Vor tausend Jahren

Schlussstein (c) S. Kirsch
Schlussstein
Datum:
Fr. 18. Juni 2021
Von:
Siegfried Kirsch

Beitrag veröffentlicht in "Glaube und Leben" von Siegfried Kirsch 

Vor tausend Jahren
 
Als wir am Ostermontag, am Tag nach unsrer Hochzeit, dem Trubel der Verwandten entkommen waren, schickte uns der Zufall nach Mainz in die Stephanskirche, damals noch eine der vielen schönen, aber unspektakulären Gotteshäuser der Innenstadt. Keine Spur von Berühmtheit, noch ohne die blauen Fenster von Marc Chagall, die sie in den späten Siebziger Jahren zum Ziel unzähliger Kunstfreunde machten. 
 
Die hohe Hallenkirche wirkte 1968 nüchtern, die barocke Ausstattung war — wenn nicht durch die Pulverturmexplosion 1857 zerstört — weggeschafft und verkauft worden, die Kanzel steht heute noch in der Bodenheimer Albanskirche. Der Zweite Weltkrieg zertrümmerte ein zweites Mal den Bau mit Turm und Inneneinrichtung. 
 
Die Kirche war leer, die Nachmittagssonne schien durch eine Tür im südlichen Seitenschiff. Wir traten hinaus und befanden uns in einem fast magisch wirkenden, stillen Kreuzgang. Die vier um den quadratischen Rasen laufenden Arkaden mit ihren gotischen, glaslosen Fenstern; die im Boden eingelassenen, abgetretenen Grabsteine; das zierliche, vielfältig verzweigte Gewölbe mit seinen über achtzig Schluss-Steinen …, diese Architektur verbreitete eine Atmosphäre des Friedens und des Gebetes. Ernst blickten überlebensgroße Gestalten aus ihren Steinplatten in der Wand heraus, einen Kelch in der linken Hand und die rechte segnend darüber. Die Konsolen daneben trugen die Steinrippen, die nach oben strebten und sich im Scheitelpunkt des Gewölbejochs kreuzten, wo der Steinmetz eine biblische Szene dargestellt oder das Wappen  eines Stiftsherren verewigt hatte. 
 
Ein Engel in der Höhe verkündete auf einem Spruchband, dass der Kreuzgang 1499 vollendet worden war. Obwohl dieser Bautypus in der Regel zur klösterlichen Architektur gehört, hatten die begüterten Kanoniker,  die keine Mönche waren, als Mitglieder einer Stiftskirche sich dieses Gebäude geleistet. Hier konnten sie im kontemplativen Gang um das Quadrat ungestört und pflichtgemäß ihre langen Breviergebete verrichten; hier — im angrenzenden Kapitelsaal — versammelten sie sich zu ihren Sitzungen mit dem Probst oder Dekan, mit dem Scholaster, dem Thesaurar und Diakon zur Lesung der Stiftsstatuten und Besprechung der Geschäfte. 
 
Wir schlenderten durch den Ostflügel, betrachteten die Anbetung der drei Weisen aus dem Morgenland auf einem Gewölbeschluss-Stein und stießen auf eine in die Wand eingelassene Inschriftentafel neben dem Kapitelsaal: ein Gedicht mit zehn Versen in Latein. Ein gewisser Wignandus hatte hier vom Steinmetz seine Bitte eingravieren lassen, die wir mit fast vergessenen Lateinkenntnissen halbwegs entzifferten: „Ne transire velis frater lectorque fidelis …“ Geh nicht vorüber, lieber Bruder und Leser … Für den Schuldbeladenen solle man beten, damit seine Seele in der Gnade Gottes ruhen könne. Wir blieben stehen und dachten tausend Jahre zurück an diesen frommen Mann, der 1048 gestorben war und dessen Gedanken uns an Ostern 1968 beschäftigten. 
 
Und wie es der Zufall wollte, sollte ich — fünfundreißig Jahre später — immer wieder durch diese Gänge gehen, in Begleitung von wenigen, kunsthistorisch interessierten Besuchern von St. Stephan, um ihnen zu zeigen, welch zeitlos ausdrucksstarke Architektur im fünfzehnten Jahrhundert an dieser Kirche entstand und wie fromm ein sterbender Geistlicher vor tausend Jahren um sein Seelenheil besorgt war und sich doch vertrauensvoll seinem Herrn überließ.