Über die „Systemrelevanz“ Gottes

Hirtenbrief des Bischofs von Mainz, Peter Kohlgraf, zur Österlichen Bußzeit 2021

Bischof Peter Kohlgraf (c) Bistum Mainz
Bischof Peter Kohlgraf
Datum:
Do. 18. Feb. 2021
Von:
Bistum Mainz

Mainz. „Vielleicht ist die Pandemie ein starker Ruf zur Umkehr der Lebensgewohnheiten und ein Ruf zur Gottsuche. In den biblischen Büchern stellt Gott alles infrage, wo Menschen ihn für ihre Pläne einspannen wollen. Er bleibt der ganz Andere. Es gilt in dieser Zeit auch, die Dunkelheit und die Fragen auszuhalten. Gleichzeitig darf ich darauf vertrauen: Er ist bei uns, wenn auch verborgen und unscheinbar. Das tue ich mit starker Glaubensgewissheit. Die Welt und die Menschen sind nicht allein.“ Das schreibt der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf in seinem diesjährigen Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit, das am Donnerstag, 18. Februar veröffentlicht worden ist.

 

>> Aufgrund der Information unseres Projekt-Teams „Pastoraler Weg“ wird der Hirtenbrief unseres Bischofs erst am kommenden Wochenende in allen Gottesdiensten verlesen. <<

 

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Mainz!

In der Corona-Pandemie sind Wörter geprägt worden, über die vorher kaum jemand nachgedacht hat. Eines davon ist „Systemrelevanz“. Als „systemrelevant“ gelten die Einrichtungen und Berufe, die für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich sind. Für manche Menschen war die Diskussion eine schwierige Erfahrung, weil ihre Berufe oder ihre gesellschaftliche Rolle eben nicht als systemrelevant eingestuft wurden.

Welche Relevanz hat die Religion in diesen Zeiten? Die Frage wird kontrovers diskutiert. Als Kirchenleitungen haben wir auf die Seelsorge verwiesen, auf die geistliche Stärkung durch Gebet und Gottesdienste und auf die vielen sozialen Aktivitäten der Haupt- und Ehrenamtlichen. Davon ist nichts zurückzunehmen. Als Kirchen waren und sind wir näher an den Menschen als mancher Vorwurf glauben machen will. Wir Christinnen und Christen müssen uns hier nicht schämen und schon gar nicht verstecken. Die Kirche war und ist ganz bestimmt nicht „weg“.

Die „Systemrelevanz“ von Gottesdiensten und anderem kirchlichen Tun war von Beginn der Pandemie an Thema. Aus Sorge um die allgemeine Gesundheit konnten öffentliche Gottesdienste zeitweise nicht stattfinden. Anregungen für Hausgottesdienste, mediale und digitale Angebote versuchten, Alternativen zu schaffen. Auch die (Mit-)Feier im Wohnzimmer sollte Menschen Kraft und Zuversicht schenken. Dass der Empfang der Sakramente von existenzieller Bedeutung sein könnte, trat in den Hintergrund.

Natürlich darf dies nicht gegen die Gefährdung von Leib und Leben ausgespielt werden. Es gehört zum Gelingen demokratischer Prozesse, Diskussionen immer wieder neu zu führen. Die geistlichen Angebote der Kirche machen den Menschen Mut und motivieren zu sozialem Miteinander. Hier kann die Kirche mit ihrer Botschaft ihre Systemrelevanz erweisen. Und als Bischof darf ich sagen: Ich freue mich über die vielen relevanten Aktionen von Christinnen und Christen und danke allen herzlich! Ihr Tun und ihr Mitsorgen haben vielen Menschen geholfen und gezeigt: Wir leben nicht vom Brot allein!

Gott eignet sich nicht für den Systemerhalt

Welche Rolle „spielt“ Gott in diesen Zeiten?

Im Folgenden geht es mir nicht darum, die gesamte biblisch-christliche Gotteslehre darzulegen, sondern ich will einen Einblick geben in das, was mich persönlich in den letzten Monaten beschäftigt hat.

Viele finden auch in dieser Zeit Halt im Glauben, andere ringen mit der Frage nach Gott. Es gibt einfache Antworten, die bei mir allerdings auch Fragezeichen auslösen. Einige wissen genau: Die alte Deutung, dass Gott durch die Pandemie strafe, sei nicht mehr aktuell. Gott strafe nicht, sagen sie. Wissen wir das so genau? Papst Franziskus hat in der eindrucksvollen Predigt bei seinem Gebet in der Pandemie im März 2020 gesagt: Wir waren zu lange der Meinung, dass wir in einer kranken Welt würden gesund bleiben können.[1] Natürlich steckt dahinter nicht das Bild eines Gottes, der sich willkürlich Strafmaßnahmen ausdenkt. Aber dass wir in der Pandemie auch die „Ernte“ jahrelangen Missbrauchs der Erde einfahren – wer will das ausschließen? Auch dies wäre eine Konsequenz, eine Strafe für menschliches Tun. Gott darf nicht verharmlost werden. Der Mensch muss die Folgen seines Tuns tragen. Man mag dies Strafe Gottes nennen.

Es bleibt insgesamt die Frage, die auch die Heilige Schrift nicht abschließend beantwortet: Wie kann Gott Leid und Krankheit zulassen? Denn natürlich treffen Krankheit und Leid auch Unschuldige. Diese Frage ist bis heute einer der Haupteinwände gegen die Existenz eines guten Gottes. Krankheit und Leid lassen sich nicht als Strafe für das Vergehen und die Schuld eines Einzelnen verstehen. Ich werde darauf keine einfachen Antworten finden. Von dem Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini (gest. 1968) wird berichtet, er habe noch auf dem Sterbebett angekündigt, Gott eine Frage zu stellen: „Warum, Gott, all das Leid?“[2]

Ein Fehlschluss ist es wohl auch zu meinen, möglichst viel und möglichst öffentlich gezeigte Frömmigkeit könne menschliches Leid verhindern; hinter manchen Frömmigkeitspraktiken scheinen sich beinahe magische Vorstellungen zu verbergen.

In der Pandemie sitzen Gläubige und Ungläubige in einem Boot, und sie suchen gemeinsam nach Lösungen und Antworten. Hat der Glaube an Gott Systemrelevanz? Ist Gott relevant?

Ich will von vornherein sagen: Für den Erhalt menschlicher Systeme darf Gott nicht relevant sein. Es widerspricht der Größe Gottes, ihn zu instrumentalisieren. Wo Menschen ihre Meinung durch göttlichen Willen bestätigt glauben, stimmt etwas nicht. Gott lässt sich nicht für kirchliches, politisches oder gesellschaftliches Handeln instrumentalisieren. Er ist kein Kriegsgott, auch kein Kirchen-Gott, kein Gott, der sich für einfache kirchliche oder gesellschaftliche Lösungen anbietet. Er ist auch kein Gesundheits-Gott. Die Theologie des Mittelalters wusste um das sogenannte Analogie-Prinzip: Alles, was wir über Gott sagen, beinhaltet mehr Unähnlichkeiten als Ähnlichkeiten. In allem, was wir über Gott sagen oder von ihm her ableiten, sollten wir dies nicht vergessen.

Natürlich glaube ich an Gottes Gegenwart. Er offenbart sich, er spricht in Jesus Christus zu uns. Jesus bleibt der Kreuzweg nicht erspart; er geht unsere Wege mit und belehrt uns nicht nur. Er trägt unser Kreuz. Er ruft uns auf den Weg der Nachfolge. Christsein ist nicht höheres Wissen, sondern es ist Tun, Leben, Gehen. Es ist die Übergabe meines Lebens an ihn. Darin offenbart sich der Sinn des Lebens als Christin und als Christ – nicht in theoretischen Antworten und nicht in den Plänen, Gott einzubinden in unser Wollen und Tun. Für mich als Christ ist in diesen Zeiten der Blick auf den Gekreuzigten und Auferstandenen die einzig hilfreiche Antwort, die weder einfach ist noch plakativ. Ich bin getragen und erlöst, die Welt ist in seinen Händen!
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[1] Predigt von Papst Franziskus beim „Gebet in der Pandemie“ auf dem Petersplatz in Rom am 27. März 2020: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2020-03/wortlaut-papstpredigt-gebet-corona-pandemie.html
[2] Reinhard Körner, Lose Blätter zugeweht, Leipzig 2020, 111.

Gott in dieser Zeit suchen

Gott ist nicht mit unseren Formeln gleichzusetzen. Glauben ist ständiges Gespräch mit Gott. Er spricht zum Menschen, und wir können antworten. Dabei offenbart er uns keinen Text, sondern seine Zuwendung, seine Liebe. Am Ende spricht er zu uns durch seinen Sohn. Gott ist nicht einfach Teil unserer Pläne. Ich muss ihn um seiner selbst willen suchen, nicht als Problemlöser oder als Teil meiner Planungen. Deshalb muss ich auch seine Dunkelheit, seine Verborgenheit aushalten. Gebet und geistliches Leben sind oft ein Aushalten dieser Dunkelheit Gottes. Das ist schwer, und deswegen meinen wir, klare Lösungen und Antworten zu benötigen. Manchmal führen diese uns von Gott weg, obwohl sie gut und fromm klingen. Ich kann es nicht besser ausdrücken als P. Reinhard Körner: Bereits in den frühen Jahrhunderten der Kirche sprachen viele Christen „nicht mehr mit Gott, sie sprachen nur noch über Gott. Sie machten Jesus und seine Botschaft zu einer Lehre (…). Sie beteten nicht mehr, sondern begannen, Gebete zu verrichten.“[3]

Sprechen wir in dieser Zeit mit Gott, mit Jesus! Reden wir mit ihm, und halten wir aus, dass er nicht schnell oder nicht in unserem Sinne antwortet! Verwechseln wir nicht das Reden über ihn mit Frömmigkeit! Achten wir darauf, unsere Sätze über Gott nicht mit seiner Wirklichkeit gleichzusetzen!

Schließlich kann es durchaus sein, dass Gott alles andere sein will als systemrelevant. Es kann sein, dass er unser System massiv anfragt, in Kirche und Gesellschaft. Vielleicht ist die Pandemie ein starker Ruf zur Umkehr der Lebensgewohnheiten und ein Ruf zur Gottsuche. In den biblischen Büchern stellt Gott alles infrage, wo Menschen ihn für ihre Pläne einspannen wollen. Er bleibt der ganz Andere. Es gilt in dieser Zeit auch, die Dunkelheit und die Fragen auszuhalten. Gleichzeitig darf ich darauf vertrauen: Er ist bei uns, wenn auch verborgen und unscheinbar. Das tue ich mit starker Glaubensgewissheit. Die Welt und die Menschen sind nicht allein.
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[3] Ebd. 76-78.

Kirche in der Nachfolge Jesu

Der Kirche wird auch heute eine hohe Kompetenz in der Wertevermittlung zugesprochen, Werte, die die Gesellschaft zusammenhalten und im guten Sinne prägen. Ich stelle mir die Frage: Ist die Kirche tatsächlich vorrangig eine Agentur zur Vermittlung von Werten? Manche Stimmen sagen: Für Werte brauchen wir die Kirche nicht. Tatsächlich ist die Kirche nicht die einzige Quelle für gesellschaftliche Werte. Dennoch sind uns Werte wichtig, die der Gesellschaft dienen. Allerdings fällt mir auf: Das Wort „Werte“ findet sich bei Jesus und im Neuen Testament nicht ein einziges Mal. Es geht um Nachfolge, um Freundschaft, um Liebe zu Gott und zum Nächsten, nicht um gesellschaftliche Wertevermittlung.

Kirche muss in diese Freundschaft rufen. Nur, wenn sie zur Nachfolge ermutigt, bleibt sie dem Auftrag Jesu treu. Ob das systemrelevant ist, hängt vom System ab. Wir haben in diesen Monaten gelernt: Es kommt auf die gegenseitige Rücksichtnahme an, auf Gemeinschaft, ja auf Liebe. Das sind „Werte“ des Evangeliums, ohne dass sie so genannt werden. Aber es geht nicht um abstrakte Normen, sondern um eine Lebensgestaltung aus der Freundschaft mit Christus. Da sollten wir als Christinnen und Christen, als seine Kirche einen unverzichtbaren Beitrag leisten. Die Liebe zu Gott und der Glaube an ihn können uns dazu motivieren.

Menschen in der Kirche tun so viel für unsere Gesellschaft, ihren Erhalt und für die verbindenden Werte. Ihnen ist herzlich zu danken. Gott selbst ist jedoch nicht einfach Teil unseres Systemerhalts. Er ist der immer Größere. In diesen Wochen der Fastenzeit sind wir eingeladen, ihn zu suchen, das Dunkel auszuhalten und nicht nach schnellen Antworten auszuschauen.

Auch in kirchlichen Debatten bietet sich Gott nicht für einfache Antworten an. Wir werden zuerst mit ihm persönlich reden müssen, nicht über ihn; wir werden ihn suchen und nach seinem Willen fragen müssen, und ihn nicht nur in unser System einzubauen versuchen. Glaube ist stärkend, aber auch anstrengend und herausfordernd. Gott ist herausfordernd.

In diesen Wochen segne uns der dreieinige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist

+ Peter Kohlgraf

Bischof von Mainz

Mainz, am 1. Fastensonntag 2021

 

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