Der Name des Kapellchens hängt mit der ursprünglichen Bezeichnung des Rochusberges selber zusammen, der vor dem Bau der Wallfahrtskapelle im Jahre 1666 „Hesselberg“ oder „Hißleberg“ hieß. Dieser Name geht auf die vielen Haselnußsträucher zurück, die in vergangenen Jahrhunderten die Höhe und Teile der Abhänge des heutigen Rochusberges bewuchsen. Nur in jener alten Marienkapelle lebt heute noch der ursprüngliche Name des Rochusberges fort.
An der Stelle, wo gegenwärtig die Hißle-Bild-Kapelle steht, befand sich bis zum Jahr 1868 ein einfacher, schlichter Bildstock mit einer kleinen, spätbarocken Statue der unbefleckten Empfängnis in Stein. Als der Bildstock in dem genannten Jahr verschwand, um der heutigen dort stehenden Kapelle Platz zu machen, wurde das von Bingern viel verehrte und beliebte steinerne Marienbild nach Bingen selbst verbracht.Pfarrer Wagner ließ es über dem großen Portal seines Pfarrhofs aufstellen, Es ist im zweiten Weltkrieg zugrunde gegangen.
Ob schon vorher an dieser Stelle des Marienbildes ein anderes am Abhang des Rochusberges gestanden hat, ist heute nicht mehr festzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass die Entstehung des Betplätzchens mit der Wallfahrt zum heiligen Rochus zusammenhängt. Auf einer Kartenzeichnung vom Rochusberg (dort Rochelsberg genannt) aus dem Jahr 1735 ist diese Stelle mit einem Kreuz gekennzeichnet. Doch könnte auch ein älterer Ursprung möglich sein, da auf dem einstigen Hesselberg schon lange vor der Erbauung der ersten Rochuskapelle im Mittelalter ein Wallfahrtsheiligtum, eine sogenannte „Bethlehemskapelle“, gestanden hat, die im Jahr 1406 zum erstenmal erwähnt wird. Einst führte nur ein einfacher Wingerts- und Waldweg von Bingen zur Höhe empor, an dessen Seiten vierzehn Stationen des Kreuzweges unter Giebeldächern in größeren Abständen aufgestellt waren, von denen eine der Dichter Goethe im Jahr 1814 bei seinem Besuch auf dem Rochusberg mit der Darstellung des leidenden Heilandes noch gesehen hat und den lebhaften Wunsch äußerte, dass noch diese auf dem Rochusberg so überaus passende religiöse Darstellung des Kreuzweges wieder hergestellt werden möchte.
Das Hißle-Bild in seiner heutigen Gestalt als Kapellchen stammt, wie oben schon bemerkt, aus dem Jahre 1868, wo durch die großmütige Stiftung einer frommen Binger Dame, der Frau Katharina Soherr geb. Sahl, von dem Maurermeister Joseph Choquet von hier nach dem Muster der Kapellen auf dem „Roten Hahn“ bei Ehrenbreitstein in Blendziegeln mit mosaikartiger Innenverkleidung durch Quarz und Tufsteine und mit einem schönen Marienbild, der „Mater amabilis“, die Kapelle neu errichtet werden konnte.
Jährlich wurde dort zweimal im Jahr am Hißle-Bild öffentlicher Gottesdienst mit Predigt gehalten mit Prozession zur Rochuskapelle, wo der Segen mit dem Allerheiligsten erteilt wurde, nämlich am fünften Sonntag nach Ostern und am Sonntag nach Mariä-Geburt (8. September), wie es der Gottesdienstordnung in der St. Rochuskapelle des Jahres 1867 zu entnehmen ist.
Es wurde dann ein schöner Brauch der Binger Jugend am Hißle-Bild eine Marienfeier im Mai zu veranstalten. Dazu wurde einmal für Jungmänner und einmal für Mädchen in stiller Abendstunde das Marienbild mit Kerzen geschmückt. Sie versammelten sich dann schweigend und Gebete schallten durch den dämmernden Abend. Ein Priester im Chorrock und Stola sprach dazu und Geigen und Klampfen schlugen weiche Töne an mit dem Gesang:
Meerstern ich dich grüße, o Maria hilf,
Gottesmutter süße, o Maria hilf,
O Maria hilf uns all,
Hier in diesem Tränental.
Doch auch das ist vorbei. Heute muss man sich zum Kapellchen einen Weg durch das Gestrüpp bahnen und findet ab und zu dort noch ein brennendes Lichtlein. Dafür entschädigt das helle Läuten der kleinen Glocke am Hildegardishaus beim Vorbeigehen der Rochusprozession. Damit hat man dann auch den beschwerlichen Weg hinter sich gebracht und wird auf dem Weiterweg von dem 4-stimmigen Geläut der Rochuskapelle empfangen.