Abschiedspredigt Mainz 28. Juni 2020
Liebe Schwestern und Brüder,
Schreibstau und aufkeimendes Lampenfieber. Das sind, seit ich diesen Beruf ausübe, verlässliche Begleiter meiner Samstage, wenn ich mich dann endlich doch an den Schreibtisch zur Predigtvorbereitung gezwungen habe.
Manchmal hat es dann geholfen, mir die Gemeinde vorzustellen, vor die ich treten würde:
Die freundlichen Gesichter, das Wohlwollen, die Atmosphäre unserer Gottesdienste, ihre gelöste, heitere Festlichkeit, mit den Messdienerinnen und Messdienern, die gerne kommen und die wissen, dass sie eigentlich nichts falsch machen können, den Lektorinnen, die - man merkt es, wenn sie dann lesen- sich vorbereitet haben, der Musik, dem Orgelspiel, den Kantoren, der Schola, die in dieser Zeit der Corona - Beschränkungen so wichtig geworden ist.
Und manchmal – nicht immer – hat sich dann der Knoten doch noch irgendwie gelöst.
„Hab ich erst dein Ohr, find ich schon mein Wort“, sagt der Schriftsteller Karl Kraus.
Er formuliert damit eine tiefe und wesentliche Wahrheit unseres Menschseins: dass wir nämlich in der Begegnung mit dem anderen und von ihm her erst zu uns selbst kommen.
Auch eine Predigt, obwohl da ja immer nur einer spricht, ist ein zutiefst dialogisches Geschehen.
Aufmerksame und zugewandte, erwartungsvolle, auch kritische Zuhörer sind die Voraussetzung für ihr Gelingen:
Ihnen hier war es zu verdanken, wenn ich mein Wort doch noch irgendwie gefunden habe. Und dass es manchmal vielleicht sogar klüger oder mutiger oder tiefer war, als ich es mir selbst zugetraut hätte. In Ihren Ohren war es so! Was ich zu sagen hatte, war immer nur als Anstoß und Anregung gemeint, für Sie, um damit weiterzugehen und weiterzudenken.
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagt Martin Buber.
Er sieht uns Menschen von Anfang an und unablässig in den Dialog miteinander gestellt. Das Wesen des Dialogs aber sieht er darin, den anderen im Zuhören so groß wie möglich zu machen.
In der Begegnung, im aufrichtigen Dialog lasse ich mich auf ein Abenteuer ein, dessen Ausgang offen ist. Ich lasse mir gesagt sein, was ich mir selbst nicht sagen kann. Ich muss mir möglicherweise etwas anhören, was mir unangenehm oder ärgerlich ist.
Das ist herausfordernd. Faszinierend und gefährlich zugleich. Ich gehe das Risiko ein, irritiert, sogar überwältigt zu werden. Auf jeden Fall gehe ich verändert aus der Begegnung hervor.
Man kann den Dialog auch verweigern.
Dann aber erstarrt das Leben.
Auch das Leben der Kirche.
Die gegenwärtige Kirchensituation, die tiefe Krise ihrer Glaubwürdigkeit, die Gleichgültigkeit der vielen, die von ihr nichts mehr für ihr Leben erwarten, hat viel mit solcher Dialogverweigerung zu tun.
Mit dem Beharren auf Positionen aus Angst vor Identitätsverlust, mit Machtwillen und Rechthaberei. Manchmal auch einfach mit Denkfaulheit und Trägheit des Herzens, die daran hindern, genau hinzuschauen und hinzuhören und - dem Vernehmen nach soll das auch bei Personalentscheidungen schon mal vorkommen - das Gespräch ernsthaft zu suchen und zu führen.
Der Dialog ist aber keine Zutat zum „eigentlich“ Christlichen. Er ist diese Christliche selbst.
Das Christentum ist keine ein für alle Mal abgeschlossene Doktrin, die unabhängig vom Kontext der Zeit und von den Menschen, an die sie sich wendet, verkündet werden könnte.
Der lebendige Gott offenbart sich im Reichtum der Glaubensgeschichte, in der Tradition und den Worten und Symbolen, in denen sie ihn uns überliefert. Gewiss! So ist es gut katholische Empfindung und Lehre.
Er offenbart sich aber auch in den „Zeichen der Zeit“. Den drängenden Fragen, dem Leiden an der gegenwärtigen Kirchenrealität, in der Sinnsuche der vielen, die an den überkommenden Worten und Formen keine Orientierung mehr finden, in der Not der Menschen am Rand.
Vom anderen her, von ihm herausgefordert, ihm zugewandt, im Ohr des Hörers, des jeweiligen Adressaten, sucht der Glaube sein Wort, um es immer neu zu finden.
Wenn es etwas geben sollte wie einen roten Faden, der sich durch meine 20 Jahre als Pfarrer hier in Mainz gezogen hat, dann war es vielleicht wirklich dies:
Dass ich für eine offene Kirche, eine hörende Kirche, eine Kirche im Dialog mit den Fragen von heute versucht habe mich einzusetzen.
Eine Kirche nicht der fertigen Antworten. Zumal oft auf Fragen, die keiner mehr stellt.
Sondern des Verstehens und des Mitdenkens und Mitfühlens.
So entspricht es meinem Naturell.
Dazu habe ich mich aber auch beauftragt gefühlt:
Bischof Lehmann hatte schon im Jahr 2003 die Pfarrgemeinden der Mainzer Innenstadt nachdrücklich ermutigt, über den eigenen Kirchturm (und sei er noch so schön) hinauszuschauen und nicht im Selbstgespräch zu verharren. Er schrieb:
„Die Seelsorge in der City von Mainz wird künftig, um in einem Bild zu sprechen, einer Ellipse mit zwei Brennpunkten ähnlich sein.“
Als den ersten dieser Brennpunkte identifiziert er „die Seelsorge in den gewachsenen Pfarrgemeinden“, bei denen also, die immer noch da sind, die Gottesdienste besuchen, sich im Kirchenchor oder sonst wo im Leben der Pfarrgemeinde engagieren und wiederfinden.
Als zweiten „Brennpunkt“ der Ellipse benennt er „die Seelsorge in der City von Mainz“,
unter den Menschen also, die hier arbeiten oder abends in den Weinstuben sitzen,
die als Touristen kommen oder in der Stadt einkaufen und dann vielleicht, vom Markt her kommend, mit ihren Einkaufstüten auch ihre Sorgen für einen Moment ablegen, wenn sie den Dom durch das Markportal betreten, um eine Kerze anzuzünden.
Auch die gehören dazu, die im wörtlichen oder übertragenen Sinne „an der Schwelle“ stehen bleiben, weil sie sich im Raum der Kirche fremd fühlen und oft auch unwillkommen in dem Gefühl, dass ihr Leben dem nicht entspricht, was hier von ihnen erwartet wird:
„Beide Brennpunkte“, so damals Bischof Lehmann, „haben heute von der Aufgabe einer missionarischen Seelsorge her ein ähnliches Gewicht“.
Damit ist durchaus die Agenda beschrieben, an der ich versucht habe, mich zu orientieren.
Unser christlicher Glaube wird nicht im Bewahren gelebt.
Lebendiger Glaube in Treue zur Überlieferung bedeutet vielmehr, aus einem tiefen Vertrauen in seine unüberholbare und bleibende Aktualität diesen Glauben immer wieder neu dem Dialog auszusetzen, ja, ihn im Dialog auf´s Spiel zu setzen.
Gott gehört uns nicht. Und er gehört nicht der Kirche. Auch die Frommen und Gottesfürchtigen müssen ihn immer suchen und für ihr Leben entdecken.
Im Gespräch und in der Begegnung, in der Offenheit und dem Hinhören auf das Anderssein des Anderen, der nicht erst so werden muss, wie wir, um gottwohlgefällig zu sein, der uns mit seinem Anderssein, seinen Fragen, seiner Art zu leben, seinen Grundsätzen herausfordert und vielleicht provoziert, und der doch mit uns auf einer gemeinsamen Suche ist, sind wir auf der Spur des Geheimnisses dessen, der größer ist als unser Herz und größer als unser Verstand und auf jeden Fall größer als alle kirchliche Wahrheitsverwaltung.
Damals, in meinen Anfängen in Mainz, ist mir zum ersten Mal ein Wort des verstobenen Bischofs von Aachen, Klaus Hemmerle, begegnet, in dem ich mich seitdem wiederfinde:
„Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“
Es geht um den nie abgeschlossenen Prozess, im Gespräch, in der Begegnung mit dem anderen in das Ganze der Wahrheit hinein zu wachsen und zu wandern.
Dieses Wort von Klaus Hemmerle hat mich tatsächlich geleitet.
Ich nehme es mit auf meinen Weg und in die neue Aufgabe, die mich in Darmstadt erwartet.
Hier und jetzt bleibt mir nun, Dank zu sagen:
Ich danke Pfarrer Hendrik Maskus für seine Freundschaft und den Schwestern und Brüdern in der evangelischen Nachbargemeinde Altmünster für alles, was wir im ökumenischen Miteinander voneinander gelernt haben.
Ich danke den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, für das vertrauensvolle, kollegiale und oft auch kreative Zusammenspiel und für die Geduld mit meinen Launen und Macken.
Ich danke den großzügigen Förderern so vieler großer Projekte vor allem in St. Stephan.
Tief dankbar bin ich für das ehrenamtliche Engagement, in dem unsere Gemeinden lebendig sind: beim Mittagstisch, der Hausaufgabenhilfe, dem Besuchsdienst, in der Jugendarbeit, den Messdienern und den Pfadfindern, den liturgischen Diensten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Schriftenstand um nur einige zu nennen.
Mehrere Generationen von Pfarrgemeinderäten haben erfahren, dass ich trotz meines dialogischen Ansatzes auch recht lange und ausdauernd in Sitzungen monologisieren kann. Aber ich habe auch gerne zugehört. Interessiert an dem, was andere auf dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung, ihres Berufs, ihrer Familie zu sagen hatten. Nicht selten sind wir nach einer langen Sitzung und Diskussionen, die erst Fahrt aufgenommen hatten, wenn die Tagesordnung eigentlich schon abgearbeitet war, mit einer Idee, einem Projekt nach Hause gegangen, an das vorher keiner gedacht hatte.
Ich danke allen, die mit ihren Gaben und Talenten ausgeglichen haben, was mir fehlt.
Für manche Freundschaft, die über die gemeinsame Arbeit gewachsen ist. Und für Freundschaften, die mir auch außerhalb der Gemeinde in den Jahren in Mainz geschenkt worden sind.
Vor allem danke ich für die eine, besondere Beziehung, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, ohne die ich aber nicht der wäre, der ich bin.
Noch einmal verneige ich mich an dieser Stelle vor Monsignore Klaus Mayer, der es bedauert an diesem Gottesdienst zu meiner Verabschiedung nicht teilnehmen zu können, der uns aber grüßt und uns segnet. Seiner Vision und seinem Lebenswerk habe ich mich immer verpflichtet gefühlt und versucht, auf meine Weise, darauf auf- und daran weiterzubauen.
Sehr dankbar und auch bewegt schaue ich auf über 20 Jahre in Mainz und auf die Begegnungen dieser Lebensphase zurück.
Sie haben mich ermutigt und mir geholfen, mein Wort und meinen Ton zu finden.
Ich kann nur hoffen, dass es mir umgekehrt wenigstens manchmal gelungen ist, wie es meine Aufgabe gewesen wäre, die Menschen, die mir begegnet sind, im Zuhören so groß wie möglich zu machen.
Amen