Liebe Schwestern und Brüder,
im März 2009 verfasst Kardinal Lehmann sein „geistliches Testament", das man nach seinem Tod im Tresor des Bischofshauses gefunden hat.
In den dankbaren Rückblick mischt sich am Ende des Textes ein dunkler Ton:
„Unter zwei Dingen habe ich immer wieder und immer mehr gelitten: Unsere Erde und unser Leben sind in vielem wunderbar, schön und faszinierend, aber sie sind auch abgrundtief zwiespältig, zerstörerisch und schrecklich. Schließlich ist mir die Unheimlichkeit der Macht und wie der Mensch mit ihr umgeht, immer mehr aufgegangen. Das brutale Denken und das rücksichtslose Machtstreben gehören für mich zu den schärfsten Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde."
Das sind Sätze von großer und bedrückender Aktualität.
Sie beschreiben unsere Gegenwart in dieser Stunde: die Gegenwart einer zerrissenen Welt, in der auch heute, nicht nur in Syrien, die Hoffnungen auf Freiheit und Gerechtigkeit, auf ein Leben in Frieden und auf Glück vom Spiel der Mächte und im zynischen Kalkül der Mächtigen zerrieben werden.
Die Bilder und Nachrichten, die uns von den Kriegsschauplätzen erreichen, sind nur schwer auszuhalten: Bilder verzweifelter Menschen, die zwischen die Fronten geraten sind, von Hilfskonvois, die feststecken und die Bedürftigen nicht erreichen, vom Leiden der Unschuldigen, der Kinder, die, vom Staub der letzten Detonation bedeckt, schreckensstarr geworden sind und die nicht mehr weinen können.
Die Versuchung auszuweichen und zu verdrängen ist groß.
Vielleicht leisten wir eine Spende aus spontaner Betroffenheit, aber im Bewusstsein, wie hilflos diese Geste der Solidarität angesichts des Schreckens immer bleiben wird.
Viele wenden sich bald wieder anderen Themen zu, abgelenkt von dem, was in den Medien an Aktualität gerade in den Vordergrund geschoben wird. Sie flüchten in Apathie und Teilnahmslosigkeit.
Manche wenden sich ganz ab und verhärten sich.
Sie ziehen eine Grenze zwischen sich und dem Leiden der Anderen, als ginge sie das alles nichts an.
Manche verwahren sich aggressiv gegen den Appell an das Mitleid, das doch ein urmenschlicher Impuls ist, als wäre es eine Zumutung und verteidigen ihren Besitzstand in abgestumpfter Selbstsucht.
Auch so zeigt sich jenes „brutale Denken", von dem Kardinal Lehmann in seinem geistlichen Testament spricht.
„Wehret den Anfängen!", heißt es dann weiter in diesem prophetischen Text: „Immer mehr habe ich das Jesuswort bei Lukas in den Ohren: „Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben vorfinden?""
Im Leid dieser zerrissenen Welt scheint Gott verdunkelt, verhüllt und wie untergegangen.
Dem, der sich nicht abfinden will und nicht aufhören kann, nach einem Grund der Hoffnung gegen alle Hoffnung zu fragen für das bedrohte, immer wieder zerstörte Leben des Anderen und so auch nach einem Sinn und einer Orientierung für den eigenen Weg, zeigt unser christlicher Glaube das Kreuz:
Er weist dem Fragen und Suchen einen Weg, der nicht an der Dunkelheit vorbei, sondern auf sie zu geht, ihr nicht ausweicht, sondern sich ihr aussetzt und in ihr standhält.
Es ist der Weg, den Jesus in seiner Passion gegangen ist.
Als Gekreuzigter hält er die „grauschwarze Ödnis", wie der Dichter Paul Celan sie nennt, dieser Welt aus: das ganze unheilvolle Geflecht aus Egoismus und Ränkespiel, Gleichgültigkeit und Kälte, Machtstreben und Aggression.
Er hält sie aus bis in die letzte Konsequent und bis zum Tiefpunkt:
In der ältesten Überlieferung der Leidensgeschichte, im Markusevangelium, ruft Jesus, hineingehalten in die von all den Ausdrucksformen der Sünde verdunkelte Welt, in seiner Agonie nach Gott:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!"
Dann stirbt er mit einem Schrei.
Da zerreißt der Vorhang im Tempel.
Und der römische Hauptmann, der unter dem Kreuz steht und der vielleicht schon viele solcher Hinrichtungen überwacht hat, wird aus seiner routinierten Teilnahmslosigkeit gerissen.
Erschüttert bekennt er den Glauben:
„Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!"
Vor dem Kreuz zerreißen die Konstruktionen und Bilder, die wir uns gemacht haben, und der Blick wird für einen Augenblick frei:
Das ist Gott selbst!
In seinem Todesschrei absoluter Verlassenheit wird Jesus am Kreuz endgültig zu seinem Bild und es erfüllt sich, was er den Jüngern gesagt hatte: „Wer mich sieht, sieht den Vater".
Gott ist verwundete Liebe, ausgesetzt einer Welt und in ihr verlassen, die sein Angebot in „brutalem Denken", „rücksichtslosem Machtstreben", in den vielfältigen „Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde" verweigert und zertritt.
„Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben vorfinden?"
Der Karfreitag lenkt unseren Blick auf das Kreuz, damit uns aufgeht, wie tief die Wunden, die Unglaube und Sünde schlagen, in Gott selbst eingeschrieben sind.
Mit diesem Bild im Herzen werden wir zu den Menschen gesandt:
In unserem Mitleiden und unserer Solidarität,
dem Widerstand gegen die Gleichgültigkeit, den Zynismus und die dumpfe Selbstsucht, die sich durch das Leiden der Anderen bedroht fühlt,
im Einsatz für das Leben, das „wunderbar, schön und faszinierend" ist, aber auch zerbrechlich und vielfach bedroht,
darin, dass wir nicht ausweichen, sondern standhalten und uns aussetzen, weil Gott selbst in dieser zerrissenen Welt uns in der Klage, im Schrei, der Leidenden zum Glauben ruft.
Amen