Der Binger Rochusweg, heute Rochusstraße-Rochusallee-Rochusberg, ist ein historischer Pilgerweg, der bereits zur Zeit der Kreuzzüge im Mittelalter bestand. Er führte von Bingen auf den Rochusberg zur damaligen – schon 1406 erwähnten - Bethlehemskapelle, dem heutigen Standort der Rochuskapelle. Ursprünglich war er ein einfacher Wingerts- und Waldweg, der später – wohl nach dem Bau der Rochuskapelle im Jahr 1666 - mit Kreuzwegstationen ausgestattet wurde. Erste Hinweise dazu, gibt ein Kupferstich von Georg Josef Cöntgen aus dem Jahr 1784, auf dem einzelne Kreuzwegstationen (an die 8 Stationen bis zur Rochuskapelle) erkennbar sind.
Die erste Station dürfte das große Heiligenhäuschen an der Ecke Rochusstraße-Holzhauserstraße gewesen sein. Die nachfolgenden Stationen befanden sich alle auf der rechten Seite des damaligen Rochuswegs. Station drei war auf der Höhe der damaligen Josephskapelle, die 1922 an den Waldrand (Rochusallee, oberhalb der Einmündung der Straße „Im Rheinblick“) verlegt wurde. Station 7 (noch unterhalb des Waldes) trägt ein Kreuz, was auf ein Kapellchen hindeutet. Die nächste Station befand sich an der Stelle, wo der Hißle-Bildstock stand (das heutige Marienkapellchen). Besonders interessant ist, dass an der Abzweigung Rochusstraße-Mariahilfstraße eine Heiligenfigur als Statue schemenhaft zu erkennen ist (ggf. der hl. Rochus mit Pilgerstab, an der Stelle, wo später der Binger Winzerknabe stand). Weiterhin ist an der Mariahilfstraße, oberhalb der Abzweigung zur Waldstraße (früher Kuhweg genannt) noch ein Heiligenhäuschen eingezeichnet. Zu erwähnen bleibt noch ein größeres Häuschen am alten Mainzerweg, der um 1900 sich aus den drei Teilstraßen Friedhofstraße – Der Mittelpfad – Mainzer Weg zusammensetzte und etwa parallel zur Mainzerstraße verlief; er mündete hinter der Villa Sachsen in die Mainzerstraße ein.
Dr. Keuscher hat in seinem Stadtplan von 1844 die ersten 4 Kreuzwegstationen eingetragen, beginnend mit einem großen Heiligenhäuschen an der Ecke Rochusstraße-Holzhauserstraße. Die weiteren drei Stationen sind bezüglich Lage etwa deckungsgleich mit denen im Plan von 1784.
Während der Französischen Revolution um 1795 wurden viele religiöse Stätten zerstört, so auch die ursprünglichen Kreuzwegstationen am Rochusweg. Als Johann Wolfgang von Goethe 1814 den Rochusberg besuchte, waren nur noch Bruchstücke der Stationen vorhanden. Er äußerte den Wunsch nach einer kunstgerechten Wiederherstellung des Kreuzweges.
Mit dem Bau der neuen Rochuskapelle im Jahr 1895 wurde auf dem Rochusberg ein neuer Kreuzweg angelegt, der östlich der Kapelle verläuft und in einem weiten Bogen zur Rochuskapelle zurückführt.
Zum 100-jährigen Jubiläum der Rochuskapelle im Jahr 1995 wurde parallel zur Rochusallee oberhalb der Pfarrer-Heberer-Straße ein Pfad bis zur Josephskapelle angelegt und längs dieses – jetzt Pilgerpfad genannt - zehn steinerne Bildstöcke aufgestellt, die verschiedenen Heiligen gewidmet sind. Diesen Pilgerpfad nimmt die Prozession bei den heutigen Rochuswallfahrten.
Längs des Rochuswegs gab bzw. gibt es noch weitere Heiligenhäuschen. Sie erzählen uns interessante Geschichten.
Eines davon war ein im Mauwerk eingelassenes Josephkapellchen. Darüber weiß Frau Erika Wawrzyn, Tochter von Hans Hilsdorf (siehe Binger Geschichtsblätter) folgendes zu berichten:
Im Jahr 1850 musste der Schießstand in Bingerbrück verlegt werden, da die Kugeln des öfteren bis zu den Dampfbooten flogen. Ein geeigneter Platz wurde am Rochusweg gefunden.
Sowohl die Grundbücher der Stadt Bingen aus dem neunzehnten Jahrhundert als auch die alten Gemarkungspläne, aufgezeichnet um 1880, zeigen, daß dieses ganze Gebiet ein noch völlig landwirtschaftlich genutzter Raum war. Die älteste erhaltene Urkunde stammt aus dem Jahr 1850. Sie stellt einen Verkaufs- und Kaufvertrag dar. Die wichtigsten Abschnitte dieser zweiteiligen Urkunde lauten:
"Heute, am 22. April 1850 wurde folgender Verkauf und Kauf abgeschlossen:
Es verkaufen die Frau Maria Katharina Heib geborene Scherer, Witwe von Josef Geyer namens ihrer und ihrer zwei minderjährigen Kinder Josef und Katharina Geyer, welche letztere durch genannte Frau Heib und ihren Vormund, Herrn Wilhelm Hamann, vertreten sind, an die Schützengesellschaft von Bingen, für welche handelt und annimmt ihr derzeitiger Vorstand, Anton Joseph Eberhard Soherr, Dr. Friedrich Müller, Anton Joseph Pennrich, Andreas Billhardt und Martin Weinert, sämtlich in Bingen wohnhaft und Herrn Franz Herter auf dem Rupertsberg bei Bingen wohnhaft, unter aller Garantie rechtens die nachbeschriebenen Weinberge nach beiliegendem Grundbuchauszuge, gelegen in der Gemarkung von Bingen, Gewann Oberockenheimer Unterhungerbornweg, Section C 609 alt Flur IV 189 neu, 92 Klafter Klasse 3 und C 608 Flur IV 190 neu 216 Klafter Klasse 3.
So konnte am 25. Mai der gedachte Kauf und Verkauf ratifiziert werden. Von diesem Schießstand aus wurde bis 1865 geschossen. Da die Entfernung von der Schießhalle bis zum Kugelfang 100 m betrug, war der Schießstand von dem Augenblick an unbenutzbar, als es wesentlich verbesserte, weitreichendere Gewehre gab. Dies war ungefähr seit 1870 der Fall. Die Schützengesellschaft gab das Schießhaus deshalb auf und baute eine neue Schützenhalle auf dem Rochusberg auf einem Acker von Herrn Franz Lothar Geromont (Gasthaus Schauermann). Das Anwesen mit Schützenhaus im Rochusweg wurde verkauft. Käufer war der Bilderrahmen-Fabrikant Richard Gesell, der aus Dresden stammte und zu dieser Zeit in London lebte. Er wollte neben dem Schießhaus eine Zweigfabrik für Bilderrahmen und -leisten errichten. Verkauf und Kauf erfolgte am 30. April 1875. Richard Gesell beauftragte seinen Geschäftsfreund Johann Baptist Hilsdorf, die rechts und links vom Schießhaus gelegenen Grundstücke für ihn zu erwerben und das Haus zu einem bewohnbaren Ganzen auszubauen. Der Kaufakt ist am 17. Januar 1876 ausgestellt. Die Grundstücke wurden erworben von Altbürgermeister Lorenz Pennrich, Gerberei- und Gutsbesitzer, zu Bingen wohnhaft, und Frau Anna Gertrude, geborene Kölges, Privatin, zu Bingen wohnhaft, geschiedene Ehefrau des in Kempten wohnhaften Gast- und Landwirtes Sebastian Fetzer. Der Weinberg Pennrich hatte eine Größe von 254 Klafter und der Weinberg von Frau Kölges betrug 259 Klafter.
==================================================================
Interessant ist die Bedingung, die Frau Kölges an den Verkauf knüpfte:
"In der Mauer des verkauften Weinberges am Rochusweg befindet sich ein Heiligenhäuschen, das alljährlich beim Rochusfest der Andacht zur Verfügung überlassen werden soll, unbeschadet des Rechtes des Käufers, dasselbe zu verlegen oder zu verändern und den über dem Heiligenhäuschen liegenden Boden zu bebauen und als Weinberg zu benutzen".
Diese Bedingung wurde allerdings in einem Akt vom 13. Juni 1876 aufgehoben. Inzwischen war nämlich die kreisamtliche Verfügung an den Käufer (Herrn Gesell) ergangen, das baufällige Heiligenhäuschen binnen drei Tagen niederzulegen, was auch geschah.
Doch das wollte man nicht so hinnehmen und so gab es Bestrebungen Ersatz für ein neues Heiligenhäuschen zu schaffen. Am 20. Juni 1877 stellte der Binger Maurermeister Joseph Arnold einen entsprechenden Antrag an den Binger Stadtvorstand:
"Vor etwa zwei Jahren wurde im Weinbergsfeld, der Frau Fetzer gehörend, gelegen oberm Rochusberg unterm Hungerborn, worauf sich ein sog. Heiligenhäuschen befand, an Herrn Richard Gesell von London verkauft. Dieses Heiligenhäuschen wurde jedoch schadhaft und mußte deshalb abgelegt werden. Der Eigenthümer des nunmehrigen Besitzthums, ließ fragliches Häuschen ablegen und nicht wieder aufbauen, ließ die Baustelle zumauern und nahm den Bauplatz in Besitz und Genuß; verpflichtet, dasselbe wieder erbauen zu lassen, soll er nicht gewesen sein. Dieses Heiligenhäuschen war schon von Altersher ein Bedürfniß für die Katholiken Bingens, da in demselben bei der alljährigen Rochusprozession der Hl. Segen gegeben wurde. Der Unterzeichnete hat sich daher vorgenommen, Sorge zu tragen, daß dieses Bedürfniß durch ein neues Heiligenhäuschen wieder ersetzt würde. . . "
Er machte weiter den Vorschlag, ein Grundstück an der "Grünen Bank" von Frau Scholl zu erwerben, um dort ein neues Häuschen zu errichten.
Auf der Stadtratssitzung vom 1.12.1877, (siehe Ratsprotoll) wurde unter dem Tagesordnungspunkt „Erbauung eines s. g. Heiligenhäuschen im Rochusweg“ diese Thematik behandelt und im Protokoll festgehalten: Nach Anhörung des Gesuches erklärt der Gemeinderat, dem Gesuche um Ueberlassung eines Theiles des Grundstücks an der s. g. grünen Bank im Rochusweg zur Errichtung eines Heiligenhäuschens kann aus verschiedenen Gründen nicht zugestimmt werden; der Gemeinderat erklärt sich jedoch bereit, am Hange der Hitzel (Hisseln) auf der Seite nach dem Berg, das nötige Terrain hierzu unentgeltlich herzugeben, vorbehaltlich der Genehmigung der Aufsichtsbehörde.
Die Grüne Bank, die es schon 1877 gab, ist heute eine Bushaltestelle in der Rochusallee oberhalb der Dr. Gebauer-Straße. Sie dürfte damals ein willkommener Ruheplatz gewesen sein, denn der unbefestigte Weg zur Rochuskapelle war mühsam mit Weinbergern zu beiden Seiten des Wegs. Im Plan von 1774 ist etwa an dieser Stelle ein Stationshäuschen mit Kreuz eingezeichnet, was auf ein Kapellchen schließen lässt. Die dortigen vielen Weinbergen wechselten des öfteren ihren Besitzer. So finden wir im Stadtplan von 1909 noch die vielen alten Namen der Weinbergslagen: Unter dem Rochusweg, Ober dem Rochusweg, Obermainzerweg (Kalbskopf), Obermainzerweg (Galgen), Unter dem Mainzerweg-im Ohligsberg, im Kalbskpf, im Hungerborn unter Hesseln, im Unterockenheimerweg, im weißen Schlag, im Oberockenheimer-Unterhungerbornweg (siehe Stadtplan von 1909 mit dem eingezeichneten Schützenhaus)
Offenbar aufgrund des Ratsbeschlusses reichten Regina Hitzel und Witwe Barbara Krauß ein neues Gesuch beim Binger Stadtrat ein, welches auf der Stadtratssitzung vom 5. Juni 1880 (Stadtratsprotokoll) behandelt wurde: Gesuch der Regina Hitzel und Barbara Krauhs, Witwe, beide zu Bingen wohnhaft, um Erlaubniß zur Erbauung eines s. g. Heiligenhäuschen (St. Joseph Capelle) in dem Rochusweg, an der Bergseite.“ Der Gemeinderat erklärte, nachdem er das Großherzogl. Kreisamt Bingen am 12. Mai d. J. in dieser Sache angehört hatte, den Bau dieses unbewohnten Gebäudes im freien Felde zu obigem Zwecke nicht zu beanstanden. Die Witwe Krauß spendete dazu 72 Mark der katholischen Kirche zu Bingen. Doch zum Bau dieses Heiligenhäuschen kam es wohl nicht mehr.
=======================================================
Ggf, wurde dieses Geld dafür verwendet, um unweit der „Grünen Bank“ auf der anderen Seite, wo heute die Dr. Gebauer-Straße in die Rochusallee einmündet einen Bildstock (Marienhäuschen) zu errichten, der später von der Kreuzschwestern des Hildgardishauses gepflegt wurde.
Immerhin erfahren wir aus dem Ratsprotokoll, dass das niedergelegte Heiligenhäuschen dem Hl. Joseph gewidmet war. Der ursprüngliche Plan Gesells, in Bingen eine Zweigfirma zu unterhalten, konnte aus unbekannten Gründen nicht verwirklicht werden. Er bat deshalb Johann Baptist Hilsdorf, das Anwesen zum Preis von 10.000 Gulden (17.000 Mark) zu kaufen, wozu dieser sich - nach einigem Zögern - bereit erklärte, was mit Kaufvertrag vom 2. November 1881 erfolgte. Dieses Anwesen übernahm dann sein Sohn Hans Hilsdorf. Dort hielt sich Stefan George in den Sommermonaten gerne auf. Er war mit seinem Klassenkamerad Hans Hilsdorf eng befreundet.
Der Rochusweg wurde im Jahr 1894 ab der „Grünen Bank“ bis zum Wäldchen, wo heute die Josephskapelle steht, auf 10 m verbreitert. Damit taucht in unserer Erzählung eine weitere Josephskapelle am Rochusweg auf.
Während das oben beschriebene Josephskapellchen am Rochusweg von vergänglicher Natur ist und eine weitgehend unbekannte Episode in der Geschichte des Rochuswegs spielt, gab es ggf. schon deutlich früher am Rochusweg eine merklich größere Josephskapelle. Doch auch diese musste abgerissen werden, konnte aber an anderer Stelle, an dem erwähnten Platz des Wäldchens wieder neu errichtet werden (siehe Josephskapelle).
Ein weiteres Heiligenhäuschen am Rochusweg bedarf ebenfalls der Erwähnung. So heißt es im Binger Anzeiger vom 22.Mai 1889, Kempten b/B., 15. Mai: Durch das eifrige Bemühen unsres Herrn Bürgermeister Schmitt ist von der Familie desselben an jener Stelle am Fuße des Rochuswegs, wo früher ein altehrwürdiges Heiligenhäuschen stand, welches aber den zerstörenden Zeit- und Wittererungsverhältnissen zum Opfer gefallen ist, ein neues recht geschmackvolles Kapellchen erbaut worden. Dasselbe ist bereits fertig gestellt, nur fehlt noch das Bild, welches aber auch demnächst darin seinen Platz finden soll. Auch die Umgebung wurde nicht unberücksichtigt gelassen, indem der kleine dreieckige Platz schön geebnet und mit jungen Zierbäumen bepflanzt ist, so daß dieser Ort mit der Zeit ein recht lauschig frommes Plätzchen zu werden verspricht. Den Stiftern dieses schönen Werkes alle Ehre.