Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Treten Sie ein, legen Sie Ihre
traurigkeit ab, hier
dürfen Sie schweigen."
Drei Zeilen nur, ganz wenige Worte, benötigt dieses Gedicht von Reiner Kunze.
Eine Einladung wird ausgesprochen. Und die angebotene Gastfreundschaft schafft einen Freiraum, in dem ein Mensch aufatmen und zu sich selbst kommen kann.
„Treten Sie ein, legen Sie Ihre
traurigkeit ab, hier
dürfen Sie schweigen."
Was der Text beschwört, ist, so scheint mir, in der Gestaltung dieses Platzes im Schatten von St. Ignaz, den wir heute einweihen, umgesetzt:
Einen Schritt abseits von Geschäftigkeit und Getriebe öffnet sich ein Ort der Ruhe, bedingungslos und ohne Erwartungen an die, die ihn betreten.
Der „Trauerort" steht allen offen, die, aus welchen Gründen auch immer, die Gräber ihrer Lieben nicht aufsuchen können. Ohne Ansehen ihrer Herkunft, ihrer Kultur und Weltanschauung:
Heimatvertriebenen, Zuwanderern, Geflüchteten, allen Menschen, die in unterschiedlicher Weise hier in der Fremde sind:
„ . . . hier
dürfen Sie schweigen.
Sie dürfen auch beten. In Ihrer eigenen Sprache und in den Worten, Zeichen und Gebärden, die Ihnen in Ihrer Religion als Trost und Halt zur Verfügung stehen."
Als die Projektidee für diesen Trauerort von den Initiatoren an uns herangetragen wurde, mussten wir in St. Ignaz nicht lange überlegen.
Es macht den Kern der Identität einer christlichen Gemeinde aus, dass sie sich öffnet: vorbehaltlos, einladend und gastfreundlich.
Würde sie sich verschließen, um bei sich und dem vermeintlich „Eigenen" zu bleiben – sie würde steril und hätte den Auftrag, der sie ausmacht, verraten.
Am Anfang der biblischen Überlieferung begegnet Gott dem Abraham verborgen in der Gestalt von drei Fremden, die er aufnimmt und denen er Gastfreundschaft erweist. Im Neuen Testament klingt diese Überlieferung weiter: „Vergesst nicht die Gastfreundschaft", mahnt dort der Hebräerbrief die christliche Gemeinde, „durch sie haben manche schon Engel bewirtet und merkten es nicht."
Der Andere und Fremde erscheint - und das ist wie wir wissen und erfahren eben nicht selbstverständlich, sondern eine immer wieder bedrohte Errungenschaft – im Licht der Biblischen Botschaft nicht als Bedrohung des Eigenen. Er kommt als Herausforderung, gewiss. Aber auch als Chance der Bereicherung in der Begegnung. Und manchmal als ein Segen.
Im Anderen und Fremden, dem ich mich öffne, dem ich Raum gewähre, kann mich eine Ahnung des „Ganz Anderen" berühren, den die Glaubenden „Gott" nennen.
Auch das gehört zum religiösen Erbe, der jüdisch-christlichen, der durch die Bibel inspirierten Prägung unserer Kultur, um die zur Zeit so viel gestritten wird.
Ich wünsche dem „Trauerort" bei St. Ignaz, dass er angenommen wird. Dass viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten, ihren ganz eigenen Verwundungen und Verlusten ihn für sich entdecken und ihn sich für ihre Situation zu Eigen machen, indem sie seine Einladung annehmen:
„ . . . legen Sie Ihre
traurigkeit ab, hier
dürfen Sie schweigen."
Ich wünsche ihm, dass er zu einem Kristallisationspunkt für Begegnungen wird, an dem Menschen in ihrer gemeinsamen Menschlichkeit, die faszinierend ist und manchmal abgründig und immer zerbrechlich und vielfach bedroht, einander näher kommen, einander zu achten lernen und an dem einer von den Erfahrungen des andern profitiert.
Unsere Gemeinde erinnert dieser Ort an ihren Auftrag, wie ihn das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat und mahnt uns, ihm treu zu bleiben:
Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen in der Welt von heute, insbesondere der Armen, müssen auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst derer sein, die sich auf Christus, in dem Gott als Mensch uns nahekommt, berufen.