Liebe Schwestern und Brüder,
„Und er neigte das Haupt und gab den Geist auf."
Die Liturgie des Karfreitags sieht, nachdem dieser Satz gelesen worden ist, eine Gebetsstille vor: Jesus ist tot. Und in denen, die im Hören und innerlichen Mitgehen der Passion ihn auf seinem Leidensweg begleitet haben, soll in dieser Stille die Erschütterung angesichts des Geschehenen nachklingen.
Was geht uns dann durch den Kopf oder das Herz?
Wir waren Zeugen im Drama menschlicher Schuld: In einen Abgrund der Gewalttätigkeit haben wir geschaut, die immer wieder neu unschuldige Opfer fordert. Der Mitleidslosigkeit, der kalten Neugier, der Schadenfreude, der Schaulust, die sich weidet am Leid des andern, sind wir begegnet. Auch der Feigheit und dem Verrat, die sich lieber auf die Seite der vermeintlichen Sieger schlagen, als es beim Opfer auszuhalten. Und in alledem sind wir irgendwie auch uns selbst begegnet, haben einen Blick in die eigenen Abgründe getan:
„Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich, ich hab es verschuldet, was du getragen hast."
Wir sind der ganzen Hinfälligkeit und Zerbrechlichkeit unseres Lebens begegnet. Wir haben ein Sterben begleitet. Waren Zeugen der Schmerzen, mit denen das verbunden sein kann. Und haben dabei vielleicht an Menschen gedacht, die wir kennen und lieben, die ihren eigenen Kreuzweg gegangen sind oder ihn gerade gehen. An Ängste und Verzweiflung und bittere Klagen. Oder an Menschen, denen, wie Maria, der Tod das Liebste raubt und denen der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Deren Hoffnungen und Lebensperspektive zerstört sind, weil die blinde Macht des Todes in ihr Leben eingebrochen ist und nichts als Schmerz und Trauer hinterlassen hat.
Und vielleicht haben wir uns auch gefragt, was uns selbst noch bevorsteht und wie wir es wohl bestehen werden.
Jesus ist tot. Und in der Stille, die eintritt begegnen wir uns selbst:
„Ecce homo"-seht den Menschen!
Ist das alles? Wo ist Gott?
Vor dem Kreuz zerreißen die Konstruktionen und Bilder, die wir uns gemacht haben, und der Blick wird für einen Augenblick frei:
Hier ist er. Am Kreuz!
In seinem Todesschrei absoluter Verlassenheit wird Jesus am Kreuz endgültig zu seinem Bild und es erfüllt sich, was er den Jüngern gesagt hatte: „Wer mich sieht, sieht den Vater".
Die christliche Botschaft mutet uns zu, an einen Gott mitten in dieser Welt des Todes zu glauben. Das Zeichen dieses Glaubens ist das Kreuz. Nicht der strahlende Held und triumphierende Sieger, sondern der gekreuzigte Gottessohn mit der Dornenkrone. Nicht ein Gott, der unberührbar und unverletzlich über dem Leiden der Menschheit steht, sondern ein Gott, der zum Mitleiden entschlossen ist und jeden Schmerz mit uns teilt.
Er geht die dunklen Wege unserer Ohnmacht mit. Er verzichtet am Ölberg auf das Schwert und auf den Machterweis der Engel Legionen. Die Spötter und Gaffer unter dem Kreuz fordern ihn auf: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann zeig was du kannst und steig herab vom Kreuz. Einem Gottessohn kann doch nichts passieren!" Er aber hat sich festgelegt und festnageln lassen auf seine Solidarität mit den Menschen. Er hat sich ganz auf uns eingelassen. Auf die Größe und auf das Elend unseres Lebens. Diesem Gottessohn wird alles passieren, alles widerfahren, was einem Menschen nur widerfahren und begegnen kann und alles angetan werden, was die Mächte des Bösen und des Todes uns antun können.
Sie war von Anfang an und ist immer noch anstößig, ein „Ärgernis und eine Torheit": diese Botschaft vom gekreuzigten Gott.
Denen die ihr Leben im Glauben auf sie gründen, werde sie, schreibt Paulus, zur Erfahrung von Gottes „Kraft" und seiner „Weisheit" (1 Kor 1,22-24): Gerettet und erlöst sind wir nicht durch die Macht der Mächtigen, sondern durch die Teilnahme Gottes an unserer Ohnmacht, durch sein Mitleiden und seine Treue bis in den Tod. Gerettet sind wir durch Gottes Liebe, die bis zum Letzten geht, sich ganz entäußert, um dem Geliebten nahe zu sein. Es wäre keine Liebe, wenn sie nicht mitfühlen, mitleiden und mitgehen würde mit dem Leid des Geliebten.
Die Botschaft vom Kreuz gibt keine Antwort auf die Fragen, die wir angesichts der Kreuze in unserem Leben und in dieser Welt haben. Sie wirft kein Licht auf das „Warum" des Leidens der Unschuldigen, von Katastrophen und all der Zerstörungsmacht der Mächte des Todes mitten im Leben.
Aber sie kann ein Trost sein mitten im Leid:
Sie spricht von einem Gott, der uns nicht nur dann nahe ist, wenn wir glücklich sind. Dem unser Schmerz selbst eingeprägt ist, dem wir in unserem Schmerz gegenwärtig sind und der in unserem Schmerz gegenwärtig ist. Das Kreuz spricht von seiner Nähe noch im Abgrund unserer letzten Einsamkeit: Selbst noch die Nacht der Gottverlassenheit hat er am Kreuz mit uns geteilt.
Nach dem Bericht von Jesu Tod sieht die Liturgie des Karfreitags eine Zeit der Stille vor:
Wo ist Gott in diesem Sterben? Wo ist er in dieser Welt des Todes?
Er schweigt.
Die Kreuzesbotschaft fordert uns heraus, dieses Schweigen Gottes nicht als Ausdruck seiner Abwesenheit zu deuten und darüber zu verzweifeln, sondern es als den Raum des Geheimnisses Gottes anzunehmen, in den hinein wir im Glauben uns loslassen und überschreiten sollen.
„Ecce homo"- seht den Menschen:
In Größe und Elend, Freude und Leid, im Leben und im Tod getragen vom Geheimnis einer Liebe, der wir vertrauen und von der wir hoffen, dass sie unsere Tränen kennt und sie einmal abwischen wird von jedem Gesicht, dass sie das Verlorene rettet, dass ihre Ohnmacht mächtig ist und stärker, so stark, dass sie den Tod besiegt.
Amen