Liebe Schwestern und Brüder,
der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau war ein vielbeschäftigter Mann. Er engagierte sich im 19. Jahrhundert gegen den kapitalistischen Materialismus und für die Befreiung der Sklaven. Eines schönen Tages aber stieg er aus. Zwei Jahre verbrachte er in einer selbstgezimmerten Blockhütte an einem See mitten im Wald. Er saß dann wohl manchmal vor seiner Hütte und ließ die Stunden vorüberziehen. Mit nichts anderem beschäftigt als damit, dem Gesang der Vögel und dem Rauschen der Bäume zu lauschen. Am Abend eines solchen Tages notiert er einen bemerkenswerten Satz in sein Tagebuch:
„Es war Morgen, aber siehe, nun ist es Abend geworden, und nichts Berichtenswertes ward getan."
Das ist ein Satz eines sehr gelassenen und sehr freien Menschen, denke ich mir. Da lässt sich jemand nicht von der Zeit treiben. Er lässt sich von ihr tragen. Rückblickend schreibt er:
„In solchen Stunden wuchs ich wie das Korn in der Nacht, sie waren viel besser als irgendwelches Werk meiner Hände gewesen wäre. Es war keine meinem Leben abgezogene, sondern um so viel dreingegebene Zeit."
Wahrscheinlich werden wir nicht unter die Aussteiger gehen. Schon deshalb, weil wir nicht in der Lage wären, uns selbst eine Blockhütte draußen im Wald zusammen zu zimmern. Das Beispiel von Henry David Thoreau gibt dennoch zu denken:
Es ist so wichtig, sich diese Zeiten freizuhalten, in denen nichts geleistet wird. Eine Stunde am Tag und einen Tag in der Woche. Das wäre ein Anfang: Zeiten der Muse, Zeiten für das Spiel der Gedanken, Zeit für Gespräch und Begegnung, bei denen nicht schon wieder etwas geplant und beschlossen wird. Die von Zwecken freigehalten sind und in denen ansonsten „nichts Berichtenswertes" getan wird.
Und auch: Zeiten für das Gebet!
Das Markusevangelium erzählt den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu als die Geschichte eines angefüllten Tages. Bis in den Abend hinein, als die Sonne schon untergegangen ist, wird er gesucht und belagert und ist von den vielen, die seine Zuwendung brauchen, in Anspruch genommen. Dann aber zieht er sich zurück. Zum Gebet. „An einen einsamen Ort".
Wir wissen nicht, was Jesus gebetet hat. Aber offenbar gibt es ihm Kraft, sich gegen die Ansprüche der anderen abzugrenzen: Als die Jünger kommen, um ihn wieder in die Pflicht zu nehmen, „alle suchen dich", lehnt er ab: „Lasst uns anderswohin gehen". Offensichtlich will er nicht pausenlos in Anspruch genommen werden. Im Gebet hat er sich unter den Anspruch Gottes gestellt, der alles andere, was Anspruch auf ihn erhebt, relativiert. Und so gerade kommt er zu sich selbst: In all dem was ihn bedrängt, hat er zur Klarheit gefunden. Er weiß, was als nächstes zu tun ist, weiß um den nächsten Schritt.
Immer wieder wird unser Leben in den Sog der Beschleunigung und unter das Diktat der Termine geraten. Die Versuchung, den Wert eines Tages einzig daran zu messen, ob ich heute genug geleistet habe, ist mächtig. Und sie bedroht immer wieder die Zeiten der Muse, die ich mir freigehalten habe. Es gibt doch immer noch etwas Wichtiges zu tun.
Das Leben aber ist zu kostbar, um darin als ein Getriebener herumzuirren. Henry David Thoreau notiert: „Ich zog in den Wald, weil ich dem eigentlichen, wirklichen Leben näher treten wollte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich gar nicht gelebt hatte."
Jene Zeiten, in denen wir uns zurückziehen, um bei uns selbst anzukommen, sind nicht für die Herausforderungen unseres Lebens verlorene, sondern in Wahrheit „dreingegebene Zeit".
Indem wir zu uns selbst kommen, begegnen wir Gott. So beschreiben es die großen Mystiker und die Lehrmeister des Gebets:
Die innerste Mitte der Person, ihr Seelengrund, ist nichts Gottfernes, sondern der Ort Gottes selbst. Und das Gebet ist der Weg, im Dialog mit dem Höchsten zu uns selbst und so immer wieder auch zu unserem Nächsten und zur Klarheit über unsere Aufgaben und Pflichten zu finden.
Amen