Dreihundert Jahre lang, seit 1617, hing sie im Turm der Stephanskirche, bis sie vor hundert Jahren abgehängt wurde.
In 65 Meter Höhe erfüllte die „Maria Magdalena", in der Laterne über der schiefergedeckten Kuppel des Turmes, vielerlei Funktionen bei ihrer Aufgabe als Signal- und Feuerglocke. Und nun ist sie wieder zu Hause.
Sie wurde mit dem Seil geläutet oder mit dem Hammer geschlagen. So warnte sie bei Bränden und beim Anrücken des Feindes die Stadtbewohner vor Gefahr und rief zur Abwehr auf. Um zehn Uhr abends holte sie die letzten Zecher aus den Weinstuben, was ihr den Namen „Lumpenglöckchen" einbrachte. Die Hausbesitzer ermahnte sie zur regelmäßigen Straßenreinigung, die todgeweihten Verbrecher begleitete sie mit Geläut vom Schillerplatz zum Galgen im Eisgrub.
Ein Wanderglockengießer aus Lothringen, der sich trotzdem M. Joannis Bertelt zu Mainz nannte, hatte sie hergestellt, wie damals üblich wahrscheinlich vor der Kirche, um die Transportkosten zu sparen: „Im Namen Jesu Christe floss ich, M. Joannis Bertold zu Mentz goss mich, Anno 1617" steht auf dem oberen Rand. Das weitere Schicksal des Gießers ist nicht bekannt, denkbar, dass er zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges das Fach wechselte und statt Glocken Kanonen goss.
Der Gefahr knapp entronnen.
Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, 1918, ging ihre Zeit in St. Stephan zu Ende, denn nicht nur im letzten Krieg wurden viele Glocken in Deutschland zur Verhüttung abgehängt und eingezogen. Auch unser Lumpenglöckchen kam auf die Mainzer „Metallsammelstelle", entging dem Schicksal der Einschmelzung nur knapp, landete im Landesmuseum und überlebte beide Kriege.
Im Dachreiter der Karmeliterkirche fand sie nach dem Krieg wieder Unterkunft und wurde dort liturgisch genutzt, bis 2014 diese Kirche neue Glocken bekam und das Lumpenglöckchen wieder an ihren Geburtsort zurückkehrte. Allerdings nur in den Kreuzgang, wo sie mit einem neuen Glockenstuhl aufgestellt wurde. Günther Schneider, Glockensachverständiger des Bistums, und Archichtekt Alwin Bertram, für viele Bauprojekte in Mainzer Kirchen zuständig, hatten sich sehr für die Rückkehr eingesetzt.
Anfang Oktober fand die lange Reise nun ihr Ende: Sie hängt wieder im Turm. Nicht ganz dort, wo sie Jahrhunderte ihren Dienst tat, in der Laterne, sondern zehn Meter tiefer in der Türmerwohnung. Mit der Muskelkraft starker Männer wurde sie die zweihundert Stufen auf Händen getragen und auch durch die engsten Stellen der Wendeltreppe gehievt. Vom nordöstlichen Fenster aus geht ihr Blick auf die Stadtmitte, vor Feuer und Feinden wird sie nicht mehr warnen müssen. Zu besichtigen ist sie immer bei den Turmbesteigungen am letzten Freitag im Monat (Anmeldung im Pfarrhaus, Tel. 231640.).