Für die Binger war es klar, die Einweihung der neuen Rochuskapelle musste in einem großen feierlichen Rahmen erfolgen. Die Einweihungsfeier war auf Samstag den 17. August 1895 festgesetzt. Der Tag wurde so gewählt, weil am 16. August das alljährliche kirchliche Gedächtnistag des hl. Rochus ist und am 18. August die große Wallfahrt auf den Rochusberg sein sollte. Außerdem wollte man Rücksicht auf die vielen erwarteten auswärtigen Teilnehmer nehmen. Ein halbes Jahr vorher begann ein eigens gegründetes Komitee mit den Vorbereitungen.
Schon am Donnerstag, dem Tag davor, wurden die Straßen von Bingen in einem noch nie dagewesen Ausmaß geschmückt und auch der Freitag war voller Geschäftigkeit um die Dekorierung ihrer Häuser mit Fahnen und Kränzen zu vollenden. Vor allem die Ehrenpforten am Bahnhof, in der Rochusstraße und auf dem Rochusweg wurden als besonders großartig bewertet, errichtet nach allen Regeln der Kunst und Architektur mit weisen Sprüchen aus dem alten und neuen Testament. Und die stark wehende „Wisper“ am Abend versprach ein gutes Wetter für die Festlichkeiten.
Gegen Abend um 7 Uhr begab sich eine gewaltige Menschenmenge Richtung Ludwigsbahnhof in Bingen, um dort die vier geistlichen Oberhirten von Mainz, Eichstätt, Limburg und Fulda mit wiederholenden Böllerschüssen zu empfangen. Sie wurden in das Fürstenzimmer des Bahnhofs geleitet und vom Herrn Geistlichen Rat Engelhardt aufs Herzlichste begrüßt und Herr Mainzer Bischof Paulus Leopold zur Übernahme als Protektor der Gesamtfeierlichkeiten gebeten. Kurz danach setze sich ein Zug mit 15 Equipagen mit den Geistlichen und Stadtvertretern unter dem Jubel der Bevölkerung in Richtung Basilika in Bewegung, wo sie unter feierlichem Glockengeläut empfangen wurden und eine kurze Andacht dort stattfand. Denn nun hieß es sich in Richtung Bingerbrücker Bahnhof zu begeben, um dort den Weihbischof Dr. Schmitz aus Köln zu empfangen.
Bingen erstrahlte in einer wahrhaft fürstlichen Illumination. Beim Austritt aus dem Pfarrhause konnte man die bengalische Beleuchtung von Bingerbrück und des Herter’schen Hauses, ehemalige Stelle des Hildegardis-Klosters, bewundern, um dann in einem Wagenkonvoi durch die Stadt Bingen, illuminiert mit tausenden von Lämpchen und Fahnen, zu fahren. Auch die Binger waren hingerissen, denn so etwas hatten sie - nach einhelliger Meinung - noch nicht gesehen und nahmen mit großer Befriedung das Urteil der Gäste zur Kenntnis, dass sie damit selbst rheinische Großstädte übertroffen hätten. Selbst kleine Gässchen strahlten in voller Pracht und so gingen zum Schluss noch einige Oberhirten zu Fuß durch die Grube zum Pfarrhaus.
Wie vorgesehen, begann am Samstag gegen 7:30 Uhr die Consekration der Rochuskapelle, an der fünf Bischofe teilnahmen (Mainz, Limburg, Köln, Fulda und Eichstädt), durch den Bischof Paulus Leopold. Von den Oberhirten wurden in abwechselnder Reihenfolge die einzelnen Altäre in der Rochuskapelle geweiht. Besonders feierlich war die Weihe des Außenaltars. Höhepunkt war die Reliquienprozession, bei der die für die einzelnen Altäre bestimmten Reliquien in einer feierlichen Prozession von der Bethlehemkapelle zu den einzelnen Altären gebracht wurden. Die Reliquienschreine wurden von Priestern getragen, von Kindern umgeben, welche die den Heiligen betreffenden Embleme und Kleidung trugen, dem sich die Bischöfe in vollem Ornat anschlossen. Anschließend erfolgten einzelne Messen an den neu konsekrierten Altären. Danach sprach der Bischof Haffner von Mainz die Festrede.
Danach begab man sich zum Fest-Bankett in die festlich geschmückte Glashalle des Hotels Rochusberg mit etlichen Musikkapellen und etwa 300 ausgewählten Teilnehmern, an der auch Baudirektor Meckel teilnahm. Der Clerus saß auf einer erhöhten Tafel unter eineinem violetten Baldachin (Bischof Haffner Mainz, seine Amtsbrüder Schmitz-Köln, Klein-Limburg, Leonrod-Eichstädt und Komp-Fulda). Dieses Fest-Bankett mit vielen Reden zog sich bis zum Abend hin. Und wieder hieß es einen neuen Gast am Binger Bahnhof zu empfangen. Gegen 20.30 Uhr erreichte der Zug aus Köln mit dem Kardinal und Erzbischof von Köln, Herrn Krementz, Bingerbrück, wo etliche Oberhirten und Stadtvertreter hinzustiegen, um am Binger Bahnhof empfangen zu werden. Wieder ging es über Teppiche zum Fürstenzimmer, wo auch Seine Eminenz der Kardinal von Köln seine Freude zur Teilnahme an der morgigen Rochuswallfahrt zum Ausdruck brachte, an einer solchen er vor vielen Jahren als Student schon mal teilgenommen hatte. Danach fuhr man zum herrlich beleuchteten Hotel Viktoria.
Kurz danach schritt man zum Rhein, um mit dem ebenfalls festlich geschmückten und gratis von der Köln-Düsseldorfer-Gesellschaft zur Verfügung gestellten Dampfer „Adolf von Nassau“ eine eindrucksvolle Rheinfahrt nach Geisenheim zu unternehmen. Auch Rüdesheim war festlich illuminiert und begleitete die Rheinfahrt mit einem prächtigen Raketenfeuer. Das Kloster Eibingen erstrahlte in einer bengalischen Beleuchtung; an allen Inseln, an denen das Schiff vorbei fuhr, loderten Freudenfeuer, die den Rhein in ein magisches Lichtermeer widerspiegeln ließ. Nur die Rochuskapelle, die bei der Vorbeifahrt sechsmal aufleuchten sollte, ließ sie durch eine Explosion der Feuerwerkskörper nur einmal imposant in Szene setzen. Doch die gesamte Binger Rheinfront bot einen einmaligen Lichterglanz, über alldem thronte die voll illuminierte Burg Klopp. Mehrmals wurde das The Deum gesungen, an dem die Bevölkerung an den Rheinufern einstimmte. Gegen 22 Uhr erreichte der Dampfer wieder die Anlegestellen von Bingen. Jetzt galt es sich fit für den nächsten besonderen Tag zu machen.
Hotel Rochusberg mit daneben liegenden Tennisplätzen - Anfahrt mit Kutschen und Automobilen
Schon zu früher Morgenstunde am Sonntag wurden die Binger durch Böllerschüsse und Kirchengeläut geweckt. Die Kirchenmusik spielte auf den Zinnen des Pfarrturms Choräle. Es erfolgte ein Festtag, der in den Annalen Bingens seines gleichen sucht. Schon um 5 Uhr morgens waren die Beichtstühle in der Pfarrkirche und der Rochuskapelle besetzt. Um 7:30 Uhr setzte sich dann eine endlos wirkende Prozession an der Pfarrkirche in Bewegung. Der Hochwürdigste Herr Bischof von Mainz selbst trug das Allerheiligste. Man glaubte sich mehr in einem Triumpfzug statt in einer Wallfahrt zu bewegen, als es durch herrlich geschmückte Straßen und etlichen Triumpfbogen zum Rochusberg ging. Am Hotel Rochusberg schlossen sich der Kardinal und die übrigen Oberhirten der Prozession an, die inzwischen eine Pilgerschar von etwa 25000 Personen erreicht hatte. Um 10 Uhr begann das Pontifikalamt, welches der Bischof von Eichstätt am Außenaltar zelebrierte. Die Festpredigt hielt der Bischof Korum von Trier. Den Schluss der Sonntagsfeier auf dem Rochusberg bildete nach dem päpstlichen Segen durch den Kardinal Krementz ein vieltausend stimmiges feierliches The Deum.
Nach der Rückkehr der Prozession fand im Vereinshaus das Festessen statt. Gegen Abend verließen die meisten Oberhirten Bingen. Die Binger gaben sich noch einer Nachfeier hin. An den nachfolgenden Tagen der Rochusoktav fanden sich die einzelnen Pfarreien der Umgebung von Bingen zu Messen in der Rochuskapelle ein.
Ob sich eine so gewaltige Inszenierung zu Ehren des hl. Rochus jemals wiederholen sollte, sei dahin gestellt.
Bis zum Jahr 1822 fand die Rochuswallfahrt immer am 16. August, dem Todestag des hl. Rochus statt, danach per Beschluss der Regierung nur noch am ersten Sonntag nach dem 16. August. Dies war die Geburtsstunde des Rochufestes. Man hatte jetzt Zeit und konnte so den ganzen Tag auf dem Rochusberg bleiben und in Ruhe seinen Wein trinken, während zuvor man schnell ein Gläschen Wein zu sich nahm, um danach wieder abzusteigen. Am darauf folgenden Sonntag feierte man noch ein Nachfest.
Als 1895 die Einweihung der neuerbauten Rochuskapelle mit Feierlichkeiten begangen wurde, füllte man auch die Tage zwischen den beiden Sonntagen mit täglichen Gottediensten und Predigten am neuen Außenaltar. Die Rochuoktav nahm damit seinen Anfang.