Pestepidemien haben seit dem Mittelalter Europa regelmäßig heimgesucht. Eine der letzten war die Große Pest, als dieser „Schwarze Tod“ in den Jahren 1665 und 1666 nochmals verheerend in Europa wütete. Die Pest-Bakterien wurden durch Handelsschiffe in den Niederlanden und London eingeschleppt und breiteten sich von dort rasch über die Handelswege nach Frankreich und Deutschland aus.
Als dann die Pest schon im Jahr 1665 Köln erreichte, dort schrecklich wütete und sich diese Schreckensnachricht schnell verbreitete, sah sich das Mainzer Domkapitel, unter dessen Herrschaft die Stadt Bingen stand, veranlasst, Vorkehrungen zu treffen, damit die Pest nicht durch Kaufleute in Bingen eingeschleppt würde.
Und so wurde am 12. September 1665 vor versammelten Stadtrat in Gegenwart des Amtmannes das „Befehlsschreiben“ des Mainzer Domkapitels verlesen, wonach alle Passanten zu überprüfen sind und die aus Köln kommenden Kaufleuten mit ihren Waren nicht in die Stadt gelassen werden dürfen, die Binger Gassen zu säubern und die Schweine und Gänse abzuschaffen sind.
Die Gefahr und Sorge wurde immer größer, so dass am 16. November 1665 in der Ratsversammlung ein weiteres Schreiben verlesen wurde, mit dem Inhalt, dass die Bürger von Bingen innerhalb von 24 Stunden alle Gänse und Schweine abzuschaffen haben, die Gassen zu säubern und die Wohnungen zu berauchen sind. Mit läuternder Glocke wurde dieses Schreiben vom Stadtschreiber den Binger Bürgern verlesen.
Doch die Pest war nicht mehr aufzuhalten. Im Januar 1666 werden die ersten Pesttoden im Dorf Münster an der Nahe, eine halbe Stunde von Bingen entfernt, registriert. Auch in Aspisheim, zwei Stunden von Bingen entfernt, waren in den ersten Monaten des Jahres 1666 die ersten Pestopfern zu beklagen.
Da der Handelsverkehr zwischen Bingen und diesen Ortschaften, insbesondere an den Markttagen, sehr stark war, befahl der Binger Stadtrat am 10. April 1666, dass keiner aus diesen beiden Ortschaften an den Stadttoren eingelassen werden darf. Doch auch diese Vorsichtsmaßnahmen waren vergebens. Am 25. April 1666 beginnt die Pest in Bingen zu wüten. Einer der ersten war der Seilermeister Johann Peter Heuser der Jüngere, dem innerhalb von drei Wochen seine 6 Kinder an der Pest starben. Am 10. Juni waren es schon 40 Todesfälle mit steigender Anzahl, auch begünstigt durch die althergebrachte und weiterhin praktizierte Sitte, dass Freunde und Nachbarn das Sterbehaus betraten und der Leiche bis zur Grabstätte folgten. Dies wurde mit Beschluss des Stadtrates vom 27. Mai 1666 untersagt. Nach Läuten der Salveglocke übernahmen hierzu bestellte „Baccarten“ ohne Beisein von Angehörigen oder Anderer das Tragen der Leichen zum Grab.
Geistlicher Beistand: Das Ausmaß der Sterbefälle hatte schon ein solches Ausmaß angenommen, das die Namen der Gestorbenen nicht mehr in die Sterberegister eingetragen und die Ratssitzungen eingestellt wurden. Der Pfarrer Dr. Johannes Vogt, dem diese Aufgabe oblag, war aber mit seinen Kaplänen Johann Michael Babenheuser, Conrad Münch, Reiner Lauterbach und dem in den niederen Weihen stehenden Kleriker Wendelin Schorn schon mit Seelsorgeaufgaben und Krankenbettbesuche über alle Maße überlastet. Sie erhielten auch noch Unterstützung von zwei Binger Kapuzinern. Doch die Pest verschonte auch diese nicht. Kaplan Johann M. Babeneuser starb von ihnen als Erster am 17. Juli 1666. Doch schon drei Tage später wurde auch der Pfarrer Vogt von der Pest dahingerafft (In Bingen gab es zwei Sterbebücher: Nach dem Sterbebuch des Holzhaus-Instituts starb Pfarrer Vogt am 18. Juli, nach dem Binger Sterberegister am 22. Juli. Letztere Angabe wurde längere Zeit nach Vogt‘s Tod eingetragen, offenbar aus dem Gedächtnis). Am 14. August ereilte es auch den Kaplan Reiner Lautenbach und am 29. August den dritten Kaplan Conrad Münch und kurz danach auch Kleriker Johann Wendlin Schorn. Auch die beiden Kapuziner, starben schon nach wenigen Tagen ihres Seelsorgedienstes. So stand Bingen fast ohne jeglichen geistlichen Beistand da. Diese Kunde bewegte den Priester P. Sabinus in Aschaffenburg mit einem Laienbruder F. Matthäus aus Enghofen in Bayern nach Bingen zu eilen, wo sie am 29. August ankamen und sich unermüdlich um die Pestkranken kümmerten. Doch der Laienbruder Matthäus war am 6. Oktober ebenfalls ein Opfer der Pestseuche. Priester P. Sabinus erhielt weitere Unterstützung durch zwei weitere Laienbrüder aus Bensheim und Königstein und so konnten während der gesamten Zeit der Pestseuche in Bingen nahezu alle Sterbenden mit dem Sterbesakrament versehen werden. Berichtet wird, dass von den 1300 Pesttoden in Bingen nur zwei ohne geistlichen Beistand blieben. Sabinus und die zwei zu Hilfe geeilten Laienbrüder überlebten die Pestseuche und starben alle drei hochbetagt zu Mainz und Aschaffenburg. Zu erwähnen ist auch, dass nach dem Tode des Binger Pfarrers Vogt, der Büdesheimer Pfarrer Johann Wiegandt sehr oft nach Bingen geritten ist, um sich der Seelsorge zu widmen.
Ärztliche Versorgung. Auch mit der ärztlichen Hilfeleistung war die Stadt Bingen überfordert. Es war schwierig Krankenpflegepersonal bereit zu stellen. Insbesondere die Armen, die wegen unzureichender Hygiene, besonders von der Pest betroffen waren und sich selbst nicht versorgen konnten, mussten untergebracht werden. Bingen hatte zu dieser Zeit drei Wohltätigkeitsanstalten: Das Hospital zum hl. Geist auf dem Freidhof, das Gotteshaus, genannt „hinter der Kirche“ an der Nahe neben dem St. Annaberg und das Sondersiechhaus an der Drususbrücke. Als Chirurgen werden in den Pfarrbüchern genannt: Kaspar Leschhorn 1634, Joh. Wendel Klunckhard 1668, Joh. Heinrich Germersheimer 1678, Johann Nebel 1684 und Jakob Utsch 1685; Ärzte sind: Heinrich Wilh. Weinkammer 1670 und Joh. Büchler 1668, genannt wird weiterhin noch ein junger Judendoktor; Apotheker sind Joh. Wolst (Wulz) 1617, Joh. Kehl 1651, Joh. Kiehl 1668, Bender jun. 1669 und Hermann Huck 1686.
Das „Gotteshaus“, wo hauptsächlich die Armen untergebracht wurden, war schon am 17. Juni überfüllt. Sie erhielten täglich etwas Fleisch, Brot und Wein. Der Apotheker soll den Patienten die notwendigen Medikamente verabreichen lassen. Auch die in der Stadt und auf dem Schloss befindlichen und erkrankten Soldaten waren von der Stadt zu versorgen. Zu dem kam, dass die Einnahmen der Stadt wegen kaum besuchter Markttage stark zurück gingen. Die Ortsvorstände benachbarter Ortschaften hatten es ihren Bürgern verboten die Stadt Bingen wegen „krassierender Schwachheiten“ zu besuchen. Um trotzdem die Mehlversorgung der Stadt Bingen sicher zu stellen, ließ der Stadtrat vor der Salzpforte eine Mehlhütte errichten. Über die Arbeit der Ärzte in Bingen zu jener Zeit ist wenig bekannt. Doch der Judenarzt soll sich unermüdlich bei der Krankenpflege eingesetzt haben. Die Anzahl der Totengräber wurde erhöht. Sie hatten von Haus zu Haus zu gehen und die Toten zu Grabe zu tragen.
Wer von der Pest befallen war, starb nach wenigen Stunden. Jedes Haus, in dem sich ein Kranker befand, wurde von außen verschlossen und ein rotes Kreuz zur Warnung auf die Tür gemalt. Ein Wächter musste zudem davor Wache halten und die Insassen mit den notwendigen Lebensmitteln versorgen. Die Toten waren so zahlreich, dass es unmöglich war, sie auf dem gewöhnlichen Wege zu begraben. Zweirädrige Karren fuhren nachts durch die Straßen. Ein Mann ging voraus und läutete mit einer Schelle, wobei er rief: "Bringt Eure Toten heraus.!" Dann fuhr das schaurige Gefährt zur Stadt hinaus, wo die Leichname in eine tiefe Grube abgeladen wurden; es war einfach unmöglich für soviele Särge zu beschaffen.
Doch als die Not immer größer wurde und das Sterben nicht nachließ, erinnerten sich die gläubigen Christen der Stadt Bingen, aber insbesondere der Amtmann von Bingen, Johann Ernst Baron Frey von Dehren, Kanonikus des Domstifts von Mainz, an den Schutzpatron der Pestkranken, den hl. Rochus. So ließ der Amtmann im Juli 1666 den Stadtschultheiß Jakob Kray zu sich bestelllen. Er trug ihm auf, diejenigen, welche im Rat seien und in deren Häusern die Pest noch nicht aufgetreten ist, in das Richfeldhäuslein zu bescheiden und dem Rat seine Meinung vorzutragen. Diese seine Meinung ist: Er habe vernommen, dass an unterschiedlichen Orten in Italien und Deutschland, wo man ein Gelöbnis getan habe, dieses auch erhört worden sei. Man solle deshalb eine Kapelle auf den Hesseln bauen zu Ehren des hl. Rochus. Diesen Vorschlag hat Schultheiß Jakob Kray den anwesenden Ratsherren vorgelegt, welche denselben sehr wohl aufnahmen. Und so gelobte der Binger Stadtrat dem Patron der Pestkranken, dem hl. Rochus, eine Kapelle zu erbauen, um durch seine Fürbitte bei dem Herrn des Lebens und des Todes Abwendung der schrecklichen Krankheit zu erwirken. Dazu heißt es im Ratsprotokoll der Stadt Bingen vom 17. Juli 1666, dass
der Amtmann vorschlug und der ehrsame Rat von Bingen für sich und im Namen der gemeinen Bürgerschaft beschlossen hat, zu Ehren des hl. Rochus, eine Kapelle auf dem Hesselberg zur Abwendung der krassierenden Seuche aufzubauen, der Herr Schultheiß und weitere beauftragt werden, die diesbezüglichen Arbeiten zu überwachen und Herr Bürgermeister Hoes und weitere die Einsammlung der Almosen bei den Bürgern durchzuführen und über deren Empfang Buch zu führen ist.
Im Oktober 1666 begann die Seuche in Bingen nachzulassen. Doch im Umland von Bingen hatte sie den Höhepunkt offenbar noch nicht erreicht und so beschloss der Stadtrat am 12. November 1666 keinen aus den Orten des Rheingaus, aus den Orten Ingelheim, Stromberg, Waldalgesheim, Büdesheim, Planich, Bosenem oder dergleichen in die Stadt Bingen einzulassen. Im Januar 1667 hatte die Pest in Bingen vollständig aufgehört. Dagegen soll sie in Trechtingshausen im Jahr 1667 besonders schlimm gewesen sein. Gaulsheim soll von der Pest insgesamt verschont geblieben sein.