der Kinder, der Unschuldigen, in den Kriegen, durch Unglücke bis heute,
dem himmelschreienden Unrecht in einer Welt, in der noch immer die Starken und Glücklichen über die Hoffnungen so vieler hinweggehen, an das uns heute der Misereor Sonntag wieder erinnert,
dem Einbruch des Sinnwidrigen in das Leben durch Terror und Gewalt.
Wenn uns Gewöhnung nicht innerlich ganz hat abstumpfen lassen, kennen wir von uns selbst, zumindest als Ahnung, die Erschütterung, die Jesus ergreift:
Die Empörung über den Tod in jeder Gestalt, das Aufbegehren dagegen, dass er den Anspruch auf Sinn, den wir tief in uns tragen, auf Sinn für uns selbst und den andern, immer wieder blindlings zerstört.
Dann sind Jesu Tränen auch unsere Tränen.
Sie sind oft bitter und schmerzlich. In Wahrheit schmerzlich aber wäre es, wenn sie versiegen würden und die Quelle, der sie entspringen in uns versandet, weil wir uns nicht mehr erschüttern lassen.
Es gibt wohl auch eine Traurigkeit, eine Schwermut, die uns von Gott und den Menschen und schließlich auch von uns selbst entfernt und die uns entfremdet:
Sie wächst daraus, sich der Resignation gegenüber den Zumutungen des Lebens zu überlassen und führt in die Apathie, die Teilnahmslosigkeit, weil es sich ja ohnehin nicht lohnt, sich für das Gute einzusetzen. Oder in den Zynismus, der die Suche nach Sinn karikiert und jegliches Engagement, das andere trotz aller Widerstände und Enttäuschungen eingehen als naiv und als „Gutmenschentum" lächerlich macht. Sie greift manchmal um sich als Langeweile und Überdruss mitten im Wohlstand eines vollklimatisierten Lebens.
Schon der Apostel Paulus spricht von einer „weltlichen Traurigkeit", die zum Tode führt (2Kor7,10).
Ihr stellt der Apostel eine „gottgewollte Traurigkeit" gegenüber.
Sie weint mit den Weinenden. Sie entspringt der Solidarität mit den Anderen und der Anteilnahme an ihrem Schicksal.
Sie zieht uns hinein in ein Leben mit Gott, dessen Herrlichkeit sich als Erbarmen offenbart, als Mitgehen und Mitleiden und der in Freude und Hoffnung aber eben auch in der Angst und der Trauer seiner Geschöpfe gegenwärtig ist.
„Seht wie lieb er ihn hatte", bemerken die Umstehenden als Jesus am Grab des Lazarus weint.
Die Tränen der „gottgewollten Traurigkeit" haben ihre Quelle in einer Liebe, die den anderen auch dann nicht fallen lässt, wenn sie für ihn nichts mehr tun kann und wo alles vergeblich erscheint.
Sie werden zu Tränen einer Sehnsucht nach Gott, der fern zu sein scheint und der schweigt und an dessen Verheißung: „misereor, ich erbarme mich!" diese Sehnsucht dennoch sich festmacht, sprachlos, ohne eigene Worte und ohne zu wissen, wie das geschehen soll, dass sein Erbarmen trotz allem rettet.
Wir dürfen um solche Tränen beten wie um eine Gabe des lebenspendenden Geistes.
In der Trauer um unsere Verluste, auch in unserem Scheitern, der Schuld und wo wir im Blick auf diese Welt verzweifeln könnten:
„Gib mir die Gabe der Tränen, Gott",
schreibt Dorothee Sölle in einem Gedicht, das sich liest wie ein Psalm,
„Gib mir die Gabe der Tränen Gott,
gib mir die Gabe der Sprache,
reinige mich vom Verschweigen,
gib mir die Wörter, den neben mir zu erreichen.
Gib mir die Gabe der Tränen, Gott,
gib mir die Gabe der Sprache.
Zerschlage den Hochmut,
mach mich einfach.
Gib mir die Gabe der Tränen, Gott,
gib mir die Gabe der Sprache,
gib mir das Wasser des Lebens."
Amen